Von der auto- zur fahrradgerechten Stadt – der Wandel von Hannover
Im Fahrradklimatest des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs schneidet die Landeshauptstadt Niedersachsens besser ab als die meisten Großstädte. Hilft ihr dabei ausgerechnet das üppige Erbe einer autogerechten Vergangenheit?
Text: Crone, Benedikt, Berlin
Von der auto- zur fahrradgerechten Stadt – der Wandel von Hannover
Im Fahrradklimatest des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs schneidet die Landeshauptstadt Niedersachsens besser ab als die meisten Großstädte. Hilft ihr dabei ausgerechnet das üppige Erbe einer autogerechten Vergangenheit?
Text: Crone, Benedikt, Berlin
Es ist ein fast schon ikonisches Bild. Nicht nur, weil es das einzige Mal war, dass es ein Stadtplaner auf das Cover eines großen Nachrichtenmagazins schaffte, sondern auch weil die Haltung des Porträtierten vielen heute als Sinnbild für das damalige Berufs- und Städtebauverständnis gilt. Am 2. Juni 1959 erscheint der Stadtbaurat von Hannover, Rudolf Hillebrecht, auf dem Titel des Spiegels, im akkuraten Kleidungsstil eines Baubeamten seiner Zeit. Anzug und Krawatte, glattgewachste Haare, hohe Stirn, Brille, ein fixierter Blick in die Kamera. Zwischen seinen Händen, selbstsicher auf den Tisch gestützt, liegt ein Plan mit einem Netz aus dunklen, dicken Linien: die Straßenführung für ein autogerechtes Hannover. Unter der Überschrift „Das Wunder von Hannover“ dokumentiert der Artikel eindrücklich, mit welcher Überzeugung eine vom Krieg stark getroffene Stadt ihr Schicksal in die Hände eines damals zukunftsweisenden Verkehrsmittels legte, gepaart mit Straßenverbreiterungen, Grundstücksaufkäufen und Bebauungsverboten, um einen ungestörten Verkehrsfluss für die Menschen im Automobil gewährleisten zu können. Fortan zergliederten Straßen die Stadt in Stadtteilinseln, und die Kernstadt wurde zur fußfreundlichen Einkaufs-City, versehen mit Parkhäusern als Anlegebuchten.
Sechs Jahrzehnte später erlebt Hannover etwas, das manche ebenfalls als kleines Wunder empfinden: Die Stadt gilt als eine der radfreundlichsten Großstädte Deutschlands. Im Fahrradklimatest schnitt Hannover mit der Benotung 3,7 nicht besonders toll ab, aber besser als die meisten der vierzehn deutschen Städte mit über 500.000 Einwohnern, nur Bremen erreichte noch die Note 3,6. Ist dies als eine Verkehrswende zu sehen? Eine Verwandlung von der auto- zur fahrradgerechten Stadt? Naheliegend ist besonders eine Vermutung: Gerade die mehrstreifigen, autogerechten Straßen, die ins Umland reichenden Tangenten und der City-Ring erleichtern in Hannover das Anlegen von Radwegen. Aber stimmt das?
Bereits in den achtziger Jahren hatte Hannover angefangen, Radwege nach eigenem Standard anzulegen, eine anthrazitfarbene Pflasterung neben Bürgersteigen, die beidseitig von einem roten Klinkerrandstreifen begrenzt wird. Nach heutigem Anspruch fallen die Wege aber oft zu schmal aus. Die Stadt setzt seit 2018 vermehrt auf breitere Wege, auch in Asphalt, über den sich besser gleiten lässt. Auf Straßen und an Verkehrskreuzungen werden vielgenutzte Stellen knallrot markiert, sichtbar für Rad- und Autofahrende. Bis 2022 sollen alle Kreuzungen diese Markierung erhalten. 24 Fahrradstraßen wurden in den vergangenen Jahren erstellt, davon wurde die letzte in der Edenstraße so mit Pollern als Diagonalsperre durchtrennt, dass für Autos kein Durchgangsverkehr möglich ist. Auch zwei Radschnellwege ins Umland, nach Langenhagen und Richtung Lehrte, sollen dieses Jahr in Bau gehen. Den Erfolg der Maßnahmen messen Zählstationen, die, neben Radwegen aufgestellt, anzeigen, wie viele Radfahrer sie passieren – und die so auch ein Zeichen setzen: Hier bewegt sich was. Hinter der Radoffensive steckt die kontinuierliche Erhöhung, zuletzt Verdopplung der städtischen Ausgaben für Radwege von 4,1 Millionen (2019) auf veranschlagte 8,5 Millionen Euro (2021).
Nun sind die Radmaßnahmen von Hannover kein Wunder von Hannover, sondern die üblichen Werkzeuge einer zeitgenössisch urbanen Verkehrsplanung. In ihrem angewandten Ausmaß aber entfalten die Mittel offenbar Wirkung. Hinzu kommt die Ausgangslage der topografisch flachen Hauptstadt Niedersachsens. Sie ist eine andere als die der dichten, von Krieg und Wiederaufbau weniger berührten Kleinstädte vor allem des Südens. „Inzwischen begreifen wir das Erbe der autogerechten Stadt auch als Chance“, sagt Tim Gerstenberger, Verkehrsplaner und Projektleiter der Initiative „Lust auf Fahrrad“ der Stadt Hannover. Es sei durchaus von Vorteil, zwischen den Häusern überhaupt Fläche zur Verfügung zu haben, die man umbauen kann – leichter werde dieser Umbau damit aber nicht. „Wenn Flächen umverteilt werden, braucht es immer eine gesellschaftliche Diskussion und einen politischen Konsens.“ Denn trotz steigendem Verkehr hat die Verkehrsfläche nicht zugenommen, die Straßenverläufe Hannovers sind seit den sechziger Jahren weitgehend gleichgeblieben. Wenn allerdings Straßen umgestaltet werden, wird im neuen Profil dem Gehen, Radfahren und dem Stadtgrün mehr Raum zugestanden. Im Falle der Hauptstraße verlaufen die teilweise vor Jahrzehnten angelegten Radwege allerdings nicht auf umgewidmeten Streifen des Kraftwagenverkehrs, sondern als Hochbordradweg als Teil des Seitenraums. Auch am City-Ring, einem Kernelement der Hillebrechtschen Planung, begleiten Radwege unterschiedlicher Qualität den Ring getrennt von den Autospuren. Für den Radverkehr wurde gesondert in der Innenstadt der City-Radring angelegt. Dieser Ring mit Sonderbodenmarkierung führt über Neben- und Einkaufsstraßen gezielt um ein anderes Erbe der Nachkriegsplanung herum: die Fußgängerzone Hannovers.
Dennoch sind die großen Autoschneisen und Hauptstraßen auch bedeutende Radverkehrsadern. „Unsere Zählstationen messen, dass viele mit dem Rad den Weg entlang dieser Straßen wählen, da diese ja oft die direkteste Verbindung ermöglichen“, berichtet Gerstenberger. Dort sind Radwege aber schon länger vorhanden, die Stadt verbessert sie nur abschnittsweise. Neue Radwege entstehen derzeit verstärkt auch in Form von Fahrradstraßen, die auf ruhigeren Quartierstraßen tiefer in die gründerzeitlichen Stadtviertel reichen. Ohne Einschnitte beim Autoverkehr geht es dabei nicht: Übergangsweise sieht Tim Gerstenberger bei Fahrradstraßen und an Kreuzungen Poller und andere Barrieren als probates Mittel, um die Kraftwagen in die gewünschten Bahnen zu lenken – auch wenn diese keine besonders „schönen Gestaltungsmittel“ seien. Bis 2022 sollen außerdem die ersten zwei von zwölf Velorouten fertiggestellt werden: lange Radwege, die sternförmig alle Stadtteile verbinden, im Zentrum zusammentreffen und eine Sondermarkierung erhalten. In ihrer Breite sollen diese dann auch regelmäßig über den Standard der Empfehlungen für Radverkehrsanlagen hinausreichen.
Von hier an getrennte Wege
Einst zur autogerechten Stadt umgebaut worden zu sein, reicht freilich nicht aus, um nun zu einer radfreundlichen zu werden. Auch die Schlusslichter des Fahrradklimatests – Essen, Dortmund, Köln, Duisburg, Krefeld, Mönchengladbach, Bergisch Gladbach, Hagen – sind mit einer großzügigen Autoverkehrsführung „beschenkt“ worden. Auf der anderen Seite sind die üblichen Gewinner-Rad-Städte Freiburg, Münster und Karlsruhe nicht für ihre autofreundliche Planungshistorie bekannt. Es muss also vielmehr ein breites gesellschaftliches Klima vorherrschen, in dem sich für den Radverkehr eingesetzt wird. In den genannten Städten mit mangelhafter Benotung durch Radfahrer ist die kommunale Wählerstimmung – von Ausnahmen wie Köln abgesehen – eher sozialdemokratisch geprägt, in den besser bewerteten Städten grünlicher. Hinzu kommt bei diesen ein höherer Anteil an jungen Menschen, die eher aufs Rad steigen.
In Hannover hat nach langjähriger SPD-Führung seit 2019 ebenfalls ein Grüner das Amt des Oberbürgermeisters inne: Belit Onay. Der 40-Jährige, der in einer Stichwahl gegen den CDU-Kandidaten Eckhard Scholz gewann, plant eine autofreie Innenstadt bis 2030, auch wenn es, wie Onay es der Bild-Zeitung gegenüber formulierte, „Reibereien“ geben könnte. Zwar sprachen sich 2019 bei einer Umfrage der Hannoverschen Allgemein Zeitung noch 54 Prozent der Befragten gegen und 43 Prozent für eine autofreie Innenstadt aus, die Oberbürgermeister-Wahl aber kann gerade als das Ergebnis einer gewünschten Verkehrswende gewertet werden.
„Veränderung scheitert seltener an den baulichen Möglichkeiten, als am politischen Willen“, sagt auch Jan Krüger, Vorstandsmitglied des ADFC der Stadt Hannover. Besonders breite Straßenverläufe sind dabei nicht immer hilfreich: „Ob es in einem großzügigen Profil einfacher ist, die Verkehrswende zu gestalten, bezweifle ich, denn die Gewohnheiten und die Ansprüche beziehen sich ja stets auf das Vorhandene.“ Eine Stärke Hannovers sei eher das Radwegenetz abseits des Autoverkehrs, beispielsweise im Stadtwald Eilenriede und durch Grünzüge, entlang von Flüssen oder des Mittellandkanals. Dadurch komme man weite Strecken schnell, stressfrei und mit nur wenigen Ampelschaltungen voran. Auch die teilweise vorhandene Verkehrsberuhigung in den Tempo-30-Zonen verhelfe zum angenehmen Fahren.
Das einfache Umwidmen von Kfz-Streifen zu Radwegen, wie es in Hannover an den großen Achsen Hildesheimer Straße und Podbielskistraße derzeit umgesetzt wird oder bereits wurde, sei keine zwingende Verbesserung für die Radfahrsicherheit, gerade wenn sich Kinder oder ältere Menschen auf ihrem Rad neben oder durch Autos schlängeln müssen. Helfen würde dann die Trennung durch Poller als „Protected Bike Lane“, sagt Krüger. Doch gerade auch solch einschneidende Maßnahmen benötigen einen entsprechenden politischen Willen.
Am Ende läuft alles auf eine klare Trennung von Rad- und Autoverkehr hinaus. Sie ist nicht nur konfliktentschärfend, sondern lässt auch den lange Zeit gepriesenen Mischverkehr oder gar einen Shared Space überholt wirken – zumindest jenseits von Wohnstraßen mit Tempo-30-Zonen. Menschen in Kraftfahrzeugen und Menschen auf Fahrrädern (und jene zu Fuß) sind zwar in derselben Stadt unterwegs, was Größe, Agilität und Geschwindigkeit betrifft aber in verschiedenen Welten. Auch der ADFC Hannover zieht an großen und autofreundlichen Straßen einen alten Hochbordradweg einer neuen Bodenmarkierung auf der Fahrbahn weiterhin vor. Nur müsste dieser Radweg, wenn er wie in so vielen Städten in die Jahre gekommen ist, erneuert und verbreitert werden. Will sich also eine Stadt, auch eine „autogerechte“, in ein niederländisches Radfahrparadies verwandeln, kommt sie an größeren Umgestaltungen von Hauptstraßen und der Beruhigung von Nebenstraßen nicht vorbei. Vorausgesetzt, die Wählerschaft macht mit. Anders als vor 60 Jahren ist aber immerhin ein Umbau der Gesamtstadt nicht mehr von Nöten, gestaltbare Fläche sollte ausreichend vorhanden sein.
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