Bauwelt

Eine Wirklichkeit gewordene Utopie

Im 19. Jahrhundert als visionäre und unternehmerische Wohnanlage mit Gemeinschaftssinn errichtet, wurde das französische "Familistère" zum Museum umgebaut und nun erweitert.

Text: Stumberger, Rudolf, München

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    Das Familistère in Guise ist zum Teil immer noch bewohnt, zu einem größeren Teil aber ist es zum Museum geworden.
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    Das Familistère in Guise ist zum Teil immer noch bewohnt, zu einem größeren Teil aber ist es zum Museum geworden.

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    Das Familistère wurde als Schlossanlage für die Arbeiter der Ofenfabrik Godin gebaut.
    Foto: Karolina Sambroska

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    Das Familistère wurde als Schlossanlage für die Arbeiter der Ofenfabrik Godin gebaut.

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    Foto: Lucie Nicolas

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    In den zwei bis drei Zimmer großen Wohnungen und den Gemeinschaftsräumen hatten die Bewohner einen für die Zeit sehr hohen Komfort.
    Foto: Georges Fessy

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    In den zwei bis drei Zimmer großen Wohnungen und den Gemeinschaftsräumen hatten die Bewohner einen für die Zeit sehr hohen Komfort.

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    Das Museum, das kürzlich erneuert und erweitert wurde, dokumentiert die Geschichte dieser Wirklichkeit gewordenen Utopie.
    Foto: Lucie Nicolas

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    Das Museum, das kürzlich erneuert und erweitert wurde, dokumentiert die Geschichte dieser Wirklichkeit gewordenen Utopie.

    Foto: Lucie Nicolas

Eine Wirklichkeit gewordene Utopie

Im 19. Jahrhundert als visionäre und unternehmerische Wohnanlage mit Gemeinschaftssinn errichtet, wurde das französische "Familistère" zum Museum umgebaut und nun erweitert.

Text: Stumberger, Rudolf, München

Im Städtchen Guise in Nordfrankreich steht seit dem späten 19. Jahrhundert die Großwohnanlage „Familistère“, die der Ofenbauer Godin für seine Angestellten bauen ließ. Er orientierte sich dabei an einer Idee des Gesellschafts­theoretikers Charles Fourier aus dem späten 18. Jahrhundert. Nachdem das Unternehmen vor 50 Jahren den Betrieb einstellte, wurde ein Teil der riesigen Anlage inzwischen zu einem Museum umgebaut, das kürzlich erweitert wurde.
„Die Wohnverhältnisse des Volkes sind ein Abbild der Verwirrung und Unordnung, in der sich die individuellen und sozialen Bedürfnisse befinden.“ Dieser Satz stammt von Jean-Baptiste André Godin, einem philanthropischen Fabrikanten aus dem 19. Jahrhundert. Er ließ seinen Worten Taten folgen und baute einen „Sozialpalast“, eine Großwohnanlage für seine Arbeiter. Müllschlucker in den Treppenaufgängen, fließend Wasser auf den Etagen, ein lichtdurchfluteter Innenhof, ein Schwimmbad mit absenkbarem Boden, eine Schule, ein Kindergarten, Einkaufsläden – es ist ein umfassendes Konzept des Wohnens und des sozialen Lebens, das Godin ab Mitte des 19. Jahrhunderts in Guise Wirklichkeit werden ließ.
André Godin (1817–1888) kam aus einem Handwerkerhaushalt, wo er das mühselige Leben der Arbeiter von Kindesbeinen an kennenlernte. Ab 1840 begann er in seiner eigenen Werkstatt gusseiserne Öfen zu produzieren, ein Unternehmen, das rasch von wirtschaftlichem Erfolg gekrönt wurde. 1850 beschäftigte er bereits 180 Arbeiter, 30 Jahre später waren es 1500. Der Unternehmer war von den Ideen der Frühsozialisten wie Charles Fourier angetan. Dieser hatte auf dem Papier eine Großwohnanlage entworfen – Phalanstère genannt –, die sich mit einem zentralen Hauptbau und zwei symmetrischen Flügeln formalästhetisch an Vorbildern des Feudalismus, etwa dem Schloss Versailles, orientierte. Das Phalanstère mit Wohnungen, Versammlungsräumen, Höfen, Sälen, Gemeinschaftsküchen und Kabinetten stellte sich Fourier als eine kleine Stadt vor, deren Bauten durch überdachte Säulengänge und Galerien miteinander verbunden waren und die den Menschen viele Möglichkeiten der Interaktion und Begegnung boten.
Fouriers Phalanstère bildete die Vorlage für Godins „Familistère“: Die Wohngebäude für seine Beschäftigten in Guise entstanden von 1859 bis 1885 am linken Ufer des Flusses Oise. Von dort war die Ofenfabrik über einen kurzen Fußweg zu erreichen. Godin hatte die Fabrik 1846 am Stadtrand von Guise gegründet und ließ dort Öfen aus Gusseisen und Kaminverkleidungen herstellen. Später wurden auch Küchengeräte, Wasch­be­cken, Badewannen und Lampen produziert. Die Fabrik mit ihren rauchenden Schloten und die markanten Wohngebäude des Familistère dominierten das Erscheinungsbild des Städtchens.
Den Mittelpunkt des Familistère bildet das „Palais social“. Dieser Gebäudetrakt hat eine Länge von 65 und eine Tiefe von 40 Metern, die gesamte Front der Anlage mit den Flügelbauten erstreckt sich über 180 Meter. Das Palais social wird, ebenso wie die Flügelbauten, von einem mit Glas überdachten Innenhof mit der imposanten Größe von fast 1000 Quadratmetern dominiert. Rund um diesen Innenhof führen auf drei Etagen Galerien zu den einzelnen Wohnungen. Erschlossen sind die Galerien über vier Treppen­aufgänge in den Ecken des Gebäudes. Dort befinden sich auch die Wasserleitungen und die Aborte sowie ein Vorläufer eines Müllschluckers: Durch eine Klappe fällt der Abfall in dafür vorgesehene Behälter in den Kehrrichtkammern.
Die insgesamt 475 Zwei- und Dreizimmerwohnungen des Familistère boten 1600 Menschen Platz – das entsprach dem von Charles Fourier erdachten Idealmaß der Bewohnerzahl eines Phalanstère. Die Wohnungen bestehen aus einer Küche und zwei oder drei Zimmern, teilweise konnten zwei Wohnungen zu einer größeren zusammengelegt werden. Heute sind einige der Wohnungen mit dem Mobiliar aus unterschiedlichen Zeiten zu besichtigen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestand die Einrichtung aus einem Bett in der Ecke, einem Esstisch und natürlich einem „Godin“, dem tragbaren gusseisernen Ofen, den die Arbeiter selbst herstellten. In den 1950er Jahren: ein Gasherd zum Kochen, ein Beistellofen zum Heizen, an der Wand ein typisches Küchenbuffet aus dieser Zeit; im Zimmer neben der Küche ein Schwarz-Weiß-Fernseher, davor Stühle, in einer Ecke ebenfalls ein Bett.
Godin hatte nicht nur für Wohnungen gesorgt, sondern auch für Einrichtungen wie eine Kinderkrippe, einen Kindergarten und eine Schule – mit Koedukation von Jungen und Mädchen, damals unglaublich. Diese wurde direkt neben dem Theater errichtet, das die Kirche als säkulare Stätte des Geistes ersetzen sollte und den kommunikativen Mittelpunkt der Sozial­paläste bildete. Dort konnten die Bewohner des Familistère Schauspiel- und Musikaufführungen veranstalten, und Godin hielt regelmäßig Vorträge, in denen er sich eifrig bemühte, den Arbeitern seine politischen Ideen zu erläutern.
In konsequenter Umsetzung ebenjener Ideen machte sich Godin 1880 daran, seine Eigentumsrechte an eine Genossenschaft der Arbeiter zu übertragen. „Association Cooperative du Capital et du Travail“ heißt das Vertragswerk, das in weiten Bereichen auf die Gründung einer Produktivgenossenschaft hinauslief (allerdings ohne nennenswerte Mitspracherechte für die Arbeiter). Es nahm viele später staatlicherseits garantierte soziale Vorsorgemaßnahmen vorwegnahm, trug in seiner Gesamtstruktur allerdings die durch und durch paternalistische Handschrift Godins.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann der einstige Genossenschaftsgedanke zu verblassen. Manche Wohnungen standen leer, die Wohnstandards mit ihren Zimmergrößen entsprachen nicht mehr den Vorstellungen der nachwachsenden Generation. Das Gemeinschaftsleben mit den verschiedenen Freizeitgruppen kam zum Erliegen, das Fernsehen – dessen Antennen auf dem Dach des Familistère in den Himmel wuchsen – und die neue Automobilität forderten ihren Tribut.
In den 1960er Jahren verschlechterte sich die finanzielle Situation der Genossenschaft rapide, 1968 war sie zahlungsunfähig. Die Umwandlung der Genossenschaft in eine Aktiengesellschaft im selben Jahr brachte das Ende des Projekts von Guise. Aus den Associés wurden einfache Aktio­näre. „Godin hat seine Seele verkauft, um seine Haut zu retten“, schrieb damals eine Wirtschaftszeitschrift.
Seit 2006 befindet sich im Hauptflügel des Familistère ein Museum, das die Geschichte dieser Wirklichkeit gewordenen Utopie erzählt. Ausführlich widmet es sich den architektonischen Besonderheiten der Großwohnanlage. So wurden zum Teil die Strukturen der Wände und der Böden frei­gelegt, auch die Konstruktion von Türen und Fenstern ist ein Thema. Eine Abteilung der Ausstellung widmet sich anhand von Architekturmodellen den Entwürfen von „Wohnmaschinen“ in der Geschichte. In den vergangenen Jahren wurde das Museum im Familistère stetig erweitert und modernisiert. Der linke Nebenflügel soll in ein Hotel umgebaut werden, dafür fehlten momentan aber noch Investoren. Im noch teilweise bewohnten rechten Flügel sollen Sozialwohnungen entstehen.

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