ZUS [Zones Urbaines Sensibles]
Landschaftsarchitektur, Städtebau, Architektur – wozu ist es gut, die Fachgebiete bei einem Projekt zu trennen? Elma van Boxel und Kristian Koreman führen in Rotterdam das multidisziplinäre Büro ZUS.
Text: Bokern, Anneke, Amsterdam
ZUS [Zones Urbaines Sensibles]
Landschaftsarchitektur, Städtebau, Architektur – wozu ist es gut, die Fachgebiete bei einem Projekt zu trennen? Elma van Boxel und Kristian Koreman führen in Rotterdam das multidisziplinäre Büro ZUS.
Text: Bokern, Anneke, Amsterdam
Zones Urbaines Sensibles ist Beamtenfranzösisch für „soziale Brennpunkte“. Seit 2001 firmiert das Rotterdamer Büro ZUS, geleitet von Kristian Koreman (geb. 1978) und Elma van Boxel (geb. 1975), unter dem Akronym dieses Begriffes. Der Name kommt nicht von ungefähr: International berühmt wurde ZUS mit dem Luchtsingel, einer hölzernen Fußgängerbrücke durch ein vernachlässigtes Gebiet hinter dem Rotterdamer Hauptbahnhof. Inzwischen hat das Büro aber auch großmaßstäblichere Projekte wie etwa ein Wohnviertel in der Polderstadt Almere oder die neuen Seeschleusen in IJmuiden entworfen und arbeitet an Infrastruktur- und Landschaftsaufträgen in Belgien und den USA.
Van Boxel und Koreman, die auch privat ein Paar sind, haben beide zunächst in Arnheim Landschaftsarchitektur studiert. „Noch während des Studiums haben wir beschlossen, ein multidisziplinäres Büro zu gründen, das keinen Unterschied zwischen Städtebau, Architektur und Landschaftsarchitektur machen sollte“, sagt van Boxel. „Wir wollten keinesfalls in der traditionellen Rolle des Landschaftsarchitekten landen, der immer erst ganz am Ende des Prozesses etwas Grün zum Projekt hinzufügen darf.“ Daher absolvierte Koreman zusätzlich ein Philosophie- und van Boxel ein Architektur- und Städtebaustudium. Das taten sie an ihrem neuen Wohnort Rotterdam, wo sie günstig im leerstehenden Bürohaus Schieblock unterkamen – unweit des Hauptbahnhofs und eigentlich mitten in der Stadt, aber in einer völlig vernachlässigten Randlage. „Im Nachhinein war das ein unglaublicher Glücksfall, denn uns war gleich klar: Genau solche Stücke Stadt, die noch nicht programmatisch definiert sind und einer Neuinterpretation bedürfen, faszinieren uns“, erläutert Koreman.
Aus dieser Faszination heraus spezialisierten Koreman und van Boxel sich in den nächsten Jahren auf „unaufgeforderte Beratung“ von Stadtplanungsämtern und Entwicklern. „Uns ist wichtig, dass das, was wir tun, nicht nur räumlich, sondern auch politisch relevant ist“, sagt van Boxel. Dazu gehörte auch ihr Einsatz für den Erhalt des Schieblock, der eigentlich zum Abriss vorgesehen war. 2010 bekamen sie endlich die Zusage, das Bürohaus aus den 1950er Jahren für weitere fünf Jahre zwischennutzen zu dürfen. In der Folge entwickelte sich der Schieblock zum kreativen Hotspot, und ZUS streckte seine Tentakeln immer weiter in die Umgebung aus: Unter der Regie des Büros entstanden der Dakakker (ein Gemüsegarten mit Café auf dem Dach des Schieblock), ein Biergarten am Fuß des Gebäudes, ein Park auf dem Dach des benachbarten ehemaligen Bahnhofs Hofbogen und natürlich die teils durch Crowdfunding, teils mit städtischen Subventionen finanzierte, 400 Meter lange Fußgängerbrücke Luchtsingel, die den Schieblock durchstößt. Koreman spricht von einem Ökosystem: ein Zusammenspiel vieler kleiner Elemente, die alle aufeinander angewiesen sind und sich gegenseitig verstärken.
Zehn Jahre später zählt ZUS etwa 30 Mitarbeiter, ist der knallgelbe Luchtsingel zum Medienliebling geworden und das Gebiet in jedem Rotterdam-Reiseführer verzeichnet. Was van Boxel und Koreman einmal als „Stadt der permanenten Zeitweiligkeit“ bezeichneten, scheint aber nicht mehr so permanent, denn vor einigen Jahren wurde ein traditioneller Transformationsprozess für das Gebiet gestartet. Als die beiden davon hörten, brachten sie wieder einmal unaufgefordert ihre eigenen Ideen vor – etwa einen breiteren, mit Bäumen bepflanzten Luchtsingel 2.0 – und ergatterten schließlich einen Platz im Entwicklerkonsortium, gemeinsam mit mehreren Projektentwicklern und der Stadt.
„Wir haben es geschafft, dass die bestehende Nachkriegsbebauung als erhaltenswert ausgewiesen wurde und dass unsere temporären Initiativen als Basis der formellen Planentwicklung dienen. Aber natürlich wird sich der Charakter des Gebiets verändern, das ist Evolution. Wir arbeiten jetzt zum Beispiel an einem 180 Meter hohen Hochhaus, das sich aus dem Schieblock erheben wird. Aber gleichzeitig probieren wir, die Balance des Ökosystems zu bewahren, indem wir definieren, was genau seine Resilienz ausmacht. Wir planen zum Beispiel, mit Unterstützung eines Entwicklers den Schieblock zu kaufen, um dafür zu sorgen, dass die heutigen Unternehmer bleiben können.“ Den neuen Plänen zufolge soll über die einfach verglasten, asbestbelasteten Fassaden des Schieblok eine zusätzliche Glashaut gestülpt werden, hinter der sich Wintergärten befinden, so dass der Bau zum Hybrid aus Landschaft und Architektur wird.
Der hybride Charakter findet sich auch in jenen Projekten des Büros wieder, die nicht auf Eigeninitiative zurückgehen. Oft sind es Transformationsaufgaben, bei denen der Auftraggeber sich mit einem komplexen Gebiet keinen Rat weiß und noch gar kein Programm festgelegt hat, gelegentlich sind es aber auch schlicht Neubauprojekte. So hat ZUS beim Entwurf für das Smakkelaarsveld – ein neues Wohnviertel neben dem Bahnhof in Utrecht – mit dem Architekturbüro Studioninedots zusammengearbeitet, jedoch wurde gleich zu Beginn des Entwurfs einvernehmlich beschlossen, die übliche Rollenverteilung zwischen Architekt und Landschaftsarchitekt zu ignorieren. Die bis zu 15 Geschosse hohen Wohnbauten werden in eine kontinuierliche Parklandschaft eingebettet, die sich vom Boden bis über die Dächer erstreckt. Auf ähnliche Weise durchdringen sich Architektur und Landschaft auch in einem neuen Stadtblock auf dem Lloydpier in Rotterdam, für den ZUS alle Gemeinschaftsbereiche entworfen hat, vom begrünten Innenhof über einen Gemüsegarten auf dem Dach bis hin zu einer Laufbrücke zwischen zwei Gebäudeteilen.
Eines der langatmigsten Projekte des Büros ist das neue Wohnviertel Duin in Almere, das inzwischen seit 14 Jahren läuft. Am Südostrand des Flevopolders, direkt hinter dem Deich zum IJsselmeer, hat ZUS ein ganzes Stadtviertel in eine künstliche Dünenlandschaft eingebettet, die mit Strandhafer, Kiefern und Muschelpfaden beinahe Feriengefühl aufkommen lässt. Das ist nicht nur ein Maklertraum, sondern hat auch mit dem Klimawandel zu tun, denn die Dünen dienen als Deichverstärkung. „Die 3000 Wohnungen finanzieren eine Maßnahme zur Anpassung an den Klimawandel“, sagt van Boxel. „Städtebau, Landschaft und Klimaadaptation verschmelzen und generieren eine neue Typologie. Für uns ist das die ultimative Interdisziplinarität.“
Seine Studien und Projekte rund um solche Mitigationstrategien fasst ZUS unter dem Titel „New Deltaworks“ zusammen. Dazu gehören ein 2016 fertiggestelltes Flutwehr im Fluss IJssel ebenso wie die gerade im Bau befindlichen Seeschleusen in IJmuiden samt Deichsystem, Kaimauern, Schleusenköpfen und drei Gebäuden, aber auch die Teilnahme am „Rebuild by Design“-Projekt in New York, das nach dem Hurrican Sandy initiiert wurde. In einem Team aus niederländischen Städtebauern und Ingenieuren sowie dem Center for Advanced Urbanism des MIT hat ZUS für die Meadowlands in New Jersey eine flutbeständige Park- und Wohnlandschaft mit grüner Infrastruktur entworfen. „Das ist ein politisch und bürokratisch unheimlich schwieriges Projekt. Aus den Niederlanden sind wir gewöhnt, dass Bodenbeschaffenheit, Grundwasserpegel und ähnliches gründlich erforscht sind. In den USA gibt es das alles noch nicht. Momentan wird eine Umweltverträglichkeitsprüfung gemacht. Der Spatenstich für das Pilotprojekt ist für nächstes Jahr geplant”, erläutert Koreman.
Fragt man, wie das Büro an solche großen Infrastrukturaufträge kommt, führen alle Spuren immer wieder zum Luchtsingel zurück: „An der Ausschreibung für die Seeschleusen in IJmuiden konnten wir teilnehmen, weil wir vorher das Flutwehr in der IJssel entworfen hatten. Und diesen Auftrag haben wir bekommen, weil es uns mit dem Luchtsingel gelungen war, innerhalb kurzer Zeit ein komplexes, 400 Meter langes Infrastrukturbauwerk über eine Bahntrasse und mitten durch die Stadt zu legen. Das hat die staatliche Wasserbaubehörde beeindruckt.“
Wieviel aber kann von der ursprünglich antikommerziellen, etwas aufmüpfigen Haltung übrigbleiben, wenn man sich in der Welt der multinationalen Ingenieursbüros und staatlichen Auftraggeber bewegt? „Ein Teil unserer Projekte wird immer aus Ausschreibungen und vordefinierten Aufträgen bestehen. Die Top-Down-Mentalität gehört einfach zum Fach“, gesteht Koreman ein. „Andererseits gibt es aber immer mehr komplexe, urbane Gebiete auf der Welt, deren Geschichte und Charakter man sowohl programmatisch als auch räumlich in Entwurfsstrategien einbeziehen muss, damit der Ort eine Seele bekommt. Hoffentlich wird auch das immer Teil unserer Arbeit bleiben.“
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