Ein neues Rathaus für ein neues Kiruna
Auf Erz gebaut
Text: Crone, Benedikt, Berlin
Ein neues Rathaus für ein neues Kiruna
Auf Erz gebaut
Text: Crone, Benedikt, Berlin
In Schweden verliert eine Stadt den Boden unter ihren Füßen – und wandert gen Osten. Einem Städtebauwettbewerb für den Großumzug folgte nun ein Architekturwettbewerb für das neue Rathaus.
Kiruna liegt weit weg, am Rande Europas. Aus hiesiger Sicht scheint es kurz davor, vom Kontinent zu rutschen, bis es endgültig in der Unbedeutsamkeit verschwindet. Doch ein Blick auf die nördlichste Stadt Schwedens lohnt. Hier, im fernen Lappland, will man dem Schicksal entgegentreten, das auch Regionen außerhalb Skandinaviens erwartet. Weltweit setzt der Landschaftswandel – durch Tagebau, Stauseen, Verwüstung oder steigendem Meeresspiegel – ganze Ortschaften in Bewegung. In Kurina ist es das Eisenerz, für das sich die Stadt förmlich ihr eigenes Grab gräbt. Der Erzkörper der Gegend erstreckt sich in 1300 Metern Tiefe bis unters Stadtzentrum. Je mehr Erz das Bergwerk verlässt, desto weiter sackt der Untergrund ab; die ersten Häuser haben bereits Risse. Der Druck, für die Bewohner ein neues Zuhause zu finden, wächst – betroffen ist immerhin ein Drittel des Stadtgebiets. Die seit 2000 weltweit steigende Nachfrage nach Eisenerz ist für die Stadt so zugleich Segen und Fluch. Doch unter den 23.000 Menschen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt: ohne Erz keine Arbeit und ohne Arbeit kein Kiruna. Als Ausweg beschloss die linke Stadtregierung 2007 daher den Aufbau einer neuen Stadt – drei Kilometer weiter östlich. Kiruna zieht um.
Erst das Rathaus ...
Den ersten Schritt zum neuen Zentrum machte die örtliche Bahngesellschaft. Sie eröffnete im September eine provisorische Bahnstation eineinhalb Kilometer außerhalb vom jetzigen Kiruna. Daneben soll bis 2016 der Neubau des Rathauses folgen, für das die Stadt in diesem Sommer einen internationalen Architekturwettbewerb auslobte. 56 Teams beteiligten sich, fünf davon ließ eine Jury in die engere Wahl. Alle Finalisten stammten aus skandinavischen Ländern, darunter ein großes internationales Büro, dessen Benennung als Sieger für wenig Überraschung sorgte: Henning Larsen Architects.
Die Dänen entwarfen einen kreisrunden Rathausbau, bestehend aus zwei Teilen: einem äußeren Ring mit durch Galerien erschlossenen Büros der Abgeordneten und einem inneren Komplex, der in Form einer Kristallstruktur an das Erz der Region erinnern soll. Der „Kristall“, in dem sich öffentliche Räume für Ausstellung, Bücherei und Workshops über sieben Geschosse stapeln, ragt mit einem Dachaufbau aus dem Gebäude und über die Dächer der Stadt. Neben dem neuen Rathaus soll der Glockenturm des alten Rathauses aufgestellt werden – eine Übernahme, die auch die anderen Wettbewerbsteilnehmer praktizierten. Damit kommen sie dem Wunsch der Auslober nach, Teile und Materialien des 1958 nach Plänen des Schweden Artur von Schmalensee errichteten Kubus ins neue Rathaus zu integrieren. Abgesehen vom Stahlturm lässt sich in den Entwürfen der fünf Finalisten jedoch nur wenig vom funktionalistischen Politikbau mit Industriecharm wiederfinden. Offenbar erzürnt es im Norden Schwedens keine Denkmalschützer, dass vom mit Architekturpreisen ausgezeichneten Gebäude nur einzelne Elemente ins neue Rathaus gerettet werden sollen. Hier treibt es keine aufgebrachten Bürger auf die Straße, die für den Erhalt ihrer Wohnhäuser kämpfen. Die meisten der Gebäude gehören ohnehin der Stadt – oder LKAB, dem größten Eisenerzförderer der Region.
... dann die Stadt
... dann die Stadt
Kiruna und LKAB suchten daher auch gemeinsam mit einem städtebaulichen Wettbewerb nach Ideen, wie im Osten der Stadt, auf einem 40 Hektar großen Gelände, 3000 Wohnungen, plus Hotels, Schulen und Kulturbauten errichtet werden können. Unter den zehn beteiligten Teams fiel die Wahl im März auf das Konzept des schwedischen Büros White arkitekter. Sein Plan sieht vor, das alte Kiruna nach Osten über eine geknickte Achse zu verlängern, an der sich die wichtigsten Gebäude der Stadt aufreihen. Die dichte Blockbebaung soll nicht nur Distanzen kurz und den kalten Wind aus der Innenstadt halten. Auch verschafft die Form einer Bandstadt allen Bewohnern gleichlange Distanzen von maximal drei Blöcken in die Natur und zu den Geschäften und Einrichtungen entlang der Achse. Dadurch könnte man vor Ort häufiger auf den Griff zum Autoschlüssel verzichten – anders als in dem bisher aufgelockerten und weiträumigen Städtebau Kirunas. Auch eine geplante Seilbahn, die das gesamte Stadtgebiet vernetzt, wird helfen, den verkehrsbedingten Energieverbrauch zu reduzieren.
In ferner Zukunft kann sich Kiruna am neuen Rathausplatz an einer zweiten Achse in Richtung Norden und Süden ausbreiten. Außerdem schlägt White für das alte Bergbaugebiet vor, es Stück für Stück zum Natur- und Erlebnispark umzuwandeln. Nicht nur mit dieser prozesshaften Sichtweise konnte sich das schwedische Büro von der Konkurrenz absetzen. Den Planern gelang auch eine in sich kompakte Gliederung der Stadt, ohne den Anschluss zu den noch über Jahrzehnte bewohnten Teilen des alten Kiruna zu verlieren. Manche Teilnehmer lieferten stattdessen Entwürfe mit geschlossenen Siedlungseinheiten, die sich willkürlich über die Landschaft verteilen und viel Fläche in Anspruch nehmen – wie von den Teams um MVRDV aus Rotterdam oder um COBE aus Kopenhagen.
Läuft es nach den Plänen von White arkitekter, wird dieses Jahr ein Aussichtsturm mit Info-Raum vor dem Gemeindezentrum errichtet. Dem kleinen sogenannten „Kiruna Portal“ folgt im östlichen Industriegebiet das große Portal mit dem Ausbau einer alten Fabrikhalle, in der Gebäudeteile und Baumaterialien abgerissener Häuser recycelt und für das neue Kiruna aufbereitet werden sollen.
Dass den Bürgern der Stadtumzug nicht teuer zu stehen kommt, verspricht der Staatskonzern LKAB, der jedes abgerissene Gebäude ersetzen will. Auch regelmäßige Veranstaltungen sollen zur Beteiligung und Besänftigung der Bewohner beitragen. White schlägt dafür neben den üblichen Mitteln wie Bürgerforen und Diskussionsabenden eine „Kiruna Biennale“ vor. Die über das Stadtgebiet verteilte Bauausstellung würde den Umzug so inszenieren, dass er den Blick der Fachwelt auf die Kleinstadt am Rande Europas lenkt und sie fortan – so die Hoffnung der Auslober – auch anderen Regionen in ähnlicher Lage als Vorbild dienen kann.
Nichtoffener zweistufiger Architekturwettbewerb
1. Preis Henning Larsen Architects, Kopenhagen | Finalisten Dorte Mandrup + UULAS Arkitekter, Kopgenahgen/Kristiansand | Wingårdh Arkitektkontor, Göteborg | Stein Halvorsen + HRTB AS Arkitekter, Oslo | petra gipp arkitektur, Stockhol
1. Preis Henning Larsen Architects, Kopenhagen | Finalisten Dorte Mandrup + UULAS Arkitekter, Kopgenahgen/Kristiansand | Wingårdh Arkitektkontor, Göteborg | Stein Halvorsen + HRTB AS Arkitekter, Oslo | petra gipp arkitektur, Stockhol
Städtebaulicher Einladungswettbewerb
1. Preis White arkitekter, Göteborg | Teilnehmer u.a. MVRDV+BSK, Rotterdam | BIG, Kopenhagen | COBE, Kopenhagen | Tovatt, Stockholm | ecosistema urbano, Madrid | tham&videgård, Stockholm | KCAP+CaseStudio, Rotterdam
1. Preis White arkitekter, Göteborg | Teilnehmer u.a. MVRDV+BSK, Rotterdam | BIG, Kopenhagen | COBE, Kopenhagen | Tovatt, Stockholm | ecosistema urbano, Madrid | tham&videgård, Stockholm | KCAP+CaseStudio, Rotterdam
0 Kommentare