Von der Welt in die Küche. Von der Küche in die Welt
In der Küche setzen wir uns unmittelbar körperlich mit dem globalen Stoffkreislauf in Beziehung: Wir verleiben uns seine Produkte ein. Der Stoffkreislauf hat sich in den letzten 300 Jahren enorm verändert – und mit ihm die Bedeutung des Ortes, den wir immer noch Küche nennen
Text: Barthel, Stephan, Berlin; von Mende, Julia, Berlin; Oswalt, Philipp, Berlin; Schmidt, Anne, Berlin
Von der Welt in die Küche. Von der Küche in die Welt
In der Küche setzen wir uns unmittelbar körperlich mit dem globalen Stoffkreislauf in Beziehung: Wir verleiben uns seine Produkte ein. Der Stoffkreislauf hat sich in den letzten 300 Jahren enorm verändert – und mit ihm die Bedeutung des Ortes, den wir immer noch Küche nennen
Text: Barthel, Stephan, Berlin; von Mende, Julia, Berlin; Oswalt, Philipp, Berlin; Schmidt, Anne, Berlin
Vor der Industrialisierung beruhte die Zivilisation auf der Nutzung von Sonnenenergie und kinetischer Energie. Land- und Forstwirtschaft gewannen durch Photosynthese lebenswichtige Energie für Ernährung und Brennstoffe, Wind- und Wasserkraft erschlossen mechanische Energie für Transport und Verarbeitung. Die Nutzung fossiler Brennstoffe seit Beginn der Industrialisierung hat zur grundlegenden Reorganisation der menschlichen Versorgung geführt – und damit zur Reorganisation der Ernährung, des Siedelns und des Wohnens.
Im 19. Jahrhundert wurde ein Großteil der stofflichen Prozesse, die zuvor im Haushalt oder rund um das Haus angesiedelt waren – von der Lebensmittelproduktion über die Vorratshaltung und Speisenzubereitung bis hin zur Entsorgung der Abfälle – in die neu entstandenen städtischen Infrastrukturen ausgelagert. Während der individuelle Haushalt einst Produktion und Konsum verband und dabei interne Stoff- und Energiekreisläufe ausbildete, reduzierte er sich im Lauf der Industrialisierung zunehmend auf einen Ort des Verbrauchs. Der moderne Haushalt ist zu einem „Outlet“ zentralisierter Versorgungsstrukturen geworden. Damit wurden die systemischen Voraussetzungen für die ab 1950 einsetzende nächste Phase der Globalisierung geschaffen, auch „große Beschleunigung“ genannt, bei der sich die noch vorwiegend regional organisierten Energie- und Stoffströme global ausweiteten. Dies beeinflusst den Einzelhaushalt kaum, jedoch die Stadtstruktur und das Stadtbild erheblich. Mit Gasometern, Kraftwerken, Wasserspeichern, Schlachthöfen, Brauereien, Großmärkten und Bahnhöfen waren metabolische Prozesse im Stadtbild des 19. Jahrhunderts präsent – jeder konnte sie sehen und riechen. Die Auslagerung der städtischen Versorgungsstrukturen, zunächst regional und schließlich global, entrückte diese Prozesse zunehmend der Alltagserfahrung der Stadtbewohner.
Hat sich die Wohnung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Outlet städtischer Systeme entwickelt, so ist die Stadt heute ein Outlet globaler Systeme. Während sich die vormoderne Stadt überwiegend aus einem Umkreis von 30 Kilometern just-in-time versorgte, sind heute Ressourcen weltweit verfügbar. Mit dem räumlichen hat sich auch der zeitliche Horizont verschoben: Indem wir fossile und nukleare Energie nutzen, beuten wir in wenigen Jahrhunderten Speicher aus, die sich über Jahrmillionen gebildet haben.
Mit den Emissionen, die dabei entstehen, schaffen wir nicht nur Altlasten, die Hypotheken von Zehntausenden von Jahren gleichkommen, sondern wir verändern – oft erst mit großer Verzögerung – auch dauerhaft und irreversibel die Erde. Die Sicherstellung der menschlichen Ernährung hat daran einen gewichtigen Anteil. So gestalten wir Tag für Tag essend die Welt. In der Küche und am Essplatz setzt sich das Individuum in Beziehung zu globalen Stoffströmen – ohne jedoch die vielgliedrige Verkettung von Ursache und Wirkung seines Handelns zu begreifen.
Haus- und Wohntypologien werden gemeinhin aus der Perspektive von Architektur, Baukonstruktion und Städtebau betrachtet. Dabei wird oft übersehen, wie sich die Organisation stofflicher und energetischer Prozesse auf die Ausbildung von Raumstrukturen auswirken und umgekehrt. In diesem Sinne sind Bauten als Geräte zu betrachten, die der Beherbergung und der Gestaltung des menschlichen Alltags dienen. Und die wichtigste Tätigkeit des Menschen in energetisch-stofflicher Hinsicht ist das Essen. Haus und Stadt stellen dafür eine unabdingbare Apparatur dar. Zur Analyse dieses Wechselverhältnisses von Ernährung, Küche, Haus, Stadt und Welt haben wir dessen Entwicklung am Beispiel Berlins über einen Zeitraum von dreihundert Jahren untersucht. Es ist der Versuch einer anderen Art der Architekturgeschichtsschreibung, die die einseitige Fixierung auf das bildlich-symbolische aufgibt und sich auch den stofflich-energetischen Fragen der gebauten Umwelt widmet .1
In den Darstellungen auf den folgenden Doppelseiten illustrieren wir die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt. Visualisiert wurden drei Zeitschnitte, an denen sich wesentliche Etappen der Veränderung dieser Verhältnisse seit dem Beginn der Industrialisierung zeigen. Absichtlich haben wir auf ein „objektives“ Verfahren wie eine Infografik oder eine Kartierung mit generalisierendem Überblick verzichtet, sondern eine freie, räumlich-künstlerische Darstellungsform gewählt, die den Weltblick anschaulich repräsentieren kann. Der Schweizer Künstler Andreas Gefe hat unsere Recherche- und Analyseergebnisse in eine bildliche Darstellung übersetzt.
Angeregt durch Saul Steinbergs Cartoon „View of the World from 9th Avenue“ von 1976, der in einer effektiven und inzwischen vielfach kopierten Form eine subjektive Weltwahrnehmung repräsentiert, haben wir den in der Küche agierenden Menschen ins Zentrum gestellt. Aufgebaut sind alle Darstellungen nach einem dreiteiligen Grundprinzip von Vordergrund mit Küche und Essplatz einer Privatwohnung, städtischem Umfeld mit unmittelbarem Umland und dem sogenannten „Rest der Welt“. Letzterer rückt je nach Zeitschnitt in nähere oder weitere Entfernung. Neben der Andeutung grundsätzlicher räumlicher Anordnungen wie Küchentyp und Möblierung, Wohnblock, Stadtstruktur etc. galt es, die verschiedenen Ebenen, die mit der menschlichen Ernährung in Beziehung stehen, und deren räumliche Auswirkung anzudeuten. Dazu gehören neben Ursprung und Prozessierung von Lebensmitteln sowie Wasser- und Energieversorgung auch der „Output“ in Form von Abgasen, Abfällen und Abwässern.
Die auf dieser Doppelseite vorangestellten Statistiken ergänzen diese Bilder des Mensch-Welt-Verhältnisses um quantitative Angaben.
1 Vgl. Stephan Barthel, Philipp Oswalt, Anne Schmidt mit Julia von Mende: Privater Haushalt und städtischer Stoffwechsel – Eine Geschichte vor Verdichtung und Auslagerung, Berlin 1700–1930. In: Arch+ 218, Aachen, 2014, S. 92–103
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