Stuttgart-Österreichischer Platz. Unort oder Freiraum?
Vom Nicht-Ort zum Ort, vom Ort zum Unort, vom Unort zum Freiraum und wieder zurück? Die Entwicklung des Österreichischen Platzes zeigt die Extreme der Gestaltungsmöglichkeiten im Straßenraum.
Text: Sturm, Hanna, Leipzig
Stuttgart-Österreichischer Platz. Unort oder Freiraum?
Vom Nicht-Ort zum Ort, vom Ort zum Unort, vom Unort zum Freiraum und wieder zurück? Die Entwicklung des Österreichischen Platzes zeigt die Extreme der Gestaltungsmöglichkeiten im Straßenraum.
Text: Sturm, Hanna, Leipzig
Auf einer Karte um das Jahr 1782 stoßen drei durch Linien geteilte Felder an einem Punkt aufeinander. Die erste Beschreibung des Ortes vor den Stadtgrenzen Stuttgarts, der einmal Österreichischer Platz heißen wird, erfolgt über die Namen der Felder: Furth Wiesen, Kuchen Wiesen, Immenhofer Wiesen. Im Gegensatz zum Jahr 1782 ist heute fast jeder Quadratmeter der Erde von Menschen beschrieben worden. Wir haben es nun mit Überschreibungen zu tun. Welche Facetten diese Überschreibungen annehmen, wie lange sie einen Raum festlegen, wie starr oder beweglich sie sind, illustriert die Geschichte des Österreichischen Platzes.
Die Stadt wächst an das Wiesendreieck heran. Einer der Wege heißt nun Hauptstädter Straße und führt durch das Tübinger Tor. Der Platz, der sich bis 1855 hinter dem Tor aus der Hauptstätter Straße entwickelt, war von Anfang an eine Verteiler- und Transitzone. Einmal festgelegt, bilden Stadtstraßen die linearen Konstanten, an denen Gebäudeordnungen wachsen und sich über die Jahre verändern. Mit dem Auto als Transportmittel ging ein Großteil des Interpretationsspielraums der Straße als Fußweg und Handelsort verloren. Der Grundstein für die Planung eines automobilen City-Rings für Stuttgart wurde bereits im Nationalsozialismus gelegt. Dass am Ende die großflächige Zerstörung der Stadt durch einen schweren Bombenangriff 1944 die nötigen Lücken schuf, um die Straßenschneisen der „autogerechten Stadt“ in den sechziger Jahren anzulegen, ist eine zynische Wendung der Geschichte.
Wie wenig autogerechte mit menschengerechter Planung zu tun hat, lässt sich eindrucksvoll nachvollziehen, folgt man der Stadtautobahn B14 auf dem Satellitenbild. Während die Hauptstätter Straße am Marienplatz noch aus moderaten vier Spuren zwischen Blockrandbebauung besteht, beginnt sie sich kurz vor dem Österreichischen Platz einer Hydra gleich zu multiplizieren. Vier Spuren tauchen in einen Tunnel, jeweils zwei führen rechts und links über Rampen auf das erhöhte Betonrondell, wo die B27 auf der Paulinenhochstraße Richtung Norden abzweigt. Von diesem Punkt aus wälzt sich die B14 mit bis zu zehn Spuren durch den Stadtraum. Kreuzungen mutieren zu fußballfeldgroßen Asphaltflächen, an deren Rändern wie selbstverständlich historische Kultur- und Bildungsbauten stehen. Wie schwer es ist, einer Festschreibung dieser Dimension eine beweglichere Form zu geben, zeigt das jahrzehntelange Ringen der Stadt mit den Geistern, die sie rief: Luftverschmutzung, Lärm, geteilte Viertel. Im letzten Jahr nahm ein Planungswettbewerb erstmals die ganze Länge der Stadtautobahn in den Blick (Bauwelt 24.2020). Für die Gewinner asp Architekten und Koeber Landschaftsarchitektur steht fest: Soll die Autobahn wieder zur menschen- und klimafreundlichen Stadtstraße werden, bedeutet das keine Unterführungen, Reduzierung der Fahrspuren, Übergänge für Fußgänger und viel Grün. Während dieses Mammutprojekt eine Machbarkeitsstudie nach der Nächsten vor sich herschiebt, zeigt der Verein Stadtlücken e.V., dass Stadtraum mehr ist als gebaute Struktur. Seit 2016 setzt sich die Initiative für den Österreichischen Platz als öffentlichen Raum ein. Die These: Der Unterschied zwischen Unort und Freiraum ist eine Frage aktiver Interpretation.
Es fing mit einem Kiosk an, der Souvenirs für einen öffentlichen Platz verkaufte, den es nicht gab. Mit der Frage „Wo ist überhaupt dieser Österreichische Platz?“ machten die Stadtlücken auf den Ort aufmerksam. Nachdem er wieder als gestaltbarer Raum wahrgenommen wurde, entstanden auf dem Österreichischen Platz gemeinsam mit Anwohnerinnen und Anwohnern Konzepte für öffentliche Nutzungen. Eine parallele Ausstellung im Rathaus bezog die Stadt in diesen Prozess ein. Mit Erfolg: 2018 bewilligte der Gemeinderat eine Reduzierung der Parkplätze unter Rondell und Paulinenbrücke sowie eine Förderung von 80.000 Euro für die Transformation des Ortes durch den Verein. Auf die Bereitstellung der Flächen folgte eine zweijährige Experimentierphase mit über 150 Aktionen, die sich sowohl in ihrer zeitlichen als auch räumlichen Ausdehnung unterschieden. Von Qi Gong-Kursen, über Sommerkinoabende bis zu der ersten öffentlichen Kletteranlage Stuttgarts. Voraussetzung war, dass die Nutzung des Platzes, als einer der letzten Freiräume Stuttgarts, kostenfrei und variabel bleiben sollte. Diese Form der Raumgestaltung hinterlässt keine sichtbaren Spuren. Bespielte Zeiträume geben dem physischen Ort eine neue Konnotation. Wie wirkungsvoll diese Umdeutung sein kann, zeigt der Entschluss des Gemeinderats, das Projekt „kooperativer Stadtraum“ im Doppelhaushalt 2020/2021 mit weiteren 1,6 Millionen Euro zu unterstützen.
Auf die Freude der Stadtlücken über den Vertrauensbeweis von Seiten der Stadt folgte nicht nur die Pandemie, sondern auch eine ernüchternde Erkenntnis: Die hohe Summe hatte das Projekt zu einem Großunternehmen gemacht, dessen Organisation die Möglichkeiten der ehrenamtlichen Vereinsstruktur überstieg. Feste Stellen innerhalb des Vereins und die Anstellung einer externen Person für die Verwaltung wären erforderlich gewesen. Langfristigen Beschäftigungsverhältnissen standen jedoch sowohl die projektbezogene Vergabe der Gelder als auch eine Gefährdung der Gemeinnützigkeit entgegen. Aktuell überlegen beteiligte Ämter und Stadtlücken gemeinsam, wie die Förderung einer Raumgestaltung aussehen könnte, die explizit nicht auf langfristige Nutzungen ausgelegt ist. Wie kann die Arbeit der beteiligten Personen angemessen entlohnt werden? Wie fest darf der Rahmen sein, um die bewegliche Natur der Aktionen nicht zu gefährden? So dreht der Kreislauf von gebauten und ideellen Überschreibungen eine nächste Runde um den Österreichischen Platz. Ob es dort zukünftig eine Architektur mit Fahrradwerkstatt und Atelierräumen geben wird oder ein Infrastrukturgerüst in Form von Strom, öffentlichen Toiletten und WLAN passendere Bedingungen für die Verwandlungen der Stadtlücken schafft, muss ausgehandelt werden.
Sollte Stuttgart die Verkehrswende gelingen, könnte auch das autogerechte Gerippe des Platzes eine neue Deutung erfahren. Wenn im Rendering von asp Architekten der Betonring von Fahrrädern bevölkert über einer belebten, städtischen Szene schwebt, gewinnt die Konstruktion eine skulpturale Ästhetik zurück. Fast möchte man sagen: ein einmaliger Ort.
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