Form und Findung
Dem von Formgebung dominierten Entwurfsprozess setzte Frei Otto eine Methode des Formfindens entgegen. Seine Arbeit und Forschung sind wegweisend, um die Entstehung von Architektur neu zu denken
Text: Menges, Achim, Frankfurt am Main
Form und Findung
Dem von Formgebung dominierten Entwurfsprozess setzte Frei Otto eine Methode des Formfindens entgegen. Seine Arbeit und Forschung sind wegweisend, um die Entstehung von Architektur neu zu denken
Text: Menges, Achim, Frankfurt am Main
Anlässlich des zwanzigährigen Jubiläums des Instituts für Leichte Flächentragwerke hielt Frei Otto im Jahr 1984 einen Vortrag mit dem Titel Gibt es noch Architektur?. Darin sprach er das Entstehen einer „neuen Künstlichkeit“ in der Architek-tur an, die „Rückkehr der arrivierten Architekten zu einer selbstgeschaffenen, monumentalen Großartigkeit“, und grenzte diese von den Möglichkeiten einer „neuen Natürlichkeit“ ab. Auch, oder möglicherweise gerade in einem sich stark verändernden gesellschaftlichen, kulturellen und technologischen Kontext, erscheint es heute relevant, diesen Diskurs erneut zu reflektieren.
In den letzten fünfzehn Jahren wurde auf unserem Planeten mehr gebaut als jemals zuvor. Gleichzeitig haben sich zu keiner Zeit den Architekten mehr neue technische Möglichkeiten erschlossen, als in diesem kleinen Zeitraum. Digitale Prozesse haben alle Teilbereiche der Architektur durchdrungen, vom Entwurf über die einzelnen Planungsschritte bis hin zum Bauen. Und dennoch hat all dies unter den Architekten geradezu reflexhaft vor allem zu einer „neuen Künstlichkeit“ geführt, um bei den Worten Frei Ottos zu bleiben. Zum einen beobachten wir eine gerade in den Städten rapide um sich greifende, in historisierende Zitate gehüllte, neo-konservative Architektur. Zum anderen kann aber auch die erweiterte Formensprache zeitgenössischer, sogenannter „digitaler“ Architektur nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich in der Art, wie Architektur verstanden, praktiziert und geschaffen wird, zumeist nichts Grundsätzliches geändert hat.
Dem Begriff der „neuen Künstlichkeit“ stellte Frei Otto in seiner Rede damals eine „neue Natürlichkeit“ gegenüber. In vielerlei Hinsicht beschreibt dies auch die Zielsetzungen seiner Arbeit und der Forschungen an seinem Institut. Im Mittelpunkt stand das Feld des Leichtbaus, und Frei Ottos Errungenschaften auf diesem Gebiet sind unumstritten. Aber selbstverständlich – und dies erscheint mir besonders wichtig – hat er nicht nur einen erheblichen Beitrag dazu geleistet, Architektur auf neuartige Weise zu bauen, sondern vor allem hat er auch Wege aufgezeigt, wie wir Architektur neu denken können. Als Ausgangspunkt diente die Infragestellung des Kerns der architektonischen Tätigkeit, des Entwerfens. Diese kritische Auseinandersetzung erfolgte im Sinne des Überdenkens der seit Jahrhunderten fest im architektonischen Entwurf verankerten Formgebung hin zu einem Prozess der Formfindung. Um die Tragweite dieser von Frei Otto erforschten und praktizierten Verschiebung von der Formgebung zur Formfindung oder, präziser, vom Gestalten zum Gestalt-Finden, darzulegen, muss man in der Architekturgeschichte zunächst etwas weiter zurückgreifen.
Seit der italienischen Renaissance vollzog sich, wie von Leon Battista Alberti in seinen Schrif-ten über die Baukunst gefordert, in der Architektur eine immer weiter fortschreitende Trennung zwischen dem intellektuellen Akt des Entwerfens und der realisierenden Phase des Bauens. Durch diese Veränderung, und die sich beinahe zeitgleich entwickelnden Techniken der perspektivischen Darstellung und der Parallelprojek-
tion, gewann die geometrische Abbildung zunehmend eine zentrale Rolle in der Architektur: Die darstellende Zeichnung, beziehungsweise das abbildende Modell, wurde von nun an sowohl die dominierende Notationsform im Entwurf, als auch das zentrale Mittel zur Anleitung für dessen Umsetzung auf der Baustelle. Bedienen wir uns dieser Abbildungs- und Darstellungstechniken, sei es analog oder digital, bedeutet dies automatisch, dass die Form und nicht der Prozess der Formwerdung im Mittelpunkt steht. Entwerfen ist somit ein Akt der Formgebung, und da-ran hat sich bis heute nichts Grundlegendes geändert, auch nicht mit der flächendeckenden Einführung von computer-aided design (CAD). Denn diese CAD-Anwendungen sind immer noch charakterisiert durch die Übertragung analoger Arbeitsweisen in den digitalen Bereich. Zuvor von Hand ausgeführte Zeichen-, Modellier- und Berechnungstechniken werden in der Software nachgeahmt. In den meisten Fällen hat CAD also das bestehende Konzept von Entwerfen und Bauen weder hinterfragt noch verändert, sondern lediglich computerisiert.
tion, gewann die geometrische Abbildung zunehmend eine zentrale Rolle in der Architektur: Die darstellende Zeichnung, beziehungsweise das abbildende Modell, wurde von nun an sowohl die dominierende Notationsform im Entwurf, als auch das zentrale Mittel zur Anleitung für dessen Umsetzung auf der Baustelle. Bedienen wir uns dieser Abbildungs- und Darstellungstechniken, sei es analog oder digital, bedeutet dies automatisch, dass die Form und nicht der Prozess der Formwerdung im Mittelpunkt steht. Entwerfen ist somit ein Akt der Formgebung, und da-ran hat sich bis heute nichts Grundlegendes geändert, auch nicht mit der flächendeckenden Einführung von computer-aided design (CAD). Denn diese CAD-Anwendungen sind immer noch charakterisiert durch die Übertragung analoger Arbeitsweisen in den digitalen Bereich. Zuvor von Hand ausgeführte Zeichen-, Modellier- und Berechnungstechniken werden in der Software nachgeahmt. In den meisten Fällen hat CAD also das bestehende Konzept von Entwerfen und Bauen weder hinterfragt noch verändert, sondern lediglich computerisiert.
Eine fundamentale Eigenheit dieser digitalen Anwendungen, ebenso wie die ihres analogen Gegenübers, der Zeichnung beziehungsweise des abbildenden Modells, ist, dass man mit ihr nur entwerfen kann, was sich auch geometrisch definieren und erfassen lässt. Sie schließen sowohl die physikalischen Randbedingungen, wie zum Beispiel Gravitation und Thermodynamik, als auch die Materialität, also Materialeigenschaften und -verhalten aus und exkludieren somit wesentliche Bestandteile der physischen Realität, in der jedoch jede gebaute Architektur existiert. Und es wäre ein großes Missverständnis zu glauben, dass dies ein rein technisches Problem darstellt. Vielmehr ist es eine signifikante Selbsteinschränkung, die dem Architekten die Möglichkeit nimmt, eben diese Wechselbeziehungen zwischen Form, Raum, Struktur, Material, Kräften und Umwelt als Chance und Triebkraft für den Entwurfsprozess zu begreifen, und nicht als ein ihn in seiner Komplexität übermannendes Problem.
Architektur ist immer auch ein Wechselspiel mit der Physik, oder genauer, mit der physischen Realität der Welt. Einer der für mich wegweisenden Aspekte der Arbeiten von Frei Otto ist, wie er die Regeln dieses Spiels grundsätzlich geändert hat: Er hat es geschafft, die Physik nicht als Gegenspieler zu verstehen, den es zu bändigen und zu kontrollieren gilt, sondern als Partner, der ein unerschöpfliches Reservoir an Entwurfsmöglichkeiten bereit hält. Physikalische Kräfte sind nicht länger zu zähmen, sie bilden nicht länger den Reibepunkt zur a priori definierten Formvorstellung des Architekten, sondern sie werden zu deren Anfangspunkt. Ebenso wird das Material nicht mehr als passiver Empfänger einer vordefinierten Form verstanden, sondern als aktiver Entwurfsbestandteil in deren Findung. Dies ist möglich dank einer weitreichenden Innovation im Denken über das Entstehen von Formen in der Architektur. Im Gegensatz zu der zuvor beschriebenen Formgebung, handelt es sich hierbei um einen Prozess der Formfindung.
Es ist offensichtlich, dass in Ottos Ansatz das Modell nicht in erster Linie der Darstellung einer vordefinierten architektonischen Idee dienen kann. Vielmehr ermöglicht es, die Form einer Konstruktion in einem durch die Naturgesetzte ablaufenden Selbstbildungsprozess zu finden. Man kann also sagen, dass in den meisten Fällen das Material bzw. das Materialsystem selbst als analoger Computer zur „Berechnung“ der Form
eingesetzt wurde. Aufgrund des Forschungsschwerpunkts von Ottos Institut IL, dem Leichtbau, spielten hierbei meist tragwerkstechnische Entwurfskriterien die zentrale Rolle. In seinen Forschungen und Projekten hat das auf diese Weise arbeitende IL aber auch eindrucksvoll demonstriert, wie wir uns eine übergeordnete, entwurfsmethodische Alternative zu der immer noch dominierenden Formgebung vorstellen können. Das Institut war ein Vorreiter in der Entwicklung eines integrativen Entwurfsprozesses, in dem der Architekt durch das Abgleichen von und das Experimentieren mit vielschichtigen und unterschiedlichen Einflussgrößen Lösungen findet und nicht sucht! Und damit war es auch einer der wichtigsten Wegbereiter für das computerbasierte Entwerfen.
eingesetzt wurde. Aufgrund des Forschungsschwerpunkts von Ottos Institut IL, dem Leichtbau, spielten hierbei meist tragwerkstechnische Entwurfskriterien die zentrale Rolle. In seinen Forschungen und Projekten hat das auf diese Weise arbeitende IL aber auch eindrucksvoll demonstriert, wie wir uns eine übergeordnete, entwurfsmethodische Alternative zu der immer noch dominierenden Formgebung vorstellen können. Das Institut war ein Vorreiter in der Entwicklung eines integrativen Entwurfsprozesses, in dem der Architekt durch das Abgleichen von und das Experimentieren mit vielschichtigen und unterschiedlichen Einflussgrößen Lösungen findet und nicht sucht! Und damit war es auch einer der wichtigsten Wegbereiter für das computerbasierte Entwerfen.
Die Herausforderung liegt heute darin, die Entwurfsmethodik der Formfindung hin zu einer computerbasierten Formgenerierung weiterzuentwickeln. An der Schnittstelle mit digitalen Simulations- und Fertigungsverfahren ermöglicht dies, integrative computerbasierte Strukturbildungs- und Herstellungsprozesse zu erforschen, die nicht nur zu leichten Tragwerken, sondern auch zu einer neuartigen Tektonik führen können. Wie im Werk von Frei Otto, entstehen dabei zugleich ressourcenschonende Konstruktionen und ausdrucksstarke Architektur. Der Einsatz des Computers erlaubt es heute aber auch, die Entwurfskriterien für die Formfindung über Tragverhalten und Kräftefluss hinaus erheblich zu erweitern. So können auch raumorganisatorische, fertigungstechnische oder energetische Entwurfskriterien als „Kräfte“ auf die Entwicklung der Form einwirken. Der entscheidende Unterschied zwischen der Formfindung von Otto und der computerbasierten Formgenerierung ist, dass ein solcher integrativer Prozess nicht mehr nur einen, sondern vielfältige „Gleichgewichtszustände“ kennt. Der Entwurfsprozess ist somit grundsätzlich ergebnisoffen, der Architekt als Findender also umso mehr gefordert.
Die Arbeiten und Forschungen von Frei Otto sind wegweisend für die Möglichkeit der nächsten Generation von Architekten, die Entstehung von Bauten neu zu denken. Zu denken als einen Prozess, der den immer komplexer werdenden Anforderungen einen von Beginn an integrativen Entwurfsansatz entgegenstellt, der in der Enge der Entwurfseinschränkungen einen ungeahnten Möglichkeitenraum entfaltet, der virtuelles Konstrukt und materielle Konstruktion zusammenführt und der eine genuin interdisziplinäre Praxis ermöglicht.
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