Bauwelt

1 Was kann die Architektur und was leistet der Städtebau?

Zu viele Köche, so wird behauptet, verderben die heutige Stadt. Ihre Gestalt gleiche einem Potpourri. Wäre alles besser, wenn der gestaltende Städtebau wieder, als Mutter aller Disziplinen, ins Zentrum rücken würde? Wie sieht es aus mit der Zuständigkeit zwischen den Fachrichtungen Städtebau, Architektur und Stadtentwicklungsplanung? Diese Fragen diskutieren im ersten der vier Panels Vanessa Miriam Carlow, Christoph Mäckler und Matthias Sauerbruch, moderiert von Reiner Nagel

Text: Nagel, Rainer, Berlin

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    Christoph Mäckler
    Foto: Schnepp Renou

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    Aldo Rossis Entwurf für Les Halles in Paris

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    Matthias Sauerbruch
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    Rothmundstraße in München nach der Planung von Theodor Fischer
    Foto: Markus Lanz

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    Rothmundstraße in München nach der Planung von Theodor Fischer

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    Das Europaviertel in Frankfurt/Main im Juni 2013
    Abb.: Epizentrum

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    Das Europaviertel in Frankfurt/Main im Juni 2013

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    Vanessa Miriam Carlow
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    Moderator Reiner Nagel
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    Foto: Thomas Struth

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    Zwischen den Panels wird weiterdiskutiert, während die vier computergesteuerten Griffel der Ausstellung „The Urburb“ in der Ausstellungshalle des DAZ Pläne in den Sand zeichnen
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    Zwischen den Panels wird weiterdiskutiert, während die vier computergesteuerten Griffel der Ausstellung „The Urburb“ in der Ausstellungshalle des DAZ Pläne in den Sand zeichnen

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1 Was kann die Architektur und was leistet der Städtebau?

Zu viele Köche, so wird behauptet, verderben die heutige Stadt. Ihre Gestalt gleiche einem Potpourri. Wäre alles besser, wenn der gestaltende Städtebau wieder, als Mutter aller Disziplinen, ins Zentrum rücken würde? Wie sieht es aus mit der Zuständigkeit zwischen den Fachrichtungen Städtebau, Architektur und Stadtentwicklungsplanung? Diese Fragen diskutieren im ersten der vier Panels Vanessa Miriam Carlow, Christoph Mäckler und Matthias Sauerbruch, moderiert von Reiner Nagel

Text: Nagel, Rainer, Berlin

Reiner Nagel Christoph Mäckler, Sie setzten die Frage der Gestalt an die erste Stelle. Welche Fachrichtungen sind zwingend notwendig für den Gestaltungsprozess im Städtebau?
Christoph Mäckler Sämtliche Fachrichtungen, die irgendetwas mit Stadt zu tun haben: Verkehrsplanung, Sozialpolitik, Wirtschaftspolitik. Alle diese Dinge sind selbstverständlich Grundlage städtischen Bauens. Aber was eben nicht sein darf, dass wir in Deutschland Fakultäten haben, an denen Architektur, sprich Gestaltung, Straßenraumgestaltung, gar nicht stattfindet.
Matthias Sauerbruch Eines der Grundprobleme der Ausbildung ist, dass man junge Leute auf eine Situation vorbereitet, deren Rahmen wir nicht genau kennen. Was in zehn, fünfzehn Jahren sein wird, wenn die Studenten von heute im Beruf stehen, ist nicht genau vorherzusehen. Jetzt kann man natürlich wie Christoph Mäckler argumentieren: Es gibt gewisse eherne Gesetze. Es gibt die europäische Stadt, und die war schon vor 200 Jahren so, wie sie heute ist. Dem widerspreche ich. Wenn ich mir meine eigene Ausbildung vor dreißig Jahren vergegenwärtige, was mir damals beigebracht wurde in der Hochschule und was ich dann anwenden konnte – allein wenn man sich ansieht, was in diesen dreißig Jahren in Berlin passiert ist –, dann sage ich, es war unmöglich, uns mit fertigen Lösungen auf diese Situation vorzubereiten.
Christoph Mäckler Ich kann, was Sie sagen, zu 100 Prozent unterschreiben. Aber bei einer Sache in Ihrem Eingangsstatement werde ich stutzig: Ist Platzraum und Stadtraum Ideologie für Sie?
Matthias Sauerbruch In diesen drei Worten „die Stadt zuerst“, die Ihre „Kölner Erklärung“ prägen, ist ein Zwischenton herauszuhören: Sie gehen davon aus, die Stadttypologie, Aldo Rossis Idee, ließe sich kontinuierlich fortsetzen und – ausgehend von der historischen Typologie – ließen sich künftige Lösungen finden. Ganz allgemein gesprochen ist da nichts einzuwenden. Aber die historische Stadt besteht eben nicht nur aus Plätzen und Straßen! Egal ob man sich nun das 19. Jahrhundert anschaut oder die mittelalterliche oder die antike Stadt: Da gab es ja nicht nur den Markt, die Agora, das Theater, sondern die Fabrik, den Hafen und meinetwegen die Kloake. Die Stadt ist ein lebendiger Organismus, der sich aus vielem zusammensetzt. Daraus entstehen die Konflikte. Wenn es nur darum ginge, einen schönen Wohnort zu bauen, dann hätten wir es leicht. Schwierig wird es erst, wenn man einen schönen Wohnort neben der Stadtautobahn oder vor der Fabrik schaffen will.
Reiner Nagel Wie stehen Sie denn zu dem Leidensdruck, der Christoph Mäckler quält: Es sei noch nie so viel geplant und dabei so schlecht gebaut worden, wie heute? Teilen Sie diese Einschätzung?
Matthias Sauerbruch Überhaupt nicht! Das ist für mich ein Mangel an Offenheit.
Christoph Mäckler Wenn Sie so was wie das Europaviertel in Frankfurt gut finden, dann ...
Matthias Sauerbruch Wir hatten letzte Woche das Vergnügen eines Vortrags des Fotografen Thomas Struth hier an der Uni in Berlin. Struth sprach über „Walking“, ein kleines Buch mit Bildern, die er großenteils in Berlin aufgenommen hat. Lauter hässliche Sachen: vollgesprayte, schrecklich-schlechte Details, furchtbare Materialien. Und doch: Thomas Struth ist mit so einem Auge durch die Stadt gegangen, dass man sich wundert, warum man das selbst so nie gesehen hat. Das sind alles interessante Situationen, die mit dem richtigen Blick Qualitäten entfalten können. Diese zu sehen und weiterzuentwickeln – darin liegt für mich die eigentliche Herausforderung der heutigen Stadt.
Reiner Nagel Matthias Sauerbruch, Sie haben gesagt, der Architekt muss in der Lage sein, den städtebaulichen Kontext zu synthetisieren und ihn in eine neue sinnliche Umwelt umzusetzen. Kann das nur der Architekt? Oder kann das auch ein Landschaftsplaner, ein Verkehrsplaner?
Matthias Sauerbruch Es ist kein Zufall, dass hier beim Thema Stadtgestalt kein Verkehrsplaner am Tisch sitzt. Die Interessenslage ist eine andere. Verkehrsplaner sind so nicht ausgebildet. Architekten werden aber für diesen synthetischen Blick ausgebildet, das ist ihre größte Stärke. Es gibt nur noch sehr wenige Berufsgruppen, die so generalistisch denken können, dass sie sich wirklich in die Lage von anderen versetzen, um zu einer Lösung zu kommen.
Vanessa Miriam Carlow Wir arbeiten in unserem Büro mit all den Disziplinen zusammen, die Sie hier angesprochen haben. Für uns werden Geo-Ökologen immer wichtiger, Wasserbauer, Anthropologen, Künstler, Spezialisten für Genderstudies. Wir müssen auch in der Ausbildung transdisziplinärer sein. Das heißt, gleich zu Anfang schon die Studierenden mit den städtischen Verwaltungen in Kontakt bringen; denn das sind unsere direkten Partner für alles, was wir umsetzen wollen.
Reiner Nagel Sie haben in Ihrem Eingangsstatement (unten) davon gesprochen, dass bei der Debatte um die Stadtgestalt die eigentlichen Ziele des Städtebaus zu kurz kommen. Welches sind Ihre primären Ziele?
Vanessa Miriam Carlow Natürlich geht es darum, gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen. Es geht vor allem um den Erhalt der öffentlichen Räume – also gegen die Kommodifizierung des öffentlichen Raums. Klar, auch die Schönheit unserer Städte ist ein wichtiges Ziel. Aber da werden wir uns so schnell nicht einig, was genau schön ist. Ich jedenfalls sehe den Städtebau als Disziplin, die vor allem ethisch arbeitet.
Reiner Nagel Gleichwertige Lebensverhältnisse, das steht ja im Grundgesetz.
Mathias Sauerbruch Das sind Punkte, denen man nur ungern widersprechen möchte. Nur sollten wir uns auch keine Illusionen machen. Unmittelbare politische Einflussnahme ist bestenfalls aus den Verwaltungen heraus auszuüben – und das setzt bereits wirklich heroisches Handeln voraus. Aber als praktizierender Architekt oder Städtebauer oder wie wir uns auch immer bezeichnen möchten – unseres ist die Materialisierung der Stadt. Es ist unbestritten, dass diese auch politische Dimensionen hat, aber letztlich arbeiten wir an der Ästhetik, also der physische Realität, die sich unserer Wahrnehmung darbietet. Keiner von uns ist in der Lage, irgendwelche ökonomische Mechanismen grundsätzlich auszuhebeln.
Reiner Nagel Matthias Sauerbruch, Sie sprechen von der „Sinnlichkeit“ der gebauten Umwelt als Ziel der Planung, und Vanessa Miriam Carlow, Ihnen geht es eher um einen wissensbezogenen Ansatz?
Vanessa Miriam Carlow Im besten Falle ist es eine Kombination aus beidem. Wenn ich weiß, ich brauche eine Frischluftschneise, damit das Mikroklima funktioniert, dann wäre es natürlich wünschenswert, wenn die stadttechnisch notwendige Frischluftschneise auch noch zu einem wunderbar gestalteten Park werden könnte. Entscheidend aber ist, dass wir im Städtebau gesellschaftliche Fragen verhandeln und nicht nur formal-ästhetische.
Christoph Mäckler Es geht beim Thema Stadtgestalt doch nicht um Formalästhetik! Teile der Pariser Banlieue sind nicht zufällig Orte von politischen Auseinandersetzungen geworden, weil da einfach die Ärmsten der Armen wohnen. Fahren Sie durch diese Gegenden, und sehen sich an, wie grauenhaft hässlich die sind. Aber wo bleibt der städtische Raum? Irgendjemand hat da die Antwort gegeben, wie dort ein Sozialgefüge stattfinden kann. Da wurden Hochhäuser gemacht und dann der soziale Wohnungsbau untergebracht. Aber man hätte den Leuten ja auch eine Chance geben können, einen lebendigen, städtischen Raum mit Gewerbe, mit Kneipen anbieten, in dem sie sich wohlfühlen. Was Sie, Frau Carlow, gesagt haben, das kann doch alles in einer „normalen Stadt“ stattfinden.
Julian Wékel (schaltet sich in die Diskussion ein) Ich halte die Gegenüberstellung, generalistischer Ansatz auf der einen und spezialisiertes Fachwissen auf der anderen Seite, für zu kurz gegriffen. Handelt es sich da nicht um einander ergänzende, ganz unterschiedliche Aufgaben? Ich würde Christoph Mäckler zum Beispiel nicht zumuten, wenn er ein städtebauliches Ensemble entwirft, dass er sich Gedanken über die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen macht. Das ist ihm auf der planerischen Ebene in gewisser Weise vorgegeben. Wenn wir uns über die Zuständigkeiten der verschiedenen Disziplinen unterhalten, dann ist doch der wesentliche Punkt: Wo sind die Überschneidungen, wie sollten wir das differenzieren? Wir sollten uns gegenseitig gelten lassen. Denn unsere Tätigkeitsfelder sind unterschiedlich, je nachdem, ob jemand beim Regierungspräsidenten sitzt und sich dort für eine nachhaltige Regionalentwicklung einsetzt, oder ob er eben städtebauliche Ensembles entwirft und dabei Nachhaltigkeit einzulösen versucht. Bitte nicht alles verrühren!
Harald Bodenschatz Wir sprechen von der Trennung zwischen Architekten und Planern. Meines Erachtens vergessen wir die grundlegende Rolle der Ingenieure. Die ersten fünfzig Jahre unserer neuen Entwicklung wurde der Städtebau nahezu ausschließlich von Ingenieuren gemacht. Dann gab es die großen Debatten darüber, wer den Hut aufhat. Die Ingenieure wurden raus gedrängt. Das mag man gut oder schlecht finden. Für mich ist klar, dass unter den veränderten Bedingungen, Klimawandel, neue Mobilität usw., die Ingenieure eminent wichtig sind. Sie müssen eingebunden werden, auch wenn sie hier nicht am Tisch sitzen.
Christel Drey Ich vermisse auch die Landschaftsplaner! Die klassischen städtebaulicher Leitbilder, über die hier diskutiert wurde und die sich in Anführungsstrichen unter dem Begriff „Europäische Stadt“ subsumieren lassen, sind für mich eigentlich das Einfachste. Unsere Hauptaufgaben liegen doch im suburbanen Raum. Da ist die Landschaftsplanung im Sinne einer Kulturlandschaft Mittel, Zweck und Form zugleich. Das fehlt mir völlig bisher. Gerade wenn wir von der Regionalstadt reden, dann kommen wir mit den Prinzipien der kompakten Kernstädte nicht weiter. Die überwiegenden Aufgaben sind in den regionalen Zusammenhängen zu finden. Und da gehören die Landschaftsplanung und die Landschaftsarchitektur als entscheidende Gestaltungselemente dazu.
Christoph Mäckler Das ist für mich selbstverständlich, dass die Landschaftsplanung dazu gehört. Ich kritisiere die Landschaftsplanung eigentlich nur da, wo sie anfängt, Plätze zu gestalten. Das finde ich absurd. Die Gestaltung der Plätze halte ich für eine eindeutig städtebaulich-architektonische Aufgabe.
Reiner Nagel Ist der Architekt, der Städtebauarchitekt, der geborene Intendant solcher disziplinenübergreifender Prozesse? Oder muss es jemand anderes sein?
Christoph Mäckler Er ist es!
Vanessa Miriam Carlow Das sehe ich auch so.
Matthias Sauerbruch Ich weiß nicht, ob Intendant der richtige Begriff ist. Regisseur, vielleicht, oder Jongleur! (lacht).

Die drei Eröffnungsstatements



1
Das städtebauliche Gestalten braucht klare Handlungsanweisungen

Christoph Mäckler
Wenn wir von städtebaulicher Gestaltung reden – wie sieht die Situation heute und wie sah sie früher aus? Dazu zwei Beispiele (siehe Fotos): Einmal München-Schwabing, eine ganz normale Straße, konzipiert von Theodor Fischer. Dann, neunzig Jahre später, das Europaviertel in Frankfurt am Main. Wenn Sie dieses neue Viertel sehen, das beispielhaft für vieles andere steht, das wir heute bauen, fangen sie an darüber nachzudenken, was wir in unserer Ausbildung falsch machen. Das hat mit der Architekturform erst einmal gar nichts zu tun. Uns wird immer unterstellt, dass wir nur über Gestalt reden. Wenn dem so wäre, hätte es die „Kölner Erklärung“ nie gegeben (www.stadtbaukunst.tu-dortmund.de). Unsere Erklärung ist viel weiter gefasst, sie hat fünf Punkte. Das städtebauliche Gestalten steht am Anfang, zweitens die Architektur, drittens die Stadtbaugeschichte, das, was wir lebendige Stadt nennen, viertens Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Umweltwissenschaften und fünftens die Verkehrsplanung. Das städtebauliche Gestalten aber ist das Einmaleins im Städtebau. Die Gestalt des Raumes muss am Anfang stehen, bevor man von Durchmischung oder von Sozialstrukturen sprechen kann – alles fraglos wichtige Kriterien. Was uns bedrückt ist, dass diese Europaviertel – und die gibt es ja auch in Stuttgart oder in Frankfurt – sich alle ähnlich sehen. Sie sind absolut aseptisch, tot. Es sind Gebäude, die aneinander gewürfelt werden, ohne dass ein Stadtraum entsteht. Theodor Fischer hat seine Konzepte im frühen 20. Jahrhundert umgesetzt und nicht etwa im 19. Jahrhundert! Und wer sich mit Stadtbaugeschichte auseinander setzt und liest, was ein Stübben, ein Gurlitt, ein Unwin oder ein Genzmer geschrieben haben: Das sind keine Theorien, sondern ganz klare Handlungsanweisungen. Wie schaffe ich einen Straßenraum, wie schaffe ich einen Platzraum, wie entsteht ein Hof? Das ist bis heute gültig.
Christoph Mäckler
Architekt und Stadtplaner. Seit 1998 hat er den Lehrstuhl für Städtebau an der Fakultät für Architektur und Bauingenieurwesen an der TU Dortmund inne. Zuvor lehrte er in Neapel, Braunschweig und Hannover. Mäckler war von 1991 bis 1996 Vorstandsvorsitzender des Bundes Deutscher Architekten BDA. Das Büro „Christoph Mäckler Architekten“ gründete er 1981 in Frankfurt/Main.
2
Der Städtebau muss heute in der Lage sein, widersprüchliche Anforderungen zusammenzubringen

Matthias Sauerbruch
Wir müssen die jungen Leute, die zum Studieren an die Universitäten kommen, darauf vorbereiten, ungekannte, bisher nicht dagewesene Situationen zu lösen. Das kann man nur tun, indem man zurückgeht auf das, was in der englischen Diskussion „first principles“ heißt; also zu den Grundlagen. Das sind keine Lösungen im Sinne von Straße, Platz oder Block. Es geht um die Methoden, mit denen man sich den Fragen nähert, die diese Situationen aufwerfen. Natürlich ist dazu ein detaillierter Wissensstand nötig über das, was in der Vergangenheit geschah. Man hat es ja in den wenigsten Fällen mit einer Tabula rasa zu tun, sondern immer mit urbanen Fragmenten, Spuren vergangener Städtebautätigkeit. Die sollte man einordnen und notwendigerweise vervollständigen, sogar rekonstruieren können, wo es sinnvoll erscheint. Aber in vielen Fällen tauchen neue Fragen auf, die bisher nicht gelöst wurden. Dann gehört es zur Kernkompetenz des Architekten, widersprüchliche, konfliktbeladene Ansprüche an eine Sache so zusammenzubringen, dass eine neue Realität synthetisiert wird, die auch sinnliche Qualitäten hat. Diese Fähigkeiten, zu verstehen, zusammenzubringen und zu synthetisieren, das sind die „first principles“, die wir den Studenten mitgeben sollten.
Zum zweiten ist es an uns, bisher ungekannte Lösungen in die Diskussion zu bringen und zu einem kreativen Sprung imstande zu sein. Da ist Gestaltung im Sinne eines künstlerischen Akts gefragt. Auch darauf muss man die Studenten vorbereiten, dass sie bereit sind, mit ihrer Person für ihre Ideen zu stehen. Man erweist ihnen einen Bärendienst, wenn man versucht, sie mit einer „richtigen“ Ideologie zu umgürten, mit der sie dann stolz in die Welt hinaus gehen – und sicherlich Schiffbruch erleiden werden.
Matthias Sauerbruch
Architekt und Stadtplaner. Er gründete 1989 zusammen mit Louisa Hutton das „Büro für Architektur, Städtebau und Gestaltung Sauerbruch Hutton“ mit Sitz in Berlin. Von 1995 bis 2001 lehrte er an der TU Berlin und anschließend, bis 2007, an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart.
3
Vor der Gestaltung über die Ziele reden

Vanessa Miriam Carlow
Städtebau ist nicht nur Spiegel der Städtebaulehre, sondern auch der ökonomischen Prozesse, die sich in den Städten entspinnen. Ich halte sowohl die „Kölner Erklärung“ als auch die Antwort „100 % Stadt“ für viel zu unpolitisch. Wir müssten in der Ausbildung mehr davon sprechen, welche Rolle der Zugriff des Kapitals auf Stadt spielt, was mit den öffentlichen Räumen passiert, welchen Einfluss die Dezentralisierung von Verwaltung hat, der Abbau von Verwaltung. Diese Dinge spiegeln sich direkt in der Gestaltung der Stadt. Wenn wir nur noch von Öffentlichkeit und Privatheit reden und nicht mehr von öffentlichem Raum und privatem Raum, dann liegt darin bereits eine Schwächung des Begriffs Öffentlicher Raum. Worin liegen denn die Ziele von Städtebau und Stadtentwicklung? Geht es darum, gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen? Geht es darum, Zugang zu Ressourcen, zu Bildung usw. herzustellen? Geht es um Gewinnmaximierung? Geht es um demokratische Teilhabe, um die Materialisierung von Kapital, das um die Welt fließt, oder darum, die Pluralität der Gesellschaft abzubilden? Erst wenn wir diese Diskussion geführt haben, können wir überlegen, wie sich diese Ziele in Qualitäten übersetzen und mit Hilfe von Entwurfsmethoden und -werkzeugen in Stadträume umsetzen lassen. Dazu muss dann das Einmaleins von Straße, Platz und Block radikal weiter gedacht werden. Und was das Bild der europäischen Stadt betrifft: Wir müssen uns fragen, ob wir als in Deutschland ausgebildete Städtebauer nur über unsereeigenen Städte sprechen können, als läge ein großes Betätigungsfeld unserer Profession nicht längst im Ausland. Wenn ich nach Brasilien gehe oder nach Westafrika, hilft mir das Bild der europäischen Stadt überhaupt nicht weiter. Das ist dort schlicht nicht anschlussfähig!
Vanessa Miriam Carlow
Architektin und Stadtplanerin. Carlow leitet seit 2012 den Lehrstuhl für Städtebau an der TU Braunschweig. Im gleichen Jahr gründete sie die Berliner Dependance des Büros COBE. An der Gründung des gleichnamigen Büros in Kopenhagen war sie 2005 ebenfalls beteiligt.

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