Bauwelt

Die zirkuläre Stadt – urbane Obsoleszenz

Immer wieder fallen Gebäude aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen aus der Nutzung. Mittels georeferenzierter Daten lassen sich solche Obsoleszenzen in ihrer Größe und Lage bestimmen.

Text: Rettich, Stefan, Leipzig; Tastel, Sabine, Kassel

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    1 Raumwirksamkeit von Megatrends auf städtische Typologien
    Grafik: Stefan Rettich, Sabine Tastel 2022

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    1 Raumwirksamkeit von Megatrends auf städtische Typologien

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    2 Ebenerdige Parkplatz­flächen in Hamburg
    Grafik: Stefan Rettich, Sabine Tastel 2022

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    2 Ebenerdige Parkplatz­flächen in Hamburg

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    3 Kirchen, Gemeinde­häuser und Friedhöfe in Hamburg
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    3 Kirchen, Gemeinde­häuser und Friedhöfe in Hamburg

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    4 Potenzialräume mit Häufungen obsoleter Typen in Hamburg
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    4 Potenzialräume mit Häufungen obsoleter Typen in Hamburg

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    5 Matrix obsoleter Typen
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    6 Bedarfsmatrix: neue städtische Funktionen und Transformationsbegabungen obsoleter Typen.
    Grafik: Stefan Rettich, Sabine Tastel 2022

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    6 Bedarfsmatrix: neue städtische Funktionen und Transformationsbegabungen obsoleter Typen.

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Die zirkuläre Stadt – urbane Obsoleszenz

Immer wieder fallen Gebäude aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen aus der Nutzung. Mittels georeferenzierter Daten lassen sich solche Obsoleszenzen in ihrer Größe und Lage bestimmen.

Text: Rettich, Stefan, Leipzig; Tastel, Sabine, Kassel

Erst mit Aufkommen des modernen Denkmalschutzes, insbesondere infolge des European Architectural Heritage Year (EAHY) von 1975, wurde das unablässige Schleifen der Geschichte eingestellt. Allerdings nur partiell, nämlich bezogen auf die Zeit vor 1914, die seither als vermeintlich his­torisches Stadtbild zementiert ist, während hingegen die Moderne trotz ICOMOS und Privatinitiativen weiterhin zur Disposition steht. Wenn nun immer häufiger Architekturen umgebaut werden, die man noch vor Kurzem nicht als erhaltenswert angesehen hätte, bedeutet dies dreierlei: Erstens fallen offenbar immer mehr Profangebäude der Moderne und Postmoderne aus der Nutzung – und weil die Boden-, Material- und Energiepreise stetig steigen, ist ein neues Marktsegment im Entstehen. Zweitens gewinnt dadurch das Profane gegenüber dem vermeintlich Historischen an Wert. Drittens markiert dieser Umstand eine Revolution der grauen Energie, die mit der Theorie der zirkulären Ökonomie einhergeht.
Während Letzteres für das einzelne architektonische Objekt bereits hinlänglich diskutiert wird, liegt eine Theorie der Obsoleszenz und Wiederverwertung auf Ebene des Quartiers oder gar der gesamten Stadt bislang nicht vor. Eine Vorausschau auf das Recycling von Flächen und Häusern – also eine Strategie der zirkulären Stadt – wird aber in Anbetracht des Klimawandels zunehmend essentiell. Auf welchen Regeln beruht das Phänomen der Obsoleszenz in der Architektur? Gibt es systemische Zusammenhänge? Und was bedeutet das für die aktuelle Situation?
Globalisierung als prägender Treiber urbaner ­Obsoleszenz der letzten Dekaden
1956 setzte der Spediteur und Reeder Malcolm McLean zum ersten Mal Container für den Warentransport ein, auf einem eigens dafür umgebauten Tanker, der Ideal X. Seine Erfindung revolutionierte nicht nur die weltweite Logistik, sondern hatte auch disruptive Effekte auf die Hafennutzung. Für die seither stetig wachsenden Containerschiffe waren viele Hafenanlagen in den europäischen Städten nicht mehr geeignet. Sie wurden entweder ganz aufgegeben oder verlagert. Solche Obsoleszenzen in der Stadt, also Funktionen, die aus der Nutzung fallen, aber große Potenziale in sich bergen, sind nicht neu.
Es gibt zahlreiche weitere Beispiele, etwa die Auflassung von Kasernen nach dem Fall der Mauer, alte Industrieareale aus der Gründerzeit, die im Zuge der Globalisierung aus der Nutzung gefallen sind, oder zentral gelegene Güterbahnhöfe, die durch Güterverkehrszentren in Stadtrandlage ersetzt wurden. Weitere vormals städtische Funktionen wie Schlachthöfe, Brauereien oder Großmarkthallen wurden ebenfalls an sogenannte Punkte höchster Erreichbarkeit ausgelagert, weil auch sie in internationale oder zumindest überregionale Produktions- und Lieferketten eingebunden sind.
In der Summe handelte es sich um enorm große und wertvolle Flächen für die Innenentwicklung von Städten. Denn sie waren zentral gelegen, gut erschlossen und verhältnismäßig einfach umzugestalten, da das Grund­eigentum bei der öffentlichen Hand oder bei Alleineigentümern der Industrie lag. Auf diesen Raumressourcen konnten Stadtteile wie die Hamburger HafenCity, die Bremer Überseestadt, der Ackermannbogen in München oder Kreativviertel wie die Leipziger Baumwollspinnerei entwickelt werden. Diese Flächen wurden auch dringend benötigt, denn seit den 1990er Jahren wachsen die meisten Großstädte und kleinere Universitätsstädte (Schwarmstädte) rapide, und die Diskussion über Wohnungsmangel und steigende Mieten reißt nicht ab. Hier wirkt im Hintergrund ein Megatrend: Wissenskultur und Wissensgesellschaft treiben einen Strukturwandel auf dem Arbeitsmarkt an. Gerade in den Groß- und Universitätsstädten konzentrieren sich Kreativwirtschaft sowie bedeutende Zentren von Forschung und Entwicklung mit attraktiven, gut bezahlten Jobs.
Megatrends und die Transformationsfelder von morgen
Grundlegende gesellschaftliche Entwicklungen, sogenannte Megatrends, wirken sich also mittelbar auf die Nutzung des Raums aus, sind Auslöser für Flächenverknappung, aber auch für Leerstände mit dem Potenzial neuer Nutzungen. Kann man sich Erfahrungen aus der Vergangenheit bedienen, um herauszufinden, welche Flächen der Stadt in Zukunft obsolet werden und welche Gebäudetypen davon betroffen sein werden? Dazu müssen aktuelle Megatrends auf ihre Raumwirksamkeit untersucht werden (Abb. 01). Während der Logdowns der Corona-Pandemie zeigte sich beispielsweise wie unter dem Brennglas, wie stark sich die Digitalisierung auf fast alle Lebensbereiche und damit auch auf den Wandel von Arbeit und Handel auswirkt. Covid-19 wirkte hier nur als Katalysator, nicht als Auslöser. Der stationäre Einzelhandel steht schon länger unter dem Druck der Plattformökonomien von Amazon und Co. Im Kulturbereich setzen Streaming-Dienste den Kinos ebenfalls seit geraumer Zeit zu, und im Büro- und Dienstleistungssegment sind es professionelle Video-Clients, wie etwa zoom, die den klassischen Büroturm infrage stellen.
Auch im produktiven Sektor kommt es zu Neuordnungen durch Digitalisierungsprozesse. Der wachsende Einsatz von IT und Robotik führt hier zu Flächenüberschuss. Für die sogenannte Industrie 4.0 werden dann weniger Facharbeiter benötigt, dafür mehr Informatikerinnen. Eingeschossige Fabrikhallen könnten in Teilen Softwareschmieden weichen, die sich vertikal organisieren lassen – Flächen werden dann für andere Nutzungen frei. Der Einfluss auf den Arbeitsmarkt und damit auf die Flächenbedarfe ist aber branchenabhängig und variiert selbst dort in verschiedenen Fertigungssegmenten erheblich.
Das Arsenal der autogerechten Stadt
Neben der Digitalisierung sind es perspektivisch der Klimawandel sowie die mit ihm verbundene Energie- und Verkehrswende, die sich als Mega­trends auf städtische Funktionen und damit auf die Raumentwicklung auswirken werden. Vor allem beim ruhenden Verkehr könnten Flächen eingespart werden, denn es werden weit weniger Parkplätze benötigt. Die Frage ist nur, wann und ob es dafür weiterer disruptiver Ereignisse bedarf wie etwa der Diesel-Gate-Affäre, bis politisches Handeln umfassend einsetzt.
Die Flächengewinne wären immens – in einer Stadt wie Hamburg entfallen derzeit über 700 Hektar Grundfläche allein auf ebenerdige Parkplätze (Abb. 02). Berechnungen des Umweltbundesamtes zeigen, dass ein Carsharing-Auto je nach örtlichen Verhältnissen vier bis teilweise mehr als zehn private Fahrzeuge ersetzt.1 Angenommen, der komplette Autoverkehr würde auf Sharing-Dienste verlagert, könnten im Idealfall über 90 Prozent der Stellplätze eingespart werden. Der tatsächliche Wert wird sich in der täglichen Mobilitätspraxis irgendwo dazwischen einpendeln. Noch sind Projekte wie der Groninger Hof, der Umbau eines Parkhauses in einen genossenschaftlichen Wohnungsbau in der Hamburger Innenstadt, oder der Rückbau des Parkhauses Büchel in Aachen zugunsten eines Parks Einzelfälle. Doch der Umstand, dass deutschlandweit etwa 600 Autohäuser pro Jahr in die Insolvenz gehen2, ist ein weiteres Indiz dafür, dass das ganze Arsenal der autogerechten Stadt auf dem Prüfstand steht.
Wandel der Religiosität
Besonders dramatisch ist die Entwicklung bei den kirchlichen Einrichtungen. Prognosen besagen, dass die Mitgliederzahlen in beiden großen Kirchen bis 2060 um annähernd 50 Prozent zurückgehen.3 In allen Kirchenkreisen und Diözesen wird händeringend nach Strategien zur Umnutzung kirchlicher Immobilen gesucht. Diese besonderen Versammlungsorte haben eine hohe gesellschaftliche Bedeutung, das Thema ist entsprechend diffizil. Neben den Kirchen selbst betrifft dies auch die zugehörigen Pfarr- und Gemeindehäuser (Abb. 03). Diese sensiblen Immobilien liegen in der Regel zentral in den Nachbarschaften und sind im kollektiven Bewusstsein der Anwohnerinnen und Anwohner verankert. Sie könnten also auch gut für andere soziokulturelle oder andere bedeutende Nutzungen im Quartier Verwendung finden.
Mittlerweile gibt es eine Reihe exzellenter Beispiele für die Umwandlung von Kirchen, die von der Kindertagesstätte in der ehemaligen Pfarrkirche St. Sebastian in Münster über die Kunstgalerie König in der brutalistischen Kirche St. Agnes in Berlin bis hin zu einer Buchhandlung in der früheren Dominikanerkirche in Maastricht reichen. Das zweite Phänomen in diesem Bereich ist ein Wandel in der Bestattungskultur. Mehr als ein Drittel der Friedhofsflächen in Deutschland sind Überhangflächen. Sie werden nicht aktiv genutzt, müssen aber teuer unterhalten werden.4 Der Grund liegt hier im Wandel von der Sarg- zur Urnenbestattung, die nur etwa ein Viertel der Fläche benötigt. Große Teile der Friedhöfe könnten daher nach einer Pietätsfrist in Freizeit- und Erholungsflächen umgewandelt werden.5
Bei allen genannten Beispielen ist die Lage entscheidend, denn das Obsoleszenz-Risiko einer städtischen Funktion ist nicht an jeder Stelle gegeben oder gleich hoch. Jene Ressourcen aber vorausschauend zu identifizieren und systematisch zu erschließen, scheint aufgrund der akuten Flächenknappheit in den Städten zu einer wesentlichen Aufgabe der Stadtentwicklung zu werden.
Zirkuläre Stadt – Möglichkeiten und Notwendig­keiten
Digitalisierung, Klimawandel, Verkehrswende und Wandel der Religiosität sind demnach die Treiber, die mit teils disruptiven Effekten Obsoleszenzen in städtischen Funktionen und präzise definierbaren Gebäudetypen hervorrufen. Betroffen sind Objekte und Flächen in den Kategorien Handel, Arbeit, Mobilität, Kultur und Religion (Abb. 05). Wo aber befinden sich diese konkret in den Städten und in welchem Ausmaß werden die einzelnen Gebäude- und Flächentypen betroffen sein? Hier bedarf es einer Annäherung auf mehreren Ebenen. Die Grundlage bilden differenzierte georeferenzierte Datensätze, über die mittlerweile die meisten Städte verfügen. Mit ihnen ist es möglich, die Objekte in ihrer Lage abzubilden und deren Größe zu ermitteln.
Für Hamburg, Hannover und mittlerweile auch für Mannheim wurden diese Daten für alle potentiell obsoleten Typen kartiert, überlagert und Fremdstudien zur empirischen Entwicklung einzelner Segmente ausgewertet.6 Die Gebiete, in denen sie sich häufen, sind denn auch die Transformationsfelder von morgen. Dort sollte die öffentliche Hand proaktiv in Kommunikation, Planung und in den Ankauf von Grundstücken investieren, bevor Preise und Nutzungen vom Markt diktiert werden. In Hamburg konnten nach dieser Methode 24 Potenzialräume identifiziert werden (ABB. 04).
Wesentlich ist zudem die Auseinandersetzung mit den Nutzungen, die perspektivisch in die Städte integriert werden müssen – diese mit den Begabungen obsoleter Typen abzugleichen, ist ein Schlüssel für die Strategie der zirkulären Stadt (Abb. 06). Damit diese effizient umgesetzt werden kann, bedarf es allerdings auch einer Flexibilisierung des Planungsrechts. Das heißt: Neue Nutzungen müssen schon einziehen dürfen, wenn die alte Nutzung noch (teilweise) am Werk ist. Auf dem viel gelobten Leip­ziger Spinnereigelände wurden Ateliers und Wohnungen bereits realisiert, als in manchen Fabrikhallen noch Reifencord produziert wurde – allerdings als illegale Schwarzbauten.
Der Text basiert auf Erkenntnissen des Forschungsprojekts „Obsolete Stadt“, das von der Robert-Bosch-Stiftung gefördert wird (www.obsolete-stadt.net), sowie auf einem Text von Stefan Rettich, der 2021 in dem Buch „Stadt nach Corona“ von Doris Kleilein und Friederike Meyer (Hg.) erschienen ist.
1 Umweltbundesamt: „CarSharing nutzen“ (15.01.2021). https://www.umweltbundesamt.de/umwelttipps-fuer-den-alltag/mobilitaet/carsharing-nutzen#unsere-tipps (letzter Zugriff: 08.03.2023).
2 Fassnacht, Martin; Vollmar, Jann (2022): „Warum unsere Autohäuser überleben müssen“, in: FAZ, 11.7.2022.
3 Evangelische Kirche in Deutschland (2019): „Langfristige Projektion der Kirchenmitglieder und des Kirchensteueraufkommens in Deutschland. Eine Studie des Forschungszentrums Generationsverträge an der Albert-Ludwig-Universität Freiburg“. https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/projektion-2060-ekd-vdd-factsheet-2019.pdf (letzter Zugriff: 08.03.2023), S. 8.
4 IKH – Institut für Kommunale Haushaltswirtschaft (2015): „Wirtschaftlichkeit im Friedhofswesen“. Helsa. S. 23f.
5 Rettich, Stefan (2017): „Berlin denkt weiter“. In: Garten + Landschaft 5/2017. S. 42–45, hier S. 42.
6 Rettich, Stefan; Tastel, Sabine (2022): „Modellannahmen für Hamburg“. https://obsoletestadt.net/wp-content/uploads/2022/09/03_Hamburg_Modellannahmen_220808.pdf (letzter Zugriff: 08.03.2023).

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