Bauwelt

BEL

„Da steht ein Gropius“, sagte der stellvertretende Bürgermeister des Dorfs, in dem ich zufällig arbeite. Die kleine Fabrik in Kirchbrak, 1925/26 entstanden, ist aus den Werkverzeichnissen des Meisters ausgeblendet. Der Besuch im Fabrikationsgebäude erstaunte mich: Die Bandsägen sind in Vorbereitung des Auszugs erst vor kurzem an die Seite geschoben worden. Hier wurden bis Mai noch Holzleisten produziert! Jetzt ist es vorbei. Das Gebäude steht leer, Zukunft ungewiss. Was könnte hier geschehen, im anstehenden Bauhausjahr?

Text: Klauser, Wilhelm, Berlin

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    Fabrik in Kirchbrak
    Foto: Wilhelm Klauser

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    Dank seiner comichaften Grafiken ist „der Neufert“ bis heute visuell unverkennbar. Hier Doppelseiten aus der Ausgabe von 1944.

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    Dank seiner comichaften Grafiken ist „der Neufert“ bis heute visuell unverkennbar. Hier Doppelseiten aus der Ausgabe von 1944.

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    Das Buch „BEL. Zur Systematik des architektonischen Wissens am Beispiel von Ernst Neuferts Bau­entwurfslehre“ von Gernot Weckherlin erschien im Verlag Ernst Wasmuth und kostet 69 Euro.
    Abb.: Verlag Ernst Wasmuth

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    Das Buch „BEL. Zur Systematik des architektonischen Wissens am Beispiel von Ernst Neuferts Bau­entwurfslehre“ von Gernot Weckherlin erschien im Verlag Ernst Wasmuth und kostet 69 Euro.

    Abb.: Verlag Ernst Wasmuth

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„Da steht ein Gropius“, sagte der stellvertretende Bürgermeister des Dorfs, in dem ich zufällig arbeite. Die kleine Fabrik in Kirchbrak, 1925/26 entstanden, ist aus den Werkverzeichnissen des Meisters ausgeblendet. Der Besuch im Fabrikationsgebäude erstaunte mich: Die Bandsägen sind in Vorbereitung des Auszugs erst vor kurzem an die Seite geschoben worden. Hier wurden bis Mai noch Holzleisten produziert! Jetzt ist es vorbei. Das Gebäude steht leer, Zukunft ungewiss. Was könnte hier geschehen, im anstehenden Bauhausjahr?

Text: Klauser, Wilhelm, Berlin

Die Recherche führt weiter. Der nachfolgende Gang ins Bauarchiv zeigt, dass sämtliche Planunterlagen 1925 von Ernst Neufert unterzeichnet sind. Er wird das Bauatelier Gropius in Dessau 1926 verlassen und seine Professur in Weimar antreten, im zarten Alter von 26 Jahren. Er wird sie 1930 als ausgewiesener Funktionalist mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Thüringen wieder verlieren. Er wird sich neu erfinden. Das Ergebnis ist 1936 ein Kassenschlager: Die Bauentwurfslehre – oder „der Neufert“, das meist verkaufte Architekturbuch und für seinen Autor der Schlüssel zum Erfolg. Das Buch vereinfacht Recherche und legt die Replizierbarkeit bestimmter Lösungen für den Entwurf nahe. Versteckt in den klassikerschweren Regalen oder ganz offen auf dem Zeichentisch, wird es Grundausstattung für Architekturaspiranten genauso wie für engagierte Büros, die schnell Flächenbedarf, Wendekreise oder Steigungsverhältnisse überprüfen wollten. Der „Neufert“ ist noch immer ein Handbuch in A4, das sich durch robuste Bindung, Leineneinband und selbsterklärende Zeichnungen auszeichnet, eine „Systematik des architektonischen Wissens“, die normierten Lösungen Vorschub leistet.
Ist eine Auseinandersetzung mit der „Bauentwurfslehre“ relevant in Zeiten der Glasfasernetze, der digitalen Nachschlagewerke und der umfassenden Herstellerinformationen? Gibt es nichts Besseres? Darum geht es nicht. Gernot Weckherlin bezeichnet den „Neufert“ in seiner umfangreichen Arbeit als das erfolgreichste und auch folgenreichste Architekturbuch. Die vielen Übersetzungen sprechen eine klare Sprache, 2016 erschien in Deutschland die 41. Auflage. Das Sammeln, Fügen und Bewerten von Informationen liegt dem Architekten wohl im Blut. Vermutlich ist in der Ausbreitung des Werks und damit in der angestrebten Objektvierung gestalterischen Wissens auch die Industrialisierung und Internationalisierung der Raumproduktion über den Globus nachzuverfolgen. Der Neufert ist eine Referenz „comme il faut“ für den Siegeszug internationaler Architektur, eine verlässliche Quelle für den taylorisierten Entwurfsprozess.
1936 erstmals erschienen, nach „angeblich 10-jähriger Sammeltätigkeit“ und drei Jahren redaktioneller Bearbeitung, basiert die Bauentwurfslehre auf der Lehrtätigkeit Neuferts an der staatlichen Bauhochschule Weimar. Bereits in der ersten Auflage sind Systematik und DNA der Publikation klar: Kurze Texte, beschreibend und neutral gehalten, begleitet von einer comicähnlichen Grafik. Der Neufert ist ein Kochbuch für die Praxis des Entwurfs, in denkbar knappster Form, der Ordnung der optimalen Abläufe und der präzisen Information verpflichtet. Der Neufert synthetisiert und vereinfacht und erklärt. Er steht damit gleichberechtigt neben den politisch gedachten Bildfabriken von Fritz Kahn und Otto Neurath, die in der gleichen Zeit komplexe Zusammenhänge aus Mechanik oder Statistik vi­suell und leicht verständlich aufarbeiten. Er ist aber, anders als diese Werke, ein praxisorientiertes Handbuch, das in seiner weltweiten Verbreitung und in seinem unmittelbaren Anwendungsbezug ungeheuren Einfluss ausübte, mit dem sich Neufert als Fachmann für Systematisierung und Rationalisierung im Bauwesen profilierte.
Sein Werdegang ist konsequent. Eskapaden im „3. Reich“ hat er ohne schwerwiegende Beschädigung überstanden, sein Wissen wurden von allen Systemen gleichermaßen gebraucht. Er war nicht nur Architekt, er war auch ein Sachwalter der Normierung. Weimarer Republik, die Nationalsozialisten und das Nachkriegsdeutschland, alle hatten nach Ordnungen verlangt, um kostengünstig bauen zu können. Das erklärt einen fast bruchlosen Übergang seiner Vita durch die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts. Er wurde zu einem der erfolgreichsten Industriearchitekten der jungen Republik, dessen gebautes Werk von hoher Qualität ist.
Weckherlin beschränkt sich klug und einzig auf eine Analyse der Bauentwurfslehre, auf Entstehungsgeschichte und Wirkung. Er stößt in eine Nische, die von Architekturtheorie und Kunstgeschichte bislang eher zögerlich untersucht wurde. Er spricht über die anonyme Geschichte der Gestaltung – und genau hier liegt die Aktualität dieses lesenswerten Buchs. Verblüffend an der „Bauentwurfslehre“ ist nämlich nicht nur der Sammel- und Ordnungseifer des Autors, sondern auch die Ablehnung, die der scheinbar objektiven Systematik nach den ersten begeisterten Reaktionen mit den Jahren entgegenschlägt. Als tollkühner Versuch einer „enzyklopädisch-systematischen Wissensordnung“ für Gestaltung fasziniert die Bauentwurfslehre noch immer. Die Einordnung dieses Werks in die Geschichte der modernen Architektur und damit auch in einen modernen „Mindset“ war überfällig. Sie ist gelungen und unbedingt lesenswert. Neufert wird zum Bauhausjahr neu interpretiert.

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