Bauwelt

Real Surreal

Fotografie zwischen Neuem Sehen und Surrealismus im Kunstmuseum Wolfsburg

Text: Brosowsky. Bettina Maria, Braunschweig

Bild 1 von 14
  • Bilderliste
    • Social Media Items Social Media Items

    Genia Rubin: Lisa Fonssagrives. Robe: Alix (Madame Grès), 1937 (Silbergelatinepapier, 30,3 x 21,5 cm)
    Foto: Christian P. Schmieder / Sammlung Siegert, München; © Sheherazade Ter-Abramoff, Paris

    • Social Media Items Social Media Items
    Genia Rubin: Lisa Fonssagrives. Robe: Alix (Madame Grès), 1937 (Silbergelatinepapier, 30,3 x 21,5 cm)

    Foto: Christian P. Schmieder / Sammlung Siegert, München; © Sheherazade Ter-Abramoff, Paris

Real Surreal

Fotografie zwischen Neuem Sehen und Surrealismus im Kunstmuseum Wolfsburg

Text: Brosowsky. Bettina Maria, Braunschweig

Der 19. August 1839 gilt als Geburtstag der Fotografie. Damals stellte der französische Maler Louis Jaques Mandé Daguerre sein Bildgebungssystem vor, das aus einer Kamera, einer lichtempfindlichen Platte und einem chemischen Verfahren bestand, das die Platte in ein fotografisches Positiv verwandelte. Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt aus Anlass des 175. Jubiläums in einem sorgfältig komponierten Parcours rund 200 fotografische Meisterwerke aus der Sammlung Dietmar Siegert. Sie konzentrieren sich auf den Zeitraum nach dem Ersten Weltkrieg bis 1950. Ihre Autoren fühlten sich alle einer neuartigen, interpretierenden Sichtweise zwischen dem technisch forcierten Bildergebnis und der surrealen Übersteigerung verpflichtet.
Im Prolog erinnert die Ausstellung mit zehn raren Abzügen an die Wurzeln in der frühen Fotografie im 19. Jahrhundert. Dokumentierten David Octavius Hill und Robert Adamson um 1844 die eingerüstete Baustelle des Scott-Monuments in Edinburgh in naturalistischer Neutralität, so hauchte Eugène Atget um 1900 seinen Fotos bereits eine übernatürliche Magie ein: Leere Straßen und Parks im alten Paris wirken im Morgengrauen wie Schauplätze aus Kriminalromanen, einzelne, sich rasch bewegende Personen verschwimmen darin zu geisterhaftem Nebel. Atget wurde so, wohl gegen seine eigene Auffassung, zum Urvater des Surrealismus; er bildet die ästhetische Klammer in der Ausstellung.
Die Schau teilt sich in drei Kapitel. Das erste widmet sich dem „Neuen Sehen“ in Deutschland. Die Milieustudien und Porträts von August Sander (1876–1964) zählen dazu, die gewerbliche Modefotografie von Yva aus Berlin (Else Ernestine Neuländer-Simon, 1900–1942), aber auch die Collagen, wie sie am Bauhaus Lázló Moholy-Nagy (1895–1946) oder Herbert Bayer (1900–1985) pflegten. Alle vertrauten auf den Fotoapparat, der die Wahrnehmung des Auges vervollständigt, der, so Moholy-Nagy, das „rein optische Bild“ liefere – mitsamt seinen Verzerrungen und Verkürzungen. Bemerkenswert ist die Zahl der weiblichen Autoren: Für Aenne Biermann, Lotte Jacobi, Florence Henri oder Germaine Krull war das nicht mit einer langen Bildtradition belastete Medium das zeittypische Betätigungsfeld einer aufstrebenden Künstlerinnengeneration.
Das zweite Kapitel umfasst die surrealistische Fotografie in Paris. Dort suchte man im Abbild das Traumhafte, Mystische, Widersprüchliche unter der Oberfläche der Dinge. Brassaï (Gyula Halász, 1899–1984) erkundete das nächtliche Paris. Sein eingerüsteter Turm von Saint-Jacques ist motivisch dem Scott-Monument von Hill & Adamson verwandt, aber in monumentalisierender Perspektive vor tiefschwarzem Himmel freigestellt. „Nichts ist surrealer als die Realität“, so Brassaï. Die reflektierenden Großstadt-Schaufenster von Atget finden sich in einem Foto von Maya Deren (1917–1961) wieder, nur spiegelt sich nun André Breton, der Chef-Theoretiker der surrealistischen Bewegung, in einer Auslagengestaltung von Marcel Duchamp.
Das dritte Kapitel ist eine echte Entdeckung des Sammlers Siegert: die tschechische Avantgarde. Mit der staatlichen Unabhängigkeit 1918 fiel den Künstlern die nationale Verortung innerhalb der europäischen Kultur zu. Man orientierte sich international, pflegte aber rund um den Theoretiker, Kritiker und Künstler Karel Teige (1900–1951) und die Künstlergruppe Devětsil auch einen spezifisch tschechischen Mystizismus auf psychoanalytischer Basis. Die ars combinatoria des Surrealismus fiel in der Gestaltung von Publikationen und der komplexen Foto-Collage, dem „Bildgedicht“ unbekannter Autoren, auf fruchtbaren Boden. Gleichberechtigt praktizierte Jaromír Funke (1896–1945) die Architekturfotografie in wesentlich radikalerem dynamischem Bildaufbau als zeitgleich das Bauhaus.
Die Ausstellung wird ergänzt durch Filmbeispiele (Jean Cocteau, Moholy-Nagy) sowie aktuelle Fotografie aus der Sammlung des Kunstmuseums. Dem Haus gelingt ein pointiertes Schlaglicht auf das technische Medium und die vergleichsweise junge künstlerische Sparte, die das Bildnis aus dem akademischen Kontext befreite und eine demokratische Kunstform ermöglichte.

Auch das könnte Sie interessieren

Bilder RealSurreal

0 Kommentare


loading
x
loading

9.2025

Das aktuelle Heft

Bauwelt Newsletter

Das Wichtigste der Woche. Dazu: aktuelle Jobangebote, Auslobungen und Termine. Immer freitags – kostenlos und jederzeit wieder kündbar.