Höhenflug in Spandau
Im Berliner Nordwesten soll die traditionsreiche Siemensstadt zu einem Stadtteil der Zukunft werden. Ortner & Ortner haben im Januar den Wettbewerb dazu gewonnen. Der Vorschlag bietet ein stabiles Gerüst, lässt aber innovative Ansätze vermissen.
Text: Imsirovic, Tino, Berlin
Höhenflug in Spandau
Im Berliner Nordwesten soll die traditionsreiche Siemensstadt zu einem Stadtteil der Zukunft werden. Ortner & Ortner haben im Januar den Wettbewerb dazu gewonnen. Der Vorschlag bietet ein stabiles Gerüst, lässt aber innovative Ansätze vermissen.
Text: Imsirovic, Tino, Berlin
Mit der in greifbare Nähe rückenden Schließung des Flughafens Tegel öffnet sich im Berliner Nordwesten ein neuer Schwerpunktraum für die Stadtentwicklung. Entlang des Berlin-Spandauer Schifffahrtskanals reihen sich potentielle Transformationsräume wie an einer Perlenkette: die Wasserstadt Oberhavel, die Insel Gartenfeld, das freiwerdende Flughafengelände selbst – als proklamierte „Urban Tech Republic“ – und das Schumacher-Quartier. In weniger als 15 Jahren sollen hier „die neuesten Entwicklungen auf den Gebieten der Industrie 4.0, der Infrastruktur, des klimaneutralen Bauens, der nachhaltigen Mobilität oder der Klimaresilienz“ umgesetzt sein. Herausragend in der Mitte dieser Quartiere liegt die „Siemensstadt“.
Ende des 19. Jahrhunderts legte Siemens & Halske, bis dato spezialisiert auf Telegrafie und Telefonie und soeben in Begriff, auch Energie- und Elektrotechnik für sich zu entdecken, am Rand von Berlin das Fundament für seine weltweite Expansion. Das junge Unternehmen bündelte in der Siemensstadt seine bis dahin über das Stadtgebiet Berlins verteilten Produktionsstätten an einem Standort. Auf dem Firmengelände entstand vom Kauf des ersten Baulands, der Nonnenwiese, im Jahr 1897 bis in die 1920er Jahre ein Mix aus Produktionshallen, Wohnbauten, Verwaltungs- und Sozialgebäuden, Parks und Verkehrsinfrastruktur – die werkseigene Siemensbahn verkehrte noch bis 1980 innerhalb des Gebiets und verband es mit dem Berliner S-Bahn-Netz; sie könnte bald reaktiviert werden. Insbesondere für die Wohnbebauung, aber auch für den Industriebau, waren renommierte Architekten wie Hans Hertlein, Walter Gropius und Hugo Häring involviert. Ende der 30er Jahre lebten rund 13.000 Einwohner in den Siedlungen auf dem 212 Hektar großen Areal, und das Werk beschäftigte über 65.000 Menschen.
Eine neue Epoche für die Industriestadt
Auf einem 70 Hektar großen Teilgebiet soll nun die „Siemensstadt 2.0“ entstehen. Um auf die sich verändernden Produktions- und Arbeitsbedingungen zu reagieren, lobte Siemens unter dem Leitmotiv der „Industrial Smart City“ einen nicht-offenen städtebaulichen Wettbewerb aus. Arbeiten und Wohnen, Forschung und Wirtschaft sollen auf zeitgemäße und zukunftsgewandte Weise zusammengeführt werden, damit der Ort rund um die teilweise denkmalgeschützten Anlagen eine neue Identität erhält. Der Konzern beabsichtigt, mehr als 600 Millionen Euro zu investieren. Es sollen neue Forschungseinrichtungen und innovative Unternehmen angesiedelt werden und rund 2750 neue Wohnungen entstehen. Die Teilnehmer waren aufgefordert, Vorschläge zu nachhaltigen Bauweisen, neuen Mobilitätsformen, digitaler Vernetzung und ökologischer Ressourcenschonung zu entwickeln. Ferner sollen in „Reallaboren“ Neuentwicklungen an Ort und Stelle auf ihre Praxistauglichkeit getestet werden können.
Der erste Preis ging mit einstimmigem Votum an den Entwurf von Ortner & Ortner Baukunst und Capatti Staubach Landschaftsarchitekten aus Berlin, die sich in dem kooperativen Verfahren mit Bürgerbeteiligung und Online-Dialog gegen 17 Mitbewerber durchsetzen. Ihren Entwurf bestimmt ein Gerüst aus verschiedenartigen Straßen und Freiräumen rund um einen neuen zentralen Stadtplatz. Ein Boulevard, der aus Richtung Jungfernheide in das Gelände führt – der „Siemensstrip“ – und mehrere grüne „Fugen“ stellen Verbindungen im Quartier und nach außen her. Ein „Sportpark“ entlang der Bahngleise schafft als Teil der übergeordneten Grünverbindung den Übergang zur Jungfernheide. Typologisch leisten sich die Verfasser mit mäßig variierenden Blockstrukturen keinerlei Extravaganz. Entscheidend wird sein, in wieweit die Intention, die Erdgeschosszone zu einem durchgängig öffentlichen Stadtgeschoss zusammenzufassen, letztlich umgesetzt wird.
Die denkmalgeschützte Hauptverwaltung nutzen die Erstplatzierten als „Start-Up-Space“ und Mobilitätszentrum. Hier wie auch im benachbarten Schaltwerkhochhaus von Hans Hertlein aus dem Jahr 1928 kombinieren sie öffentliche Nutzungen wie Hotel, Schule und Markthalle mit Flächen für Wohnen, Gewerbe und Büros. Dagegen bilden sie im nördlichen Abschnitt des Entwurfsgebiets ein kompaktes Wohncluster aus und schlagen südlich der Nonnendammallee einen Mix aus Gewerbe, Forschung und Büros vor.
Der Entwurf überzeugte die 16-köpfige Jury unter Vorsitz von Stefan Behnisch auch durch den Stadtplatz in seiner Mitte, den ein 150 Meter hoher Turm markiert. Zusätzlich besetzen weitere bis zu 60 Meter hohe Hochpunkte die Quartierseingänge. Positiv bewerteten die Juroren auch die Vielzahl an unterschiedlichen Typologien gebauter und offener Räume. In Hinblick auf die Symbolwirkung des Turms – „Siemens braucht kein neues Symbol“, so die Entwurfsverfasser selbst –, wie auch die mit ihm verbundenen Kosten war das Preisgericht allerdings uneins.
Auch die Zweitplatzierten, die Arbeitsgemeinschaft aus Kleihues + Kleihues und Rainer Schmidt, setzen auf Hochpunkte und typologische Varianz. Charakteristisch für ihren Entwurf „Collage City“ ist seine funktionale Mischung und Wandlungsfähigkeit. Die drittplatzierten Robertneun und Atelier Loidl stellen ihren Entwurf unter das Motto „Großstadt Wildnis – als Stadtbild“. Sie nehmen die Industriebauten als „Ur-DNA“ des Gebiets an und zeichnen gemäß der Prämisse „Weiterbauen statt Abstandhalten“ das Bild einer Stadt zwischen Gründerzeit und Moderne, mit kompakten Baublöcken, durchbrochen von vielseitigen Frei- und Naturräumen. Die Jury war von der Klarheit der vorgeschlagenen Struktur angetan, hatte jedoch Sorge, die gegebene Stringenz ließe sich in der weiteren Planung nicht durchhalten.
Derzeit wird auf Basis des Siegerentwurfs die Bauleitplanung erstellt und ein hochbaulicher Wettbewerb für den ersten Teilabschnitt vorbereitet. Gewünscht ist, dass 2022 erste Bauarbeiten beginnen.
Nicht-offener städtebaulicher Wettbewerb
1. Preis (80.000 Euro) Ortner & Ortner Baukunst, Berlin, mit Capatti Staubach Landschaftsarchitekten, Berlin
2. Preis (60.000 Euro) Kleihues + Kleihues Gesellschaft von Architekten, Berlin, mit Rainer Schmidt Landschaftsarchitekten, München
3.Preis (40.000 Euro) ROBERTNEUN Architekten, Berlin, mit Atelier Loidl Landschaftsarchitekten, Berlin
4.Preis (20.000 Euro) Henn, Berlin, mit WES Landschaftsarchitektur, Hamburg
Engere Wahl Kuehn Malvezzi, Berlin, mit KCAP, Zürich, Pasel-K, Berlin, sinai Landschaftsarchitekten, Berlin
Engere Wahl Barkow Leibinger Architekten, Berlin, mit relais Landschaftsarchitekten, Berlin
Fachpreisrichter
Stefan Behnisch (Vorsitz); Stuttgart, Kees Kaan, Rotterdam; Stefan Kögl, München; Regula Lüscher, Berlin; Tobias Micke, Berlin; Ivan Reimann, Berlin; Manuel Scholl, Zürich; Sophie Wolfrum, München
2. Preis (60.000 Euro) Kleihues + Kleihues Gesellschaft von Architekten, Berlin, mit Rainer Schmidt Landschaftsarchitekten, München
3.Preis (40.000 Euro) ROBERTNEUN Architekten, Berlin, mit Atelier Loidl Landschaftsarchitekten, Berlin
4.Preis (20.000 Euro) Henn, Berlin, mit WES Landschaftsarchitektur, Hamburg
Engere Wahl Kuehn Malvezzi, Berlin, mit KCAP, Zürich, Pasel-K, Berlin, sinai Landschaftsarchitekten, Berlin
Engere Wahl Barkow Leibinger Architekten, Berlin, mit relais Landschaftsarchitekten, Berlin
Fachpreisrichter
Stefan Behnisch (Vorsitz); Stuttgart, Kees Kaan, Rotterdam; Stefan Kögl, München; Regula Lüscher, Berlin; Tobias Micke, Berlin; Ivan Reimann, Berlin; Manuel Scholl, Zürich; Sophie Wolfrum, München
Auslober
Siemensstadt in Abstimmung mit dem Land Berlin
Siemensstadt in Abstimmung mit dem Land Berlin
Wettbewerbskoordination
phase eins, Berlin
phase eins, Berlin
0 Kommentare