Weniger Raum
Neue Anforderungen für neue Wohnformen. Wichtig scheint es heute zu sein, sich zu reduzieren und das Wesentliche mit leichten Möbeln ausstatten zu können
Text: Kasiske, Michael, Berlin
Weniger Raum
Neue Anforderungen für neue Wohnformen. Wichtig scheint es heute zu sein, sich zu reduzieren und das Wesentliche mit leichten Möbeln ausstatten zu können
Text: Kasiske, Michael, Berlin
Die Überlegungen meiner Mutter, ob sie ihr Wohnumfeld in das überschaubare Apartment einer Senioreneinrichtung verlegt, sind regelmäßig Gegenstand unserer Telefonate. Gesellschaft, Barrierefreiheit, Versorgung bei Bedarf werden gegenüber dem Gewohnten abgewogen. Unlängst kam die Frage auf, die mir nachging, als sie längst schon wieder beschlossen hatte, im großen Bungalow wohnen zu bleiben: Was nehme ich mit? Die erschreckende Antwort hieß nämlich: Nichts. Mit der nüchternen Feststellung, dass die vorhandenen Möbel mehr belastend als komfortabel empfunden werden, sind wir im Trend zu mehr Leichtig- und auch Überschaubarkeit, der nicht neu ist. Der gegenwärtige Wunsch nach Entlastung von Schwerem und Unbeweglichem ist dem Ausgangspunkt der Modernen Architektur etwas ähnlich, als man sich vom sinnentleerten, industriell hergestellten Schmuck des 19. Jahrhunderts befreien wollte. Der Einzelne möchte heute die unübersehbare Komplexität virtueller Information und die ebenso ausufernde Gegenstandswelt reduzieren. Eingedenk des stetigen Anstiegs der Pro-Kopf-Wohnfläche in den vergangenen Jahren auf zuletzt 45 Quadratmeter scheint das unnötig. Gleichzeitig ist freilich die gegenläufige Tendenz zu kleineren Wohnungen erkennbar. Der scheinbare Widerspruch erklärt sich aus der unveränderten Zunahme von Ein- bis Zwei-Personen-Haushalten. Die Vereinzelung stellt zum einen soziale Anforderungen an die Gesellschaft, zum anderen wirft sie die über städtebaulichen und wohnungspolitischen Zielsetzungen hinausgehende Frage nach der persönlichen Gestaltung auf. Die Fülle sogenannter Wohnreportagen in den einschlägigen Magazinen lässt darauf schließen, dass das Bestreben der „Stilisierung des als einzigartig empfundenen Lebens“ (Arthur Rüegg) anhält, aber es ist das gemeinsame, generationsübergreifende Phänomen zu beobachten, nämlich der Wunsch nach leichterem Mobiliar: Für die Jungen, die sich in ihrer Freizügigkeit nicht belasten wollen, für die Alten, weil sie Möbel benötigen, die sie auch mit nachlassender Kraft eigenständig bewegen können.
Ob der Vorsitzende der Gewerkschaft IG Bauen-Agrar-Umwelt, Robert Feiger, den Trend spürte, als er Anfang Februar mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit trat, mittels Prämien ältere Menschen zum Umzug aus großen Wohnungen oder Häusern in kleinere Wohnungen zu bewegen, sei dahingestellt. Der Vorschlag berücksichtigt weder die sozialräumliche noch die finanzielle Komponente; schließlich wäre es auch denkbar, große Einheiten zu teilen oder mit mehreren zu bewohnen. Doch der Anstoß ist gesellschaftlich richtig, nicht zuletzt, um den bedarfsorientierten Wandel eigenen Wohnens lebenslang zu denken.
Unter diesen Prämissen lohnt der Rückblick in die fünfziger Jahre, als im Wohnungsbau angesichts des enormen Bedarfs mit sehr kleinen Einheiten geantwortet wurde. Die Ein-Zimmer-Wohnungen umfassten in der Regel lediglich 30 Quadratmeter, Zwei-Zimmer-Wohnungen um die 50. Selbst bei guten Wohnungszuschnitten musste das Mobiliar filigran sein, um die kleinen und bescheiden belichteten Räume nicht durch Fülle zu erschlagen. Dementsprechend dimensioniert waren seinerzeit die Möbel. Cocktailsessel und Nierentisch, darauf lässt sich das Möbelprogramm der damaligen Zeit aber nicht reduzieren. Denn es brachte bis heute geschätzte Objekte hervor wie den Diamond-Chair von Harry Bertoia, die Sitzschalenstühle von Charles und Ray Eames sowie das String-Regalsystem von Nisse und Kajsa Strinning. Diesen Möbeln ist gemein, dass sie Räume trotz ihrer expressiven Form visuell nicht beschweren und auch ein geringes Gewicht aufweisen.
Als ich mit meiner Mutter die für ein Apartment notwendigen Möbel aufzählte, kamen wir auf Bett, Tisch, Stühle, Sessel, Leuchte als Einzelstücke, davon ausgehend, dass Stauraum etwa in Wandschränken zur Wohnungsausstattung gehört. Ein Bett ist ein Bett, doch die übrigen Möbel müssen neben Funktion und Gestalt vor allem auch zum Handhaben für eine 79-Jährige geeignet sein, weshalb kaum etwas aus dem bestehenden Haushalt mitsiedeln kann.
Der Kunsthistoriker Rudolf Schnellbach schrieb bereits 1949 im Katalog der Ausstellung „Wie wohnen“ in zeitgenössisch unangreifbarer Diktion: „Einzelmöbel, die in sich vollkommen sind, ergeben in sinnvoller Zusammenstellung eine geschlossene und vollkommene Einrichtung.“ Auch Schnellbach sah das Objekt damals vor dem Hintergrund von Einbaumöbeln, die gleichsam als Wand verschwinden.
Mit der Renaissance des Leichten verlagert sich aber zugleich der Fokus vom durchgestalteten Ganzen einer Einrichtung auf Einzelstücke. Das Fragmentarische bringt die Komplexität der Lebenswelt zum Ausdruck und kommt gleichzeitig dem Bedürfnis entgegen, die Gegenstände des täglichen Umgangs als authentisch zu empfinden. Wenn die nächste familiäre Umzugsdebatte kommt, werde ich ganz aufgeräumt reagieren können. Ich habe vier Beispiele gefunden, in und an denen ich auch meine Mutter gut aufgehoben sehe.
Snak
Auch in der „kleinsten Hütte“ möchte man ein paar Gäste bewirten können, ohne dass diese sich sitzend auf Bett, Unterschränken oder Fensterbank verteilen müssen. Dafür ist der „Snak“, den der 1987 geborene Gunnar Søren Petersen als Diplomarbeit entworfen hat, bestens geeignet. Er hat die Losung seines Professors Axel Kufus beherzigt, stets zu prüfen, „ob etwas einfach zu halten ist in Zeiten tendenziell steigender Komplexität“. Der Snak besteht aus einer 1,75 x 0,75 Meter großen, geteilten Kunststoffplatte, an die zwei aus drei Beinen bestehende Bündel befestigt sind. Durch sogenannte „Filmscharniere“ – das sind in den Spritzvorgang integrierte Bandscharniere innerhalb der Platte, die sich als Rille abbilden – kann der Tisch zu einem 10 Zentimeter dicken Paket der Dimension von 1 x 0,5 Meter zusammengefaltet werden, in das auch die runden Holzbeine verschwinden. Auf diese geringen Ausmaße gebracht, kann der „Snak“ platzsparend deponiert oder mittels Tragegurt über kleinere Strecken von einer Person transportiert werden. Der leicht aufzubauende Tisch, der durch seitlich eingeklappte Teile vor Durchbiegung geschützt wird, kann bis zu acht Personen Platz bieten. Petersen ist für dieses elegante und leichte Objekt ein Hersteller zu wünschen.
Telebeute
Die schwenkbare Wandleuchte namens „Telebeute“ ist das prägendste Objekt in der Lampenserie „Beute“ von Michael Konstantin Wolke. Den Titel gab ihr der 1982 geborene Designer wegen der Schirme aus „erbeutetem“ gebrauchtem Wellkarton. Wie üblich wird ein warmes Licht erzeugt. Anders als die monochromen neuen Pappen tragen die Reflektoren aus Recyclingmaterial Spuren des Gebrauchs, wie etwa farbige Aufdrucke oder kleine Beschädigungen. Den fast einen halben Meter langen, wie ein Konus geformten Schirm hat Wolke an einen Kragarm aus zwei schwarz lackierten Flachstählen befestigt, wobei das obere Profil die Leuchtfassung mit dem Schirm hält, das untere zur Führung der Lampe dient. Denn der 1,20 Meter lange Bügel wird gelenkig an der Wand befestigt, sodass die Lampe um fast 180 Grad im Raum geschwenkt werden kann. Der aus übereinandergelegten Streifen gefertigte Schirm, der auf den ersten Blick wie eine zu groß geratene Tütenlampe wirkt, hebt sich schon aufgrund seiner Größe von den formal ähnlichen, freilich meist spirrelig wirkenden Objekten der fünfziger Jahre ab. Den entscheidenden Unterschied erreicht „Herr Wolke“ jedoch durch den eindeutig ausgerichteten Lichtstrahl, den man auf einen Tisch, zum Sessel, aber auch übers Bett ziehen mag.
Zeros
In Deutschland erinnern Stühle aus dünnem Stahlrohr mit geflochtenen Sitzschalen aus an die feingliedrigen Sitzmöbel des Bauhausschülers Herbert Hirche in den fünfziger Jahren, von denen heute nur der für die gleichnamige Stuttgarter Pizzeria entwickelte „Santa Lucia“ hergestellt wird. Der über fünfzig Jahre später von Ximo Roca entworfene „Zeros“ kommt wie ein Enkel daher, dem freilich die Dynamik spanischen Temperaments anzusehen ist. Die geschwungenen Rohre von Traggestell und Sitzschale, die zum handhabbaren Flechten konstruktiv voneinander getrennt sind, lassen den Eindruck entstehen, als solle der Raum so leicht wie möglich umschlossen werden. Der Grund, warum die dank des elastischen, durchlässigen und nicht mehr natürlichen Geflechts schmiegsame und belüftete Sitzschale so einladend wirkt, ist die niedrige Lehne bei gleichzeitig tiefer Sitzfläche, wodurch der Stuhl komfortabel, aber ohne visuelle Dominanz daherkommt.
Der 56-jährige Designer Roca hat vor einem Vierteljahrhundert in seiner Heimatstadt Valencia ein Büro gegründet, mit dem er Produktdesign, im Schwerpunkt Möbel und Geschirr, sowie Innenarchitektur und auch Grafikdesign betreibt. Der zeichenhafte Schwung beseelt den Zeros, wie auch Rocas übrige Sitzmöbel in anderen Materialien wie Kunststoff oder Holz.
808
Die Linienführung des Sessels 808 sieht so aus, als hätten die Entwerfer einen störrischen Geist bändigen müssen. Oder das verantwortliche Büro Formstelle, bestehend aus den Innenarchitekten Claudia Kleine und Jörg Kürschner, wollte der Eigenschaft eines Ohrensessels, nämlich einen einladenden Rückzugsort zu bieten, eine expressive Form verleihen. Was ihnen mit den herausstechenden Zacken gelungen ist. Zunächst einmal ist der 808 ein Sessel auf der Höhe gegenwärtiger Technik. Sitz- und Rückenschale bestehen aus einem Hohlkörper aus thermoplastischem und damit leicht recycelbarem Kunststoff. Darauf bildet eine Schaumschicht die Grundlage für die Polsterung, die in ihrer Erscheinung dünn wirkt, jedoch sehr bequem ist. Dank einer Federung, die mit einem kleinen Band an der Seite der Sitzfläche reguliert wird, kann die Rückenlehne in verschiedene Positionen gekippt werden. Für den Standfuß stehen Holz, Flachstahl oder Stahlrohr in verschiedenen Farben zur Auswahl. Vorgabe war, dass der Sessel außerordentlich leicht sein sollte.
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