Bauwelt

Auf dem Weg zur „Green City“


Planen und Bauen in Helsinki seit der Jahrtausendwende


Text: Stock, Wolfgang Jean, München


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    Die Metropolregion Helsinki umfasst 12 Gemeinden
    Abb.: ©Oy2015, pohja-aineisto: MML

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    Die Metropolregion Helsinki umfasst 12 Gemeinden

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    Den Westteil der Wohnanlage Kaaritalo plante Pentti Kareojas Büro ARK-house
    Foto: Tiia Ettala

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    Den Westteil der Wohnanlage Kaaritalo plante Pentti Kareojas Büro ARK-house

    Foto: Tiia Ettala

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    Mächtige Figuren am Eingang zum Hauptbahn­hof (1914) von Eliel Saarinen
    Fotos: Klaus Kinold

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    Mächtige Figuren am Eingang zum Hauptbahn­hof (1914) von Eliel Saarinen

    Fotos: Klaus Kinold

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    Ziegelfassade des Hauses der Kultur (1956) von Alvar Aalto an der Sturenkatu, das bis 2013 sorgfältig saniert wurde
    Fotos: Klaus Kinold

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    Ziegelfassade des Hauses der Kultur (1956) von Alvar Aalto an der Sturenkatu, das bis 2013 sorgfältig saniert wurde

    Fotos: Klaus Kinold

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    Luftbild des neuen Kulturzentrums von Helsinki: in der Mitte die im Bau befindliche Zentralbibliothek, rechts das Kunstmuseum Kiasma (1998) von Steven Holl, darunter das Haus der Musik (2011) von LPR Ar­chi­tects
    Abb.: ALA Architects

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    Luftbild des neuen Kulturzentrums von Helsinki: in der Mitte die im Bau befindliche Zentralbibliothek, rechts das Kunstmuseum Kiasma (1998) von Steven Holl, darunter das Haus der Musik (2011) von LPR Ar­chi­tects

    Abb.: ALA Architects

Vuosaari, 2. Februar 2016. Nach knapp 20 Minuten sind wir vom Zentrum aus mit der Metro im östlichsten und größten Stadtentwicklungsgebiet von Helsinki angelangt. Über Nacht ist Neuschnee gefallen, der Tag ist kalt, aber sonnig. Über der Endstation der Metro erhebt sich das mächtige Einkaufszentrum Columbus, zugleich Ausgangspunkt der Buslinien in die weitere Pe­ripherie. In den Gängen des Zentrums, das von einer Apotheke bis hin zu Fastfood-Lokalen alle alltäglichen Einrichtungen enthält, brummt es vor Menschen. Draußen jedoch, auf dem Weg zu den neuen Wohnvierteln, sind wir nahezu allein. Rechter Hand steht ein Hochhaus mit gut gegliederten Fassaden, das den Charakter des Subzentrums betonen soll, vor uns erstreckt sich zunächst eine öde Fläche, über die ein harter Wind pfeift. Die ersten Menschen, denen wir später begegnen, sind eine asiatische Frau im Sari mit einem kleinen Kind an der Hand, die zu einem Hauseingang schlurfen – ja, auch in der fin­ni­schen Hauptstadt müssen Immigranten untergebracht werden.
Vuosaari  lässt sich gern als „Tapiola in the East“ bezeichnen, in Anspielung auf Tapiola, jene in den fünfziger Jahren berühmt gewordene „Stadt im Wald“ westlich von Helsinki. Die Unterschiede sind freilich größer als die Ähnlichkeiten. In Vuosaari spielt der Wald nur in den Randbereichen eine Rolle, vor allem dort, wo sich neue Bauten in die hügelige Landschaft schmiegen, darunter die sanft geschwungene Reihenhausanlage in Holzbauweise von Kirsi Korhonen und Mika Penttinen. Große Teile der neuen Wohnviertel liegen im Gegensatz dazu auf ebener Fläche. In der Regel sechs Geschosse hoch, erscheinen die Baukörper durchaus sympathisch. Es sind keine banalen Plattenbauten, wie sie in Finnland seit der in den sechziger Jahren einsetzenden Konjunktur hochgezogen wurden („Bauwirtschaftsfunktiona­lismus“ reinster Form), sondern Häuser, die Qualitäten besitzen: mit guten Proportionen, breiten Balkonen zum Freiraum und einer differenzierten Farbgebung. Und doch fehlt bei unserem Besuch jedes Leben, abgesehen von einem fast leeren Bus, der durch die Straßen schnürt.
Auch hier zeigt sich, was in ganz Europa ein Problem neuer Stadtviertel ist. Die Erdgeschosszonen sind tot, dienen allenfalls als Nebenräume: keine kleinen Läden, keine Poststelle, kein Café. Am Tag darauf wird uns Riitta Nikula, Architek­turhistorikerin an der Universität Helsinki, sagen, weshalb die neuen Quartiere untertags so ausgestorben wirken. Weil inzwischen auch die Finnen ihre Einkäufe per Auto in den großen Zentren mit integrierten Freizeitangeboten tätigen, sind die Nahversorger und örtlichen Dienstleister nahezu verschwunden. Physisch ist der Städtebau in der Peripherie sichtbar, doch atmosphärisch ist er abwesend. Dabei hat man sich in Vuosaari um einige markante urbane Räume bemüht: Ein Beispiel ist die um ein großes Wasserbecken in Hufeisenform liegende Wohnanlage Kaaritalo, zu der Pentti Kareoja den anspruchsvollsten Beitrag geliefert hat, ein anderes der Bereich Aurinkolahti mit noblen Wohnbauten von Timo Vormala, der sich wegen seiner Orientierung nach Süden zum Meer hin „Riviera“ rühmt. Doch unser Rundgang bestätigt, was zuvor Mikko Aho, der Direktor des Stadtplanungsamtes, im Interview ge­äußert hat: „Städtebau im eigentlichen Sinn ist in der Peripherie nicht möglich.“

Nach 1980: Beginn des Stadtumbaus

Mit dem Namen Vuosaari verbindet sich in erster Linie nicht der neue Stadtteil im fernen Osten, sondern der neue Containerhafen von Helsinki, der als wichtigster Umschlagplatz für den Seehandel im baltischen Raum angelegt wurde. Leistungsfähige Häfen sind für die finnische Wirtschaft unverzichtbar, weil rund 85 Prozent des Handels per Schiff abgewickelt werden. Die Verlagerung der Aktivitäten an die Peripherie machte die alten Anlagen von Handel und Industrie zu Hafenbrachen. Dadurch eröffneten sich einzigartige städtebauliche Perspektiven: Rund um die Halbinsel der Innenstadt standen nun riesige Flächen zur Disposition, welche die Stadt bislang vom Meer getrennt hatten. Besonders zen­trumsnah ist das Gelände des früheren West­hafens, das allein 200 Hektar umfasst.
Dieser zwischen der City und einer reizvollen Ostseebucht gelegene Bereich wurde in den achtziger Jahren als erster von der städtischen Planung ausgewählt, um die Kernstadt zu er­weitern. Der Schwerpunkt lag dabei auf dem verdichteten Wohnbau, weil schon damals der Zuzug nach Helsinki außerordentlich stark war. Die Voraussetzungen für einen nachhaltigen und sozial verantwortlichen Stadtumbau sind sehr günstig. Als einzige finnische Stadt betreibt Helsinki traditionell eine intensive Bodenvorratspolitik. Über 70 Prozent des Landes sind in ihrem Eigentum, weshalb die öffentliche Hand bei der Vorbereitung und Steuerung der Bauvorhaben über einen vergleichsweise großen Einfluss verfügt. Hinzu kommen die Tradition des finnischen Wettbewerbswesens sowie eine an Planungsfragen interessierte Öffentlichkeit, die zur demokratischen Kontrolle beiträgt.

Arbeiten und Wohnen am Wasser

Als erster Bauabschnitt auf dem Areal des ehemaligen Westhafens ist das Viertel Ruoholahti inzwischen fertiggestellt. Es gliedert sich in kompakte Baublöcke von maßvoller Höhe, die begrünte Innenhöfe umschließen. Der Reiz der Lage am Meer wird durch die öffentlichen Räume gesteigert. Als Generalplaner hat Juhani Pallasmaa nicht nur Plätze und Grünflächen entworfen, sondern vor allem einen von mehreren Brücken überquerten Kanal, der das neue Viertel durchzieht. Die Qualität der Wohnblöcke aus den neunziger Jahren ist uneinheitlich, die besten Bauten haben Pekka Helin mit Tuomo Siitonen sowie Timo Vormala entworfen. Im Unterschied zu früheren Stadterweiterungen ist Ruoholahti keine Schlafstadt. Mitten im Wohngebiet liegen Helsinkis Internationale Schule und das Gebäude des Konservatoriums, an den Rändern das Forschungszentrum von Nokia sowie die historische Kabelfabrik, die zu einem Kulturzentrum umgewidmet wurde. Wahrzeichen des neuen Viertels, das von Anfang an durch die Metro erschlossen wurde, ist das 2001 bezogene Turmhaus „Baltischer Platz“ von Pekka Helin. In den Außenbezirken lässt die Stadtplanung nämlich höhere Gebäude zu, während das Zentrum vor einer „Frankfurtisierung“ bewahrt wird. Zur Aufenthaltsqualität trägt auch das 2002 am Kanal eröffnete Restaurant Faro von Reijo Lahtinen bei, von dessen Terrasse aus sich der Sonnenuntergang genießen lässt.
Ruoholahti vermittelt übrigens eine Lehre: Das Entstehen neuer Stadtteile sollte man mit Geduld verfolgen. Wirkte vor zwanzig Jahren das erst teilweise fertiggestellte Viertel noch recht öde, so zeigt es nun einen lebendigen Alltag, vor allem um den zentralen Platz. Auch die heutzutage viel gerühmten Reformsiedlungen aus der Zwischenkriegszeit brauchten ja Zeit, um ihren Charakter entfalten zu können.

Europäische Kulturstadt 2000

Ein zweiter Schub zur Erneuerung der Stadt kam von außen, von der EU. Pünktlich zum 450. Jahrestag seiner Gründung wurde Helsinki, zusammen mit acht weiteren Städten, der Titel „Europäische Kulturstadt 2000“ verliehen.1 Dieser Anstoß wirkte wie eine Frischzellenkur. Öffentliche Gebäude waren vernachlässigt worden oder dringend sanierungsbedürftig, der urbane Raum in einem teilweise schäbigen Zustand. So wurden denn über Jahre hinweg Straßen saniert, Plätze neu gestaltet und Fassaden von Graffitis gesäubert. Wie ein Schmuckstück des öffentlichen Raums zeigte sich nun wieder die Esplanade, die als breiter Grünzug zwischen der Mannerheimstraße, der zentralen Verkehrsachse, und dem früheren Südhafen verläuft, dessen Ufer eine neue steinerne Fassung erhielten. Parallel dazu fand im Zentrum eine Verkehrsberuhigung statt, glücklicherweise sensibel: Während die Hauptstraßen in voller Funktion blieben, wurden die kurzen Querstraßen vom Autoverkehr befreit. Dort eröffneten dann neue Cafés und Restaurants mit Freiflächen, weil die Finnen ein fast südländisch wirkendes Leben auf Straßen und Plätzen schätzen gelernt hatten. Dabei spielt auch eine Rolle, dass Helsinki vom Klimawandel profitiert: Bereits im Frühjahr können die Temperaturen recht hoch sein.
Bei den Gebäuden setzte die Welle der Erneuerungen mit dem berühmten, 1914 fertiggestell­-ten Hauptbahnhof von Eliel Saarinen ein. Die teilweise heruntergekommenen Gastbereiche wurden saniert, außerdem erhielt das Gleisfeld der Bahnsteige mit einer Stahl-Glas-Konstruktion erstmals eine Überdachung. Am Verkehrskreuz der Mannerheimstraße wurde der historisch wichtige Lasipalatsi (Glaspalast) sorgfältig renoviert. Von den Architekten Kokko, Revell und Riihimäki entworfen, war er Mitte der dreißiger Jahre als Informationspavillon für die ursprünglich auf 1940 terminierten Olympischen Spiele errichtet worden. Lange Zeit fast vom Abbruch bedroht, glänzte das langgestreckte, auch gastronomisch genutzte Gebäude wieder in authen­tischer Gestalt. Derzeit wird es von JKKM Archi­tects erneut umgebaut, um das private Amos Anderson Museum aufzunehmen.2 Auch Helsinkis altes Herz rund um den mächtigen Dom wurde aufgefrischt. Überfällig war vor allem die Innensanierung von Hauptgebäude und Bibliothek der Universität, beides – wie auch der Dom – klassizistische Meisterwerke des deutschstämmigen Carl Ludvig Engel, der mit Schinkel befreundet war. Sehr behutsam rekonstruierte Ola Laiho, ein Fachmann für Altbauten, den im Zweiten Weltkrieg teilweise beschädigten Bestand und ergänzte ihn durch sachliche Eingriffe.

Die Stadt weiterbauen

Diese Sanierungswelle hält bis heute an. Das betrifft zum einen prominente Bauten wie das Haus der Kultur von Alvar Aalto aus dem Jahr 1956, das von Matti Nurmela und Tom Lindholm bis 2013 sehr sorgfältig renoviert und teilweise für neue Nutzungen umgebaut wurde. Weitere Beispiele sind das Olympiastadion aus dem Jahr 1938, das derzeit grundlegend überholt wird, und das monumentale Parlamentsgebäude von Johan Sigfrid Sirén aus dem Jahr 1931, das bis auf weiteres eingerüstet ist, um von Pekka Helin saniert zu werden, der bereits 2004 eine Erweiterung des Gebäudes fertiggestellt hatte. Sanierungen gelten aber auch städtebaulichen Klärungen. Ersatzbauten sollen Situationen bereinigen, die einen provisorischen Charakter haben. Das bislang her­ausragende Beispiel ist die 2012 eröffnete Universitätsbibliothek von Anttinen Oiva Architects, für die ein Waren- und ein Parkhaus weichen mussten (Bauwelt 28–29.2015).

Aufgrund der historischen Entwicklung gab es am Ende des 20. Jahrhunderts im Zentrum von Helsinki noch immer freie Flächen. Deshalb entschloss sich die Stadt für ein konsequentes Weiterbauen am urbanen Gefüge. Ein früher, noch heute frischer Vorreiter war die Erweiterung des Warenhauses Stockmann durch das Büro Gullichsen, Kairamo und Vormala, die 1989 die letzte Baulücke an der Esplanade schloss: Durch ihre Anklänge an die Formensprache des russischen Konstruktivismus setzte sie für das Bauen im Bestand einen gestalterischen Maßstab. Bis 2005 wurde dann ein ambitioniertes Bauvorhaben im Stadtviertel Kamppi über der gleichnamigen Metrostation verwirklicht. Wo sich zuvor der Busbahnhof ausbreitete, entstand das Einkaufszentrum von Juhani Pallasmaa mit einer unterir­dischen Verkehrsdrehscheibe und angegliederten Büro- und Wohnbauten.
Ein zweiter prominenter Bereich harrt noch der Vollendung. Zwischen Hauptbahnhof und Parlamentsgebäude bildete die Fläche des früheren Güterbahnhofs aus der zaristischen Zeit eine städtebauliche Sperre. Doch erst als die alten Hallen, die zuletzt einen populären Flohmarkt aufgenommen hatten, gegen Widerstände aus der Bevölkerung abgerissen werden konnten, war der Weg für eine neue Überbauung frei.
Auch hier gab es einen Vorreiter: das 1998 eröffnete Kunstmuseum Kiasma von Steven Holl, das am Südrand des Geländes errichtet wurde.3 Inzwischen sind nahe der reizvollen Töölö-Bucht mehrere gewichtige Projekte ausgeführt worden. Am Westrand des Geländes, unterhalb des Parlaments, wurde 2011 das wie ein grüner Glasschrein erscheinende Musikzentrum von LPR Architects aus Turku eröffnet. Auf der Ostseite, parallel zum Gleisfeld des Bahnhofs, entstand bis 2014 eine Kette von Verwaltungszentralen großer Firmen, deren Flügel durch torähnliche Verbindungsdächer über die Straße hinweg miteinander verbunden sind, um für einen städtebaulichen Zusammenhang zu sorgen. Inmitten dieser Neubauten befindet sich bis auf weiteres eine große Baustelle: Dort wird nach Entwürfen von ALA Architects die neue Zentralbibliothek errichtet, deren Fertigstellung zum 100-jährigen Bestehen der Republik Finnland im Dezember 2017 geplant war (Bauwelt 29–30.2013).

Priorität Wohnungsbau

Da die eigentliche Stadtgründung erst 1812 durch ein Dekret des Zaren erfolgte, ist Helsinki erheblich jünger als jede andere europäische Metropole. Außerdem stieg es erst um 1900 zu einer Großstadt auf. An Fläche und Einwohnerzahl nahm Helsinki vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg zu. 1946 wuchs das Stadtgebiet durch Eingemeindungen um mehr als das Dreifache, 1966 kam noch der östliche Bereich um Vuosaari dazu. Im Lauf der Jahrzehnte ist  bis heute eine europäische Metropolregion entstanden, deren Boom anhalten wird. Sie umfasst 12 Gemeinden mit rund 1,3 Millionen Einwohnern, wobei rund die Hälfte von ihnen auf Helsinki entfällt. Weitere Großstädte in der Region sind die Wissenschaftsstadt Espoo mit der Aalto-Universität und die Flughafenstadt Vantaa. Somit ist der Grad der Zentralisierung in Finnland außerordentlich hoch: Auf einem Prozent der Gesamtfläche leben nicht weniger als 25 Prozent der Bevölkerung.
Jorma Mukala, Chefredakteur der Fachzeitschrift ARK, erklärt die Entwicklung. Während es nach dem Weltkrieg eine Abwanderung aus den ländlichen Gebieten in die kleinen Städte gegeben habe, seien nunmehr die Kleinstädte ein Opfer der attraktiven Metropolregion. Allein in der Kernstadt Helsinki nimmt die Bevölkerung jedes Jahr um 1,5 Prozent zu, das sind zusätzliche 10.000 Einwohner, die vor allem nach Wohnraum verlangen. Unter den „strategischen Zielen“ des Stadtplanungsamtes nimmt daher die Wohnungsfrage die erste Stelle ein: Jedes Jahr sollen 5500 neue Wohneinheiten errichtet werden, ein Drittel davon im Zuge der Nachverdichtung.
Angesichts solcher Quantitäten ist es nicht verwunderlich, dass die von manchen Architekten angestrebte Qualität im Wohnungsbau nicht immer erreicht wird. Im Gegenteil: Bei etlichen neuen Quartieren, die seit den neunziger Jahren errichtet wurden, etwa in Herttoniemi, handelt es sich um schlichte Bauträger-Architektur. Das geht nicht nur darauf zurück, dass die Bauindustrie, einschließlich der Hersteller von Bauteilen, in Finnland in relativ wenigen Händen liegt. Ebenso überschaubar sind in Helsinki die wichtigen Investoren, und deshalb ist ihr Einfluss als Oligopol entsprechend groß. Nicht umsonst haben Jorma Mukala und Mikko Aho in einem Themenheft von ARK zum Wohnungsbau die für Finnland typische Zentralisierung beklagt, die auch hohe Preise nach sich ziehe.4 Dies überrascht, weil auch beim Innenausbau der finnische Standard eher dem der Niederlande gleicht und nicht dem von Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Auf der anderen Seite ist anzuerkennen, dass die gewünschte soziale Mischung nicht selten gelingt: Im gleichen Haus oder Block gibt es dann Wohnungen im Eigentum, zur Miete und mit öffentlicher Förderung.

Priorität Verkehrspolitik

Muss Helsinki schon beim Wohnungsbau in den Dimensionen der Region planen, so gilt das erst recht für die Verkehrspolitik. Beraten werden die überörtlichen Verkehrsfragen in der Regionalversammlung der südfinnischen Provinz Uusimaa auf der Grundlage des jeweils aktuellen Regionalplans. Dieser Plan bildet die vierte und höchste Stufe der öffentlichen Planung in Helsinki. Allein auf Seiten der Stadt umfasst sie drei Ebenen: vom zuletzt 2014 entworfenen Stadtentwicklungsplan über Stadtteilpläne (Detailed Plans) bis hin zu den örtlichen B-Plänen (Design Guidelines).
Besonders in der Verkehrspolitik will die Stadt auch die Fehler und Versäumnisse aus der Vergangenheit korrigieren. Dabei geht es ihr vor allem um eine Verlagerung des privaten Individualverkehrs hin zum öffentlichen Nahverkehr. Als seit den sechziger Jahren in den Außenbezirken zahlreiche Siedlungstrabanten entstanden, wurden diese in erster Linie durch neue Autostraßen erschlossen. Verbunden werden diese Radialstraßen durch zwei Ringautobahnen, die sich halbkreisförmig um die Kernstadt legen: stadt­-nah der erste Ring (Kehä I), als äußere Umfahrung der dritte Ring (Kehä III). Dass der zweite Ring nicht mehr vollendet werden wird, bestätigt die radikale Umkehr in der Verkehrsplanung. Abgesehen davon, dass die vielen neuen Straßen einen enormen Landverbrauch verursachten und noch dazu die Zersiedelung förderten, wäre ein weiterer exzessiver Ausbau des Straßennetzes mit dem neuen Leitbild von Helsinki als „Green City“ nicht vereinbar.
Die Ressourcen werden daher konsequent für den Ausbau des öffentlichen Verkehrs verwendet. Dabei handelt es sich vor allem um zwei Vorhaben im regionalen Maßstab. Noch in der Planung ist das ambitionierte Projekt einer tangential von West nach Ost verlaufenden Schnellbahn, die von Espoo aus durch die nördliche Peripherie bis zum Geschäftszentrum Itäkeskus reicht. Diese Linie wird mehrere Unterzentren miteinander verbinden und kann zugleich den ersten Autobahnring entlasten. Bereits in Ausführung ist das zweite Projekt, die Erweiterung der U-Bahn bis nach Espoo: Auf diese Weise wird die bisher zweiarmige Radiallinie der Metro zu einer Durchmesserlinie. Die Erweiterung soll auch zu einer weiteren Reduktion des Autoverkehrs in der Kernstadt führen. Nach den Zahlen von 2014 sind die Anteile am städtischen Verkehr: zu Fuß 34 Prozent, mit dem Auto 33, öffentlicher Nah­verkehr 32, per Fahrrad 11. Durch den Umbau der Ausfallstraßen zu schmaleren „City Boulevards“ will man nicht nur die Aufenthaltsqualität erhöhen, sondern auch den Radverkehr fördern, wie es bereits durch die Umwandlung der früheren Hafenbahnlinie zum Radschnellweg Baana gelungen ist.

Ausblick

Mit ihrer Vision, aus Helsinki eine sowohl urbane und kompakte als auch grüne Metropole zu machen, hat die Stadtregierung die Mehrheit der Bevölkerung auf ihrer Seite. Diese ist, der fin­nischen Tradition folgend, sogar aufgefordert, sich an der Debatte um die Zukunft ihrer Stadt zu beteiligen. Das Stadtplanungsamt veranstaltet nicht nur Ausstellungen zu den wichtigen Projekten und gibt dazu Publikationen heraus, sondern hat auch eine Webseite eingerichtet, auf der die Einwohner Vorschläge und Kritik einbringen können. Die Skepsis gilt vor allem Planungen, bei denen Hochhäuser im Mittelpunkt stehen, etwa beim künftigen Unterzentrum von Pasila oder bei der bereits begonnenen Bebauung von Kalasatama, dem früheren Fischereihafen. Die Öffentlichkeit ist immer dann kritisch, wenn kommerzielle Zwecke zu überwiegen drohen.
In der Tat hat die finnische Architektur einen Ruf zu verteidigen, besonders in der Boomtown Helsinki. Wer die Stadtentwicklung der letzten Jahrzehnte verfolgt hat, dem drängt sich der Eindruck auf, dass an etlichen Stellen zu viel zu schnell gebaut wurde. Juhani Pallasmaa, der bedeutende Architekt und Theoretiker, hat mit Recht schon die Frage gestellt, ob das Bauen in seinem Land die Richtung verliere.5 Pallasmaa gehört auch zu den schärfsten Kritikern des geplanten Guggenheim-Museums. Wie andere Fachleute aus Architektur und Kunst empört ihn vor allem die Forderung, dass der Neubau mit finnischen Steuergeldern finanziert werden soll, noch dazu in einer Wirtschaftskrise (Bauwelt 47.2014). Mikko Aho, der Chef des Stadtplanungsamtes, hat sich uns gegenüber salomonisch geäußert: „Es ist alles willkommen, was die Stadt lebendiger macht.“ Aus informierten Kreisen war hingegen zu hören, dass die Stadtregierung uneins sei – die Konservativen seien für das Museum, die Sozialdemokraten dagegen, die Grünen noch unschlüssig. Eines aber ist klar: Für dieses Projekt fehlt es derzeit schlicht an Geld.

Der Autor dankt Prof. Dr. Riitta Nikula, Chefredakteur der ARK Jorma Mukala und Kurator Mikko Laak in Helsinki sowie Botschaftsrätin Merja Sundström in Berlin für Rat, Unterstützung und praktische Hilfe.



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