Diskurs und Interview

Interview

mit Sergei Tchoban und Benedict Tonon

links: Benedict Tonon, rechts: Sergei Tchoban

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Der moderne Ziegel

  • Autor: Boris Schade-Bünsow
  • Fotos: Frank Peterschröder, René Hoch

Was bedeutet Klinker für die Fassade in der modernen Architektur? Wieviel Ornament ist erlaubt und warum bieten Ziegel die meisten Möglichkeiten, Oberflächenqualitäten der Fassade zu erzeugen und gleichzeitig bauphysikalische Anforderungen zu erfüllen?
Benedict Tonon und Sergei Tchoban, zwei Berliner Architekten mit vermeintlich unterschiedlichen Haltungen, erklären ihre Positionen zu gemauerten Fassaden.

Wir erleben seit Jahren eine Renaissance der Ziegelfassade. Auf der einen Seite ist das gut, sie bereichert den Architekturkanon neben den Glas- und Putzfassaden. Sie geht aber auch einher mit der Gefahr einer Verführung zum historisierenden Bauen. Die Architekten Tonon und Tchoban erliegen dieser Gefahr nicht. Ihre Bauwerke sind modern, aber keinesfalls modisch, sie sind Zeitzeugen aktueller Ziegelarchitektur. Sie erfüllen die Sehnsucht nach Beständigem, Fundamentalem und Solidem. Scheinbar ganz nebenbei erfüllen sie energetische Anforderungen von heute und morgen. Mit Ziegelfassaden lassen sich jenseits von einfach nur gedämmten Fassaden U-Werte für die Gebäudehülle erreichen, die mit anderen Konstruktionen nur mit hohem Aufwand erzielbar sind. Diese Ansprüche formulieren Bauherren, oft ohne in der Materialwahl konkret zu werden. Deswegen ist es die Verantwortung des Architekten, mit dem Material Ziegel eine moderne Fassade zu entwerfen und umzusetzen, die architektonisch und technisch mehr ist als nur eine Replik auf den Zeitgeist. Sergei Tchoban und Benedict Tonon erreichen dies mit unterschiedlichen Herangehensweisen. Tchoban betrachtet die Aufgabe aus der architektonischen, Tonon aus der städtebaulichen Perspektive.

Interview mit Sergei Tchoban und Benedict Tonon

  • Autor: Boris Schade-Bünsow
  • Fotos: Frank Peterschröder, René Hoch, Werner Hutmacher, Seyerlein und Seyerlein

Benedict Tonon

Sergei Tchoban

Herr Tonon, warum sind Sie Architekt geworden?

Benedict Tonon: Ich habe Zimmermann gelernt, weil ich die Dressuranstalt Schule nicht vertrug und bin so zur Architektur gekommen. Es gab eine starke Gestaltungsintention in mir, die ich damit verwirklichen konnte.

Gibt es in Ihren Arbeiten eine grundsätzliche Haltung, die sich fortsetzt?

BT: Mein Tun als Architekt ist von der Welt meiner Kindheit mehr geprägt, als mir zunächst bewußt war: von dem Ausdruck der Geborgenheit, aber auch von der Transzendenz der großen Ziegelbauten, denen ich mich gegenüber fand, wenn ich als Kind durch die Hamburger Innenstadt streifte, auch wenn ich noch nicht wusste, dass sie von Schumacher, Höger oder Ölsner waren.

Auch Sie sind Architekt, Herr Tchoban, warum haben Sie diesen Beruf gewählt?

Sergei Tchoban: Ich bin in Russland aufgewachsen, habe dort studiert. Erst war ich an der Kunstschule, am Lyzeum, wo man früh gleichzeitig Kunst- und Malunterricht hatte. Über die Zeichnung und über die Darstellende Kunst kam ich zur Architektur und schließlich auch nach Hamburg.

Was hat Sie geprägt, gibt es auch bei Ihnen ein wiedererkennbares Element in Ihren Arbeiten?

ST: Für mich sind die Plastizität und die Qualität der Oberflächen wichtig. Ich bin der Meinung, dass die zeitgenössische Architektur die Qualität und die haptische Wirkung des Details verloren hat. Beim Zeichnen habe ich gemerkt, dass die Oberfläche, die reliefartige Struktur und die Tiefe der Gebäude mich sehr faszinieren. Das ist in Hamburg natürlich auch die Architektur von Fritz Höger und Fritz Schumacher. Aber auch St. Petersburg hat mich geprägt.

Wie wichtig ist die Struktur der Architektur?

BT: Der Strukturbegriff ist in den letzten Jahrzehnten vielfältig genutzt worden, zunächst sprachtheoretisch, dann mathematisch- wissenschaftlich. Wenn ich ihn auf Städtebau und Architektur beziehe, dann ist Struktur die Ordnung des Stadtplans und das Ordnungsmoment des architektonischen Raums.

Wie weit kann man im Prinzip der Ordnung Experimente zulassen?

BT: Für mich gibt es keine Prinzipien, jedoch Ordnung. Ich will damit sagen, Ordnung darf immer neu überdacht werden. Ich nehme den städtebaulichen Kontext sehr ernst. Aus diesem heraus sollte man arbeiten und gleichzeitig darf man das historische Moment des In-der-Welt-Seins nicht verlieren. Es bedarf einer Deutung und einer Interpretation. Innerhalb dessen gibt es jede Freiheit zum Experiment.

„Ziegel ist tatsächlich das Material, das am meisten die Möglichkeit gibt, um mit verträglichem Aufwand eine haptische Wirkung der Oberfläche und eine fast skulpturale Qualität des Baus zu erreichen.“
Sergei Tchoban

Herr Tchoban, empfinden Sie diese Freiheit auch oder brauchen wir Regeln des zeitgenössischen Kontexts?

ST: Ja, jede städtebauliche Situation braucht eine Gesamtregie wie ein Musikstück oder wie ein Film. Für mich gibt es Städte der Räume und Städte der Objekte. Das ist keine Frage von besser oder schlechter, es sind zwei unterschiedliche Prinzipien. Wenn eine Stadt aus einzelnen Objekten besteht, dürfen diese nicht wahllos nebeneinander gestellt werden. Es bedarf einer Regelung, wie die Materialien miteinander spielen. Und wenn es um eine Stadt geht, die mit klaren Räumen spielt, dann sollten die Regeln hierfür auch entsprechend stringent sein.

BT: Stadtplanung sollte als Städtebau begriffen werden. Das führt dazu, die Stadt in Räumen zu denken, auch zwischen der Stadt der singulären Objekte, als Hochäusern, und der Stadt der historischen Strukturen, als Stadtblöcken. Ein Problem ist hier, Form und Material zusammenzubringen.

Benedict Tonon

Farbige Klinker am Hotel Motel One in Berlin

Wenn wir die Bilder von Hochhäusern in Städten wie Frankfurt, London oder Hong Kong vor Augen haben und mit Ihren Bauten vergleichen, dann ist dort selten Ziegel verbaut. Sie beide verwenden für Fassaden häufig Ziegel. Und Ihre Bauten sind sehr sorgfältig in den städtischen Kontext eingebunden. Wieviel Experiment bleibt dann noch übrig?

ST: Ziegel ist tatsächlich das Material, das am meisten die Möglichkeit gibt, um mit verträglichem Aufwand eine haptische Wirkung der Oberfläche und eine fast skulpturale Qualität des Baus zu erreichen. Deswegen erlebt das Mauerwerk heute eine Renaissance. Ich merke das nicht nur in Deutschland, sondern auch in Russland. Durch den vorgegebenen Maßstab des einzelnen Ziegels, die Möglichkeiten der Reliefführung und durch unterschiedliche Farbzusammensetzungen gibt es viele Variationen. Dies habe ich bei dem nhow-Hotel am Osthafen oder bei dem neu entstandenen Hotel gegenüber dem Hauptbahnhof in Berlin versucht umzusetzen. Zu einer Qualität der Architektur – man will das nicht immer wahrhaben – gehört eine gewisse Schärfe des Kontrasts zwischen sehr zeitgenössisch anmutenden Formen und der Form des historischen Mauerwerks. So habe ich beim Bau des nhow-Hotels eine Basis, die schwer, robust und zurückhaltend ist, mit der Konsole des darüber liegenden, sehr glatten Baus zusammengesetzt. Dieser Kontrast zwischen dem Massiven und Leichten, fast Detaillosen ist eine Qualität, die zeitgenössische Architektur mit sich bringt.

„Das Material des gebrannten Tons erlaubt einen Zugriff im tatsächlichen und einen Ausdruck im symbolischen Sinne.“
Benedict Tonon

Wie sehen Sie das, Herr Tonon? Sie setzen ja auch häufig Ziegel ein.

BT: Ziegel sind eine Möglichkeit, die Architektur aus der Stofflichkeit des Materials herauszuarbeiten. Das ist sicher nicht die einzige Möglichkeit, hat mir aber immer sehr gelegen, weil ein Rückgang von der Form zum Stoff möglich ist und das Material des gebrannten Tons einen Zugriff im tatsächlichen und einen Ausdruck im symbolischen Sinne erlaubt.

In Berlin haben Sie das Hotel Motel One mit einer Ziegelfassade gebaut, die Ornamente in einer Struktur enthält und dazu ungewöhnlich farbig ist. Wie ist es dazu gekommen?

BT: Es handelt sich um eine Großgarage und ein Hotel, im Inneren habe ich wenige Möglichkeiten gehabt, etwas nach meinen Vorstellungen zu gestalten. Jedoch konnte ich dem Ort über die städtebauliche Form und das Material einen Wert geben.

Begrenzen die Möglichkeiten des Ziegels nicht den Entwurf?

BT: Die Begrenzung der Spielregel eines Umgangs mit Ziegeln kommt aus dem Endlichen, jedoch die Spielmöglichkeit weist ins Unendliche. Es gibt alle Freiheit, sowohl was die Farbe als auch die Form betrifft, glatt und rauh, gerade und gekrümmt.

Sergei Tchoban

Hotel nhow in Berlin an der Spree | Foto: René Hoch


Herr Tchoban, Sie haben gesagt, dass es eine Renaissance des Ziegels gibt. Woran liegt das?

ST: Wenn Sie ein ganz normales Haus im historischen Quartier einer Stadt sehen, dann sehen Sie von weitem Erker, Fenster und vielleicht eine horizontale Teilung. Wenn Sie näher kommen, sehen Sie mehr. Mehr Details, die Stofflichkeit, von der Herr Tonon gesprochen hat, und das, was man gerne anfasst mit der Hand, wo sich die Patina abgesetzt hat, alles das, wodurch man Häuser dann als gut alternde Häuser bezeichnen kann. Das hat die zeitgenössische Architektur sehr stark verloren. Wenn wir heute Putzbauten ansehen, dann ist das für mich immer noch nicht haptisch genug – trotz aller Diskussionen, dass man auch mit Vollwärmeschutz noch gewisse Strukturen aufbauen kann. Mit Ziegeln kann man diese haptische Wirkung bis ins Detail sehr gut herstellen.

BT: In einer Welt, die von undurchschaubaren Rationalitätsprozessen gesteuert wird, ist der Ziegelbau so etwas wie eine Kompensation fehlender Anschaulichkeit. Er dient der Wiederherstellung eines Verhältnisses von Denken und Empfinden.

Was bedeutet das Ornament in der Fassade für Sie?

ST: Das Ornament ist für mich ein Teil der Reichhaltigkeit und der Haptik der Oberfläche, das, was die Oberfläche und das Gebäude insgesamt gut altern lässt. Dort setzt sich Patina ab. Wie bei einer alten Fotografie wird das Bild mit der Zeit immer schärfer. Für mich erreicht ein Mauerwerk das Ziel, eine reichhaltige Struktur zu schaffen, tatsächlich am ehesten. Die Ornamentik im Mauerwerk entsteht allein dadurch, dass die Oberfläche das eigentliche Ornament darstellt.

BT: Man kann ja fragen: Wie können wir überhaupt in heutiger Zeit zum Ornament zurückkehren, wenn Adolf Loos vor dem Hintergrund des Historismus gesagt hat: „Ornament ist ein Verbrechen“. Das Ornament hat dann etwas mit Taktilität und Begreifen, mit Visualität und Verstehen zu tun. Ich habe für die Humboldt-Universität das Gefahrstofflager entworfen. Gefahrstoffe kann man nicht riechen oder sehen, sie entziehen sich der Sinnlichkeit. Dem Stoff fehlt die Form, dadurch hat das Thema keinen Ausdruck. Das habe ich damit beantwortet, dass ich die Lüftungsanlagen der Zu- und Abluft, die normalerweise versteckt werden, emporgehoben und zu weit sichtbaren Ausstellungsorten gemacht habe, während ich das Gefährliche des Ortes mit der Ziegelverkleidung symbolisiert habe. Dieses Grundmuster taucht im Hotel-Projekt wieder auf. Es überlagern sich hier drei verschiedene Ornamentstrukturen. Sie haben keinen Rationalitätsbezug zueinander, obwohl die Muster selbst eigentlich eine Ratio haben. In dieser Paradoxie der Überlagerung entsteht dann die Nötigung des Hinsehens. Es zeigen sich sichtbare Werte im doppelten Sinne: Farbwerte und Ausdruckswerte. Teile sind weiß, rot, türkis glasiert, aufleuchtender Vordergrung, andere sind stumpf, nur hellgrauer und mittelgrauer Hintergrund. Darin steckt das Wahrnehmungsereignis, zu dem Architektur werden kann: sie wird zum Schmuck im griechischen Wortsinne des Begriffs „kosmos“ für Ornament: sie schmückt einen heruntergekommenen Ort am Bahnhof Zoo.

Wieviel Ornament lassen wir heute zu?

ST: Adolf Loos hat Ornamente eindeutig verwendet. Es gibt ja ganz natürliche Ornamente und es gibt Ornamente, die der Mensch erfindet. Loos hat phantastisch mit natürlichen Ornamenten gearbeitet. Er hat bewusst Natursteine mit reichhaltiger Textur genommen und diese nebeneinander gesetzt. Ohne einen solchen Umgang mit Material würde es keine Architektur geben.

Lässt sich das mit Ziegeln besonders gut umsetzen?

ST: Bei Ziegeln gibt es mehrere Ebenen. Was Herr Tonon mit seinem Beispiel zeigt, ist bemerkenswert. Er geht über die haptische Qualität des eigentlichen Ziegels hinaus und setzt daraus Ornamente zusammen. Das ist auch ein historisch sehr wertvoller Umgang, wie zum Beispiel im Dogenpalais, dem vielleicht berühmtesten Beispiel für die Gestaltung einer Oberfläche mit einer diagonalen flächigen Ornamentik, die in den Jahren sehr häufig verwendet wurde, selbst im Konstruktivismus, der ja das Ornament komplett abgeschafft hatte. Architektur kann ohne Gestaltung der Oberflächen durch Verfeinerung, Verkomplizierung der Struktur nicht auskommen.

„Architektur kann ohne Gestaltung der Oberflächen durch Verfeinerung, Verkomplizierung der Struktur nicht auskommen.“
Sergei Tchoban

BT: Mit der Suche nach dem Ausdruck eines bürgerlichen Selbstverständnisses wurden Reminiszenzen der Selbstüberhöhung an die Häuser geklebt, das war für Loos das Verbrechen. Er wollte zum Eigentlichen zurückkehren zum Eigensinn der aus dem Stoff herausgearbeiteten Form. In diesem Sinne lässt sich der Werkstoff Ziegel nutzen, um aus der Materie Form und Ausdruck, möglicherweise ein Ornament herauszuholen, das als Wahrnehmungswert einen Wert des Ortes darstellt.

ST: Das ist ganz wichtig, dass die Ornamentik aus den Eigenschaften des Materials herauskommt, sei es Stein, sei es Ziegel.

Studie: Handskizze The Urban Layers 4, 2014, Aquarell, Gouache auf Papier
© Sergei Tchoban

Gefahrstofflager Berlin
Foto: Werner Hutmacher

Architekten

Sergei Tchoban, nps tchoban voss
www.nps-tchoban-voss.de

Sergei Tchoban,Architekt BDA, nps tchoban voss GmbH & Co. KG

Sergei Tchoban, 1962 in Sankt-Petersburg geboren, ist ein international tätiger russisch-deutscher Architekt. Nach dem Studium an der Russischen Akademie der Künste in Sankt Petersburg, arbeitete er als freischaffender Architekt in Russland. Nachdem Tchoban 1992 bei NPS Nietz - Prasch – Sigl in Hamburg einstieg, wurde er 1995 geschäftsführender Partner des Büros, das seit 2003 als nps tchoban voss firmiert. 2006 gründete Sergei Tchoban gemeinsam mit Sergey Kuznetsov das Büro SPEECH in Moskau. 2009 wurde die Tchoban Foundation – das Museum für Architekturzeichnungen in Berlin gegründet. In den Jahren 2009 bis 2011 war Tchoban Mitglied im Gestaltungsbeirat der Stadt Linz, seit 2013 ist er Mitglied des Gestaltungsbeirates beim Komitee für Architektur und Städtebau der Stadt Moskau. 2013 bis 2014 erhielt Tchoban den Lehrauftrag an der Moskauer Architekturhochschule MARCH. 2014 zählte er zur Jury des Architekturpreises “Challenge of the Time” der Iakov Chernikhov International Foundation für junge Architekten. Sergei Tchoban ist Mitglied der American Society of Architectural Illustrators ASAI. In den Jahren 2010 und 2012 kuratierte er den Russischen Pavillon für die Architekturbiennale in Venedig und war 2015 Architekt des russischen Pavillons auf der EXPO in Mailand.

Projekte (Auswahl)

2015 Hotels am Hauptbahnhof, Berlin
2015 Living Levels, Berlin
2013 Museum für Architekturzeichnung, Berlin
2011 Musik- und Lifestylehotel nhow, Berlin
2011 Bürogebäude am Leninskij Prospekt, Moskau

Architekten

Architekt Benedict Tonon www.b-tonon.de

Das Büro Benedict Tonon wurde 1989 gegründet. Es hat sich auf Museen, Geschäftsbauten, Universitätsbauten Wohn- und Siedlungsbau, Brücken, Sanierung und Umbau im denkmalgeschützten Bestand sowie Städtebauliche Planungen spezialisiert.

Projekte (Auswahl)

in Realisierung: Bauhaus Museum, Weimar
2010 Erweiterung Wetzlar Grundschule, Berlin
2009 Waldorfkindergarten, Berlin
2008 Nahversorgungszentrum, Berlin
2007 Hotel Motel One, Berlin

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