Bauwelt

Hamburg sucht das ­urbane Paradies

Wie in Oberbillwerder auf 120 Hektar ein neuer Stadtteil entstehen soll

Text: Schade-Bünsow, Boris, Berlin

  • Bilderliste
    • Social Media Items Social Media Items

    Das Areal für den neuen Stadtteil von Neuallermöhe-West aus gesehen
    Foto: IBA Hamburg/Falcon Crest

    • Social Media Items Social Media Items
    Das Areal für den neuen Stadtteil von Neuallermöhe-West aus gesehen

    Foto: IBA Hamburg/Falcon Crest

Hamburg sucht das ­urbane Paradies

Wie in Oberbillwerder auf 120 Hektar ein neuer Stadtteil entstehen soll

Text: Schade-Bünsow, Boris, Berlin

Der Hamburger Senat nimmt in Oberbillwerder das zweitgrößte Stadtentwicklungsprojekt der jüngeren Geschichte in Hamburg in Angriff, denn die Hamburger rechnen damit, dass ihre Stadt wächst. In den vergangenen 25 Jahren ist die ­Bevölkerung um 120.000 Bürgerinnen und Bürger gewachsen, bis 2030 sollen noch mehr als 100.000 dazu kommen. Mehr als 70.000 Haus­halte werden eine neue Wohnung brauchen, und dafür sollen nun jährlich mindestens 10.0000 Wohnungen genehmigt und gebaut werden.
Nach dem bislang größten Projekt, der HafenCity, wird dazu im Südosten von Hamburg, 15 km vom Hauptbahnhof entfernt, auf 120 ha ein neuer Stadtteil entstehen. Alles, was heute von einem Stadtteil gefordert wird, soll hier Wirklichkeit werden. Gewünscht sind „lebendige Nachbarschaften mit vielseitigen Angeboten für Wohnen, Arbeit, Bildung, Kultur, Freizeit, Sport und Erholung“. Genauso differenziert sollen die zukünftigen Bewohner unterkommen, Wohnungen für Studenten, Familien, barrierefreie Wohnungen, Eigentumswohnungen, Mietwohnungen, Angebote für Baugemeinschaften und vieles mehr sind erwünscht, ebenso kreative, produktive ­Urbanität und Lebensraum für naturverbundene Menschen – kurz: das urbane Paradies.
Wie kann das Gelingen? Oberbillwerder entsteht auf der grünen Wiese doch keinesfalls im „Nirgendwo.“ In unmittelbarer Nachbarschaft schließen sich vier Gemeinden und ein Naturschutzgebiet an. Im Süden unterhalb der Bahntrasse liegen Neuallermöhe-West und -Ost, im Westen liegt Bergedorf. Diese sind in den 70er Jahren entstanden und geprägt von Ein- und Zweifamilienhäusern sowie einigen Großsiedlungen. In den vergangenen 15 Jahren wurden die Kerne der Ortsteile aufgewertet. Die Fußgängerzone in Bergedorf wurde neugestaltet, der S-Bahn-Bahnhof umgebaut und das City-Center erweitert. In weiteren Quartieren am Schleusengraben, am Güterbahnhof und bei den Glasbläserhöfen soll zusätzlicher Wohnraum geschaffen werden. Gleichzeitig ist dort aber auch Hamburgs größtes Quartier für 2500 Geflüchtete entstanden, die 2017 in 780 Wohnungen unterkommen werden. Die Erinnerungen an die Großsiedlungen für Spätaussiedler in den 70er Jahren in Neuallermöhe sorgen zusammen mit dem neuen Quartier für soziale Spannungen, Ängste und Sorgen in der Bevölkerung. Diese findet ein teilweise radikal ablehnendes Sprachrohr im Dorfblatt „Aus Billwärder an der Bille“. Hinzu kommen die Befürchtungen der Landwirte und Naturschützer, dass die Marsch- und Kulturlandschaft durch die neue Bebauung zerstört wird.
Das Straßendorf Billwerder an der Bille war einstmals das längste Dorf Europas, 17 Kilometer lang. Es reichte von Högers Chilehaus in der Innenstadt bis weit vor die Stadtgrenze. Die Pläne von Oberbaudirektor Fritz Schumacher machte dem ein Ende. Er ließ entlang der Bahnstrecke Hamburg–Bergedorf von der Stadt Hamburg die Grundstücke aufkaufen und wandelte diese nach und nach zu Wohngebieten um. Das ist die historischen Grundlage für das neue Stadtentwicklungsgebiet.
Der Schlüssel auf der Suche nach dem heiligen Gral der Stadtplanung für Oberbillwerder liegt in einem offenen Planungsprozess. Parti­zipation, Bürgerveranstaltungen und ein zwei­tägiger Expertenworkshop im März haben die höchst indifferente Interessenslage aufgedeckt. Ängste um den Erhalt der Naturlandschaft, Sorge um die soziale Mischung und Ungewissheit ob der Möglichkeiten, auch Gewerbe anzusiedeln, machen die Ausgangslage komplex.
Deshalb wird zur Erarbeitung des Masterplans ein kooperatives, städtebaulich-freiraumplanerisches Verfahren durchgeführt, das die Mitwirkung von Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen soll. Das Verfahren wird aufgrund seiner Größe nach § 18 VgV als wettbewerblicher Dialog mit vorgeschaltetem Teilnahmewettbewerb EU-weit ausgeschrieben. Das ist ziemlich neu, hierfür gibt es bisher kaum Referenzbeispiele.
Die Auswahl des Teilnehmerfelds erfolgt durch einen Teilnahmewettbewerb. Büros können nicht explizit dazu geladen werden. Für das Verfahren in Oberbillwerder sollen sechs bis acht Teams ausgewählt werden, darunter „junge“ und „arrivierte“. In den ersten zweieinhalb Monaten werden sie Planungsüberlegungen erarbeiten. Innerhalb dieser Phase ist vorgesehen, eine öffentliche Auftaktveranstaltung und eine öffent­liche Werkstatt mit den Teams zu organisieren. In einer ebenfalls öffentlichen Abschlusspräsentation erhalten die Bürgerinnen und Bürger die Gelegenheit, ein Stimmungsbild zu den Arbeiten abzugeben. Dies fließt in die Entscheidung der Jury ein, die anschließend drei Arbeiten für die dreimonatige Vertiefungsphase, die von zwei ­öffentlichen Veranstaltungen flankiert wird, ­auswählen wird.
Soviel Partizipation war nie, allerdings ist die Aufgabe, am Rand von Hamburg unter den gegebenen Bedingungen ein Stadtquartier zu schaffen, so komplex, dass ein anderer, vermeintlich einfacherer Weg, kaum vorstellbar scheint. Auf der anderen Seite droht der kleinste gemeinsame Nenner – und damit ein Scheitern der Vision ohne anschließende Verantwortungsübernahme.

0 Kommentare


loading
x
loading

7.2024

Das aktuelle Heft

Bauwelt Newsletter

Das Wichtigste der Woche. Dazu: aktuelle Jobangebote, Auslobungen und Termine. Immer freitags – kostenlos und jederzeit wieder kündbar.