Menschen, Glühwürmchen
In Turin zeigen vier Projekte des Fotografen Gregory Crewdson Verfallslandschaften der amerikanischen Provinz
Text: Comoglio, Giovanni, Turin
Menschen, Glühwürmchen
In Turin zeigen vier Projekte des Fotografen Gregory Crewdson Verfallslandschaften der amerikanischen Provinz
Text: Comoglio, Giovanni, Turin
Umgeben von weihevollen, schneebedeckten Pinien betrachtet ein Langläufer eine Latrine, aus der sakrales Licht strahlt. Eine Frau schaut von der Veranda ihres heruntergekommenen Holzhauses in die Ferne, während die Straße vor ihr von einem umgekippten Laternenpfahl versperrt wird. Der Fahrer eines alten Jeeps ist ausgestiegen und steht mitten auf dem Asphalt, während die Beifahrerin sitzengeblieben ist und ebenfalls in eine undefinierbare Ferne schaut.
Der Amerikaner Gregory Crewdson ist einer der größten Namen der Gegenwartsfotografie. Mit Mitteln, die der Kino-Regie nah sind, komponiert er große Bilder aus tausenden kleinen, was ihm den kristallinen Detailreichtum seiner Inszenierungen ermöglicht. Seine Werke, die häufig in Zusammenarbeit mit seiner Lebensgefährtin Juliane Hiam entstehen, erkunden das greifbare Gefühl des Niedergangs in ländlichen Gegenden, in den Peripherie-Städtchen des nicht weit genug östlich liegenden New Englands, wo Industrie und Konsum schon lange verschwunden sind und eine desorientierte, ausgebrannte Gesellschaft zurückgelassen haben.
Die in den Turiner Gallerie d’Italia eingerichtete Ausstellung „Eveningside“ versammelt drei Meilensteine dieser elegischen Reise zur Apathie der Dekadenz. Die Serie „Cathedral of the Pines“ (2012–14) sucht nach Momenten der Intimität in der Natur, in der es von Spuren menschlicher Eingriffe wimmelt, die aber in Auflösung begriffen sind. Vier Jahre später, Trump regiert das Land, zeigt „An Eclipse of Moths“ (2018–19) eine Menschheit, die in der Luft hängt, verirrt ist in Ruinenlandschaften, kaputt ist. Schließlich „Eveningside“ (2022) – hier in Turin zum ersten Mal überhaupt ausgestellt –, eine Serie, die in Schwarzweiß operiert. Dieses Werk ist wie eine Synthese aus den anderen beiden; es zeigt vereinzelte Menschen auf der Schwelle zwischen einem Drinnen und einem Draußen, dessen Vergangenheit man erahnt, sowie kleine Hoffnungsschimmer der Zukunft.
Die Trostlosigkeit spricht mit Macht aus diesen drei Werken der „staged photography“, aber die Turiner Ausstellung präsentiert mit dem vierten Projekt auch einen anderen Aspekt des Fotografen. Die Bilder von Glühwürmchen, die Crewdson 1996 in den Wäldern des Massachusetts ablichtete, zeugen von einem Künstler, der sich auch der Anschauung hingeben kann und gleichsam passiv die Natur sich ausdrücken lässt. Der Kurator Jean-Charles Vergne formuliert es so: „Wahrscheinlich ist das ein Grundelement seiner Arbeit: das Oszillieren zwischen Poetik und Politik, zwischen schüchterner Sensibilität und präzisem Blick auf eine von langsamer Brutalität überrollte Welt.“
Aus dem Italienischen: Leonardo Costadura
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