Bauwelt

Nicht stehen bleiben

Sechs Projekte von Graft werden anlässlich des 25-jährigen Jubi­läums des Berliner Architektur­büros in der aktuellen Schau bei Aedes gezeigt. Sie feiern damit die Neugier auf das Neue und Eigenartige, abseits von eingefahrenen Mustern.

Text: Schulz, Bernhard, Berlin

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    Foto: Erik-Jan Ouwerkerk

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Nicht stehen bleiben

Sechs Projekte von Graft werden anlässlich des 25-jährigen Jubi­läums des Berliner Architektur­büros in der aktuellen Schau bei Aedes gezeigt. Sie feiern damit die Neugier auf das Neue und Eigenartige, abseits von eingefahrenen Mustern.

Text: Schulz, Bernhard, Berlin

Wie schnell kann sich ein Firmenjubiläum in selbstgefälliger Rückschau verlieren! Die harten Anfänge, der mühsame Aufstieg, der endlich erreichte Erfolg, all das. Bei Graft ist das ganz anders. Vielleicht sind 25 Jahre auch noch nicht diejenige Marke, bei der man in lauter Gratulationen erstarrt.
Das Architekturbüro Graft feiert also sein erstes Vierteljahrhundert mit einer Ausstellung im Aedes Architekturforum; zugleich wird das stattliche Firmengebäude an der Invalidenstraße festlich eröffnet. Die Firmengründer, Lars Krückeberg, Wolfram Putz und Thomas Willemeit, wohnen oben drauf, hört man, doch am Eröffnungsabend bewegt sich alles über die großzügige Treppe zum ersten Obergeschoss mit balkonartiger Aussicht aufs Foyer, oder man steht im Hof Schlange für eine Berliner Currywurst, natürlich bio-zertifiziert.
Die Hand am Puls der Zeit hat das Gründungstrio seit jeher gehabt, und nach der Verstärkung um die neuen Partner Georg Schmidthals und Sven Fuchs wird das nicht weniger der Fall sein. Über die im wahrsten Sinne des Wortes märchenhaften Anfänge von Graft ist genug geschrieben (und wohl auch gedichtet) worden; drüben in Los Angeles, wo die drei, verbunden durch gemeinsames Singen im Chor, sich den letzten Schliff
in Sachen Zeitgeist holen wollten und davon so viel mitgekriegt haben, dass es bis heute gereicht hat.
Bei Aedes ist davon nicht die Rede, nicht von Los Angeles, auch nicht von den ersten Entwürfen in Berlin, die spektakulär genug waren und bis heute nichts von ihrer Hier-und-Jetzt-haftigkeit verloren haben, wie die weitläufige Zahnarztpraxis KU 64 in zwei Etagen am namengebenden Kurfürstendamm. Bei Aedes sind neuere Entwürfe zu sehen, sechs an der Zahl, drei realisierte und einer kurz davor in Berlin, ein weiterer in Fertigstellung in München und einer, nun ja, der auf dem Papier geblieben ist. Der galt dem Jüdischen Museum in Moskau, dessen Träger sich dann doch nicht zu dem nicht nur architektonischen, sondern zugleich ausstellungsdidaktischen Konzept von Graft anfreunden mochten.
Mit jedem der sechs Projekte ist ein Begriff verbunden, in englischer Sprache versteht sich, der einen besonderen Aspekt in der Formfindung betont. „Alles, was revolutionär ist und das Gewöhnliche außergewöhnlich macht, ist in unseren Entwürfen willkommen“, schreiben die Graft-Granden im Katalog, der im Unterschied zum Vorgänger von 2007, als sie das erste Mal bei Aedes ausstellten, durchaus bescheiden ausfällt. Und dann kommt ein Statement, das es wert ist festgehalten zu werden: „Wir glauben, dass die Erschaffung von Form und Schönheit die höchste Verkörperung von Nachhaltigkeit darstellt.“ Denn „jenseits des pragmatischen Minimums“ könne Architektur „unvergessliche Erfahrungen und neue Realitäten“ schaffen.
Das sind starke Worte, die mit starken Bauten beglaubigt werden. Gezeigt werden die Berliner Wohnbaukomplexe „Charlie Living“, „Wave“ und „Bricks“, und ob man ihnen nun Verben wie „Weben“ oder „Teilen“ oder das kaum übersetzbare „Lofting“ zuordnen mag oder nicht, so ist ihnen bei aller Verschiedenartigkeit doch der große Schwung eigen, sei es im Wellenspiel gerundeter Formen oder im alles durchdringenden Ansatz. So ist es bei „Bricks“ gelungen, Bestandsbauten verschiedener Epochen innerhalb eines heterogenen, von der Post aufgegebenen Areals durch selbstbewusste, aber in der Materialität historisch rückbezogene Neubauten zu einem als selbstverständlich empfundenen Ganzen zu verbinden.
Die Neubauanlagen mit jeweils mehr als 200 Wohneinheiten sei’s an der Spree, sei’s in Nachbarschaft zum einstigen Grenzübergang „Checkpoint Charlie“ zeigen ihren Schwung in den durchgehenden, mal schmaleren und mal breiteren und mal jacht-artigen Balkonen. Im Grundriss treten an die Stelle von Block oder Zeile mehrfach geknickte Formen mit dem Vorzug, die Fassadenlänge zu vergrößern und dementsprechend die natürliche Belichtung. Angesichts der dann doch geringeren Gebäudeabstände bei „Charlie Living“, wo das Innere des typischen Berliner Grundstücks quasi nach außen gestülpt wird, ist das ein Kunstgriff, der allen Bauteilen gleichermaßen Anteil an der – reich begrünten! –Durchwegung und damit an urbaner Lebendigkeit gewährt.
In der Ausstellung sind neben Schwarzweiß-Fotos der sechs Projekte Holzobjekte zu sehen, nicht eigentlich Modelle, sondern Holzblöcke oder -balken, in die die jeweils kennzeichnenden Elemente eines Entwurfs eingefräst, ausgehöhlt oder angefügt sind. Es geht dabei um Verweben, Spuren legen, schneiden, herausschälen, um dreidimensionales Zusammenfügen und um das Überziehen von Volumina mit einer gemeinsamen Haut. In der Zusammenschau ergibt das einen Ausstellungsraum von großer Einheitlichkeit, wo die Projekte selbst doch sowohl von den Formen wie von ihrer Materialität her heterogen sind; Holzhybridbau, dies nebenbei, steht den „Grafties“, wie sie sich nennen, selbstverständlich ebenso zu Gebote wie Bauen in Beton.
Und wie um die opulenten Projekte im oberen Ausstellungsraum ethisch abzufedern, ist im unteren einer ihrer „Solarkioske“ aufgebaut, eine Art Container aus leicht montierbaren Aluminiumelementen. Im Freien aufgestellt in abgelegenen Gegenden Afrikas, wird er dank Photovoltaik autark mit sauberer Solarenergie versorgt und kann entsprechend Nützliches wie Kühlschränke für Medizin oder Ladestationen für Mobiltelefone bieten, ganz abgesehen von seiner Funktion als dörflicher Treffpunkt. Die Spannweite von sozial engagierten Projekten zu Hi-End-Architektur halten die Graft-Leute erkennbar locker aus.
Beim Blick zurück in den oberen Ausstellungsraum erkennt man an der hinteren Wand Buchstaben, die keinen Sinn zu ergeben scheinen. Nur von einem einzigen Punkt lässt sich der vollständige Satz entziffern: „Taste is the lack of appetite“. Die Neugier auf das Neue, abseits von eingefahrenen Mustern, vom herkömmlichen „taste“, das ist das Motto der Ausstellung. Aber wie dieser Appetit zu befriedigen ist, scheint diese anamorphotische Installation besagen zu wollen, das ergibt sich erst von einem und nur einem Punkt aus. Diesen Punkt zu finden – und so die behaupteten „unvergesslichen Erfahrungen“ zu schaffen –, ist eine Aufgabe, die Graft seit einem Vierteljahrhundert eindrucksvoll löst.

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