In bewährter Manier
Nach dreißig Jahren wird die Tacheles-Brache nun bebaut. Zur Anwendung kommt das Rezept der neunziger Jahre: Stararchitekten entwerfen eine gemäßigt kleinteilige Nutzungsvielfalt im Hochpreissegment. Keine Nachricht, eigentlich. Oder doch?
Text: Brinkmann,Ulrich, Berlin
In bewährter Manier
Nach dreißig Jahren wird die Tacheles-Brache nun bebaut. Zur Anwendung kommt das Rezept der neunziger Jahre: Stararchitekten entwerfen eine gemäßigt kleinteilige Nutzungsvielfalt im Hochpreissegment. Keine Nachricht, eigentlich. Oder doch?
Text: Brinkmann,Ulrich, Berlin
Um Anno August Jagdfeld und seine Fundus-Gruppe ist es ruhig geworden, zumindest in Berlin (über die jüngsten Nachrichten zur Halbinsel Wustrow bei Rerik soll an dieser Stelle kein Wort verloren sein). Der Neualtbau des Hotel Adlon am Pariser Platz war Mitte der neunziger Jahre ein Wegweiser hin zur retrospektiven Architektur und rekonstruktiven Stadtentwicklung unserer Tage, und das kurz darauf von der Immobiliengruppe entwickelte Projekt für das Tacheles-Areal zwischen Friedrichstraße und Oranienburger Straße hätte dazu sehr gut gepasst. Doch aus der am US-amerikanischen „New Urbanism“ orientierten Planung (Bauwelt 8.2003) wurde nichts; die Tacheles-Brache döste Jahr um Jahr weiter in Sonne, Schnee und Regen. Vor dem für die ersten Nachwendejahre ikonischen „Kunsthaus Tacheles“, dem Überbleibsel des 1987 gesprengten Passagen-Baus, schossen Touristen erst Fotos, später Selfies, drinnen gab es mäßig gute Kunst zu sehen. 2008 wurde eine Zwangsverwaltung eingesetzt, 2012 schließlich die Ruine geräumt – eine gespenstische, irgendwie im Jahr 1995 eingefrorene Stille legte sich über das Gelände, das von Jahr zu Jahr mehr aus der Stadt gefallen schien, welche sich ringsum rasant veränderte.
Dass dieser Zustand nicht von Dauer sein konnte, war klar – zu golden schimmert die Lage, selbst, wenn der Himmel über Berlin mal wieder endlos Grau scheint. 2014 wechselte das Gelände den Eigentümer; für 150 Millionen Euro, wie berichtet wurde, erwarben der „europaweit agierende Investment Manager Aermont Capital“ (Pressemitteilung) und der New Yorker pwr Perella Weinberg Real Estate Fund II die gut 25.000 Quadratmeter große Liegenschaft, zu der außer der Passagen-Ruine auch zwei Altbauten an der Friedrichstraße gehören. Im Frühjahr 2016 begann die Tiefenenttrümmerung, und als nach und nach schon die Untergeschosse für die Tiefgarage betoniert wurden, begann sich so mancher zu fragen, was dort drüber denn eigentlich entstehen soll: Außer den Namen der mit der Planung beauftragten Architekturbüros Herzog & de Meuron, Brandlhuber + Muck Petzet, Grüntuch & Ernst sowie Kahlfeldt für die Sanierung der Altbauten war wenig Konkretes an die Öffentlichkeit gedrungen.
Im September wurden die Planungen nun endlich publik, da wurde schon Grundsteinlegung gefeiert. Die Überraschung war groß – es gibt nämlich keine. Das neue Quartier am Tacheles führt so wortgetreu die in den neunziger Jahren für die Stadtreparatur verschriebenen Rezepte weiter, als hinge an den Wänden noch der Kalender von 1999. Das ist grundsätzlich eine gute Neuigkeit, denn wer betrachtet, was danach in Berlin neu entwickelt wurde – Media Spree, Osthafen, Heidestraße –, kann sich durchaus in die Neunziger zurückwünschen, als es zwar auch darum ging, möglichst viel vermiet- oder verkaufbare Nutzflächen in die Stadt zu pressen, dabei aber immerhin auch über Architekturqualitäten gestritten wurde; angesichts der heutigen, weitgehend klaglos hingenommenen Gestalttristesse selbst an prominentesten Orten ein vor allem für jüngere Menschen kaum mehr vorstellbarer Paradieszustand. So sehr damals auch polemisiert wurde – ein Vierteljahrhundert später sind die Neubauten in der Friedrichstraße ganz gut eingewachsen, ist eine weitgehend selbstverständliche Wahrnehmung und Benutzung der Straßen zwischen Spree und Leipziger Straße erreicht, die nach Norden fortzusetzen ebenso logisch wie vielversprechend erscheint. Zu groß war diese Lücke, um nicht geschlossen zu werden, und das Projekt „Am Tacheles“ könnte in zehn, zwanzig Jahren ein ebenso selbstverständlicher Teil einer Stadt sein, wie sie Ephraim Gothe, Stadrat für Stadtentwicklung im Bezirk Mitte, auf der Pressekonferenz skizzierte: einer Stadt, die nicht aufhört, für den Fußgänger interessant zu sein.
SCAPE, ORO, SCALE, FRAME, VERT...
Herzog & de Meuron, die den Masterplan erarbeitet haben und auch den Großteil der insgesamt 85.000 Quadratmeter Gesamtnutzfläche betreuen, wollen die alte, ökonomisch recht erfolglose Passage zwischen Oranienburger und Friedrichstraße wiedererstehen lassen, der große Torbogen des „Tacheles“ bleibt der Haupteingang von Norden, an der Friedrichstraße markieren zwei kleine, die heilige Traufhöhe zaghaft übersteigende Turmhäuser den Eingang. In der Mitte, etwa da, wo einst der kuppelüberwölbte Zentralraum der Passage lag, wird ein oktogonaler Platz angelegt, der sich für die Außenbestuhlung von Passagen-Gastronomie anbietet. Anders als die alte Passage soll die neue allerdings himmeloffen bleiben und als öffentlicher Raum rund um die Uhr offen stehen. Zum ehemaligen „Kunsthaus Tacheles“, das auch künftig kulturell genutzt werden soll – die Berliner Lokalpresse kolportierte bereits das Interesse der schwedischen Galerie „fotografiska“ –, hält das neue Passagengebäude respektvoll Abstand, sodass hier eine recht typische Berliner Hofsituation entsteht; es fehlen eigentlich nur die Brandwände. Über die zur Grundsteinlegung veröffentlichte Architektur der Passage lässt sich nicht viel sagen; die streng gerasterten Fassaden der „SCAPE“ genannten Anlage wirken eher wie Platzhalter für eine noch zu entwerfende Gestaltung dieser Flächen. Sollten sie so kommen wie gezeigt, könnten sie jedenfalls auch direkt aus „Downtown Berlin-Mitte“, dem 1995 von Hans Stimmann und Annegret Burg vorgelegten Fassaden-Katalog der „neuen berlinischen Architektur“, herauskopiert worden sein.
Entworfen wirkt bislang vor allem das Wohngebäude „ORO“, das an der Oranienburger Straße als eine Art Kopfbau in die Hofinnenwelt leitet – hier greift die Planung das New-Urbanism-Projekt der frühen Nullerjahre am sichtbarsten auf, zumindest städtebaulich. Architektonisch hingegen scheinen die Basler ihren Kollegen vom Büro Chipperfield einen Gruß hinüber zur Tucholskystraße zu schicken, wo diese vor sechs Jahren den Rundbogen mit Ziegelsichtmauerwerk kombinierten und so die Retro-Architektur auch für Freunde der Moderne zum „gangbaren Konservatismus“ ummodelten (Bauwelt 37.2014). Im Blockinneren benachbart soll mit dem „FRAME“ ein Loftwohnhaus entstehen, dahinter, zur Johannisstraße hin, die Wohnanlage „VERT“, als ein „Hybrid aus kompakten Stadthäusern mit darüberliegenden Stadtwohnungen“, wie es in der Pressemitteilung dazu heißt. Wie bei den anderen Fassaden sollen Ziegel zum Einsatz kommen.
Typologisch interessant zu werden verspricht Haus „LAIKA“ von Brandlhuber + Muck Petzet. Die Bebauung entlang einer langen Brandwand basiert geometrisch auf Dreiecksformen, soll aus Beton, Holz und Flüssigkunststoff entstehen und Mikroapartments für ein neues Existenzminimum enthalten, welche um eine schräg stehende, verspiegelte Möbelwand aus Metall organisiert sind, die in den beengten Raumverhältnissen ein Gefühl von Weite erzeugen will. Über die Planungen der anderen Gebäude ist noch nichts zu sagen, dazu geben die veröffentlichten Visualisierungen zu wenig preis.
Anfang 2020 soll die Vermarktung des Gesamtprojekts starten, das eine Investition im hohen dreistelligen Millionen-Bereich darstellt, kündigte Sebastian Klatt, Geschäftsführer von pwr, bei der Pressekonferenz an. Einen Beitrag zur Wohnungsnot wird es nicht liefern: Das Modell der kooperativen Baulandentwicklung konnte hier leider noch nicht greifen, wie Stadtrat Gothe feststellte.
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