Gemeinwohl auf Abwegen
Genossenschaften gelten als die Guten auf dem Wohnungsmarkt. Doch das genossenschaftliche Grundprinzip wird in den letzten Jahren zunehmend unterlaufen.
Text: Piening, Günter, Berlin; Schrader, Irmhild, Berlin
Gemeinwohl auf Abwegen
Genossenschaften gelten als die Guten auf dem Wohnungsmarkt. Doch das genossenschaftliche Grundprinzip wird in den letzten Jahren zunehmend unterlaufen.
Text: Piening, Günter, Berlin; Schrader, Irmhild, Berlin
Solidarität, Selbstverwaltung und lebenslanges Wohnrecht sind die Fundamente des genossenschaftlichen Wohnens. Genossenschaften gelten als mietpreisstabilisierend und den sozialen Zusammenhalt stärkend. Sie tragen zum Gemeinwohl bei und werden entsprechend gefördert. Sie sind von der Körperschaftssteuer befreit und Genossinnen und Genossen erhalten günstige KfW-Kredite zum Erwerb von Genossenschaftsanteilen. In vielen Städten haben Wohnungsgenossenschaften bevorzugten Zugriff auf begehrte innerstädtische, kommunale Grundstücke.
Wo Geld und Grundstücke locken, sind Trittbrettfahrer nicht weit: Unternehmen, die unter dem Titel „Gemeinwohl“ vor allem dazu dienen, Investitionen zu ermöglichen, Grundstücke zu erwerben oder alternative Renditemodelle salonfähig zu machen. Das zeigen drei aktuelle Praxisbeispiele aus Berlin: Profitorientierte Unternehmen schlossen sich 2019 zusammen und gründeten die Job & Wohnen Berlin eG, eine Genossenschaft für den gemeinsamen Bau von Werkswohnungen. Der Berliner Senat gab ihnen ein attraktives Stück Land in zweiter Reihe Wasserlage. Wohnen werden dort Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Mitgliedsunternehmen. Doch statt lebenslangem Wohnrecht und einer solidarischen Nachbarschaft bekommen sie einen Mietvertrag nach § 576 BGB, der eine Kündigung mit Monatsfrist erlaubt, wenn der Arbeitsvertrag beendet ist.
Mehr Aufmerksamkeit erregt derzeit die Debatte um eine der letzten attraktiven Innenstadtflächen in der Hauptstadt – den Molkenmarkt nahe des Roten Rathauses. Bisher war hier vorrangig geförderter Wohnungsbau durch die landeseigenen Wohnungsunternehmen vorgesehen. Der im April 2023 neu formierte CDU/SPD-Senat erklärte, die Grundstücke nun auch an „gemeinwohlorientierte“ Unternehmen wie Genossenschaften zu vergeben. Die Tinte unter dem Koalitionsvertrag war noch nicht getrocknet, da meldete sich der Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin-Brandenburg e.V. (AIV) mit der Ankündigung, eine Genossenschaft gründen zu wollen, die den Molkenmarkt erwerben will. Dass es dem AIV nicht um Schaffung preiswerten Wohnraums geht, hatte der Vorsitzende Tobias Nöfer schon im Dezember 2022 in einem Interview im Tagesspiegel in verblüffender Offenheit kundgetan. Nöfer: Die Pläne, das Quartier Molkenmarkt durch landeseigene Wohnungsgesellschaften realisieren zu lassen, seien „eine sehr schlechte Idee“. Und Sozialwohnungen für 6,50 €/m² sollten nicht in der Innenstadt, sondern auf der grünen Wiese errichtet werden.
Eine andere, mit einem leicht feministischen Anstrich daherkommende Variante dieser Neugründungen ist die Immofemme Wohnungsgenossenschaft eG. Auf deren Webseite wird allerdings nicht mit sicherem Wohnen geworben. Im Fokus steht der Vermögensaufbau von Frauen. Mit den Ein-lagen der Anteilseignerinnen (Mindestbetrag: 20.000 Euro) kauft Immofemme belegte Wohnungen. Die Anteilseignerinnen erhalten eine gute Verzinsung. Wird eine Wohnung frei, kann sie von einer Anteilseignerin übernommen oder verkauft werden.
All diese Genossenschaften verfolgen unterschiedliche Interessen, abersie haben eins gemeinsam: Sie verstoßen gegen das Grundprinzip von Wohnungsgenossenschaften – der Identität von Bewohnern und Mitgliedern. Daher gibt es in Genossenschaften im formalen Sinne keine Miete-rinnen und Mieter, sondern Mitglieder. Sie zahlen ein Nutzungsentgelt an die Genossenschaft und damit an die Organisation, deren Mitglied sie sind. Weder die Architekten des AIV noch die Unternehmer der Job & Wohnen werden in die Genossenschaftshäuser einziehen. Die Wohnungen werden an andere vermietet oder in Privateigentum umgewandelt. Diese Privatisierung von Gemeinschaftseigentum ist möglich, nachdem Ende der 1990er Jahre das Konstrukt „eigentumsorientierte Genossenschaft“ Eingang in das Genossenschaftsgesetz fand. Letztlich handelt es sich bei all diesen Unternehmen um Investmentvorhaben in der Rechtsform der Genossenschaft.
Das Grundprinzip Gemeinschaftseigentum als dritter Weg zwischen Privat- und Staatseigentum muss verteidigt werden. Das unterstrich auch die UNESCO, als sie 2016 die Genossenschaftsidee in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes eintrug. Diese Idee wird verwässert, wenn Renditeinteressen die Überhand gewinnen. Hier ist ein Kurswechsel geboten: die ursprünglichen Werte der Genossenschaftsbewegung sollten gestärkt und gleichzeitig ein klarer Trennstrich zu denjenigen Organisationen gezogen werden, die sich gegen die Prinzipien von Genossenschaf-ten richten. Auf der politischen Ebene ist eine Reform des Genossenschaftsgesetzes überfällig. Das Identitätsprinzip muss gewahrt und die „eigentumsorientierte Genossenschaft“ abgeschafft werden. Eine solche Änderung scheint allerdings so bald nicht in Sicht.
Ein näherliegender Hebel ist die Änderung der Förderpolitik. Anstatt die Rechtsform zur Grundlage einer Förderfähigkeit zu machen, muss Förderung künftig gebunden werden an Unternehmen, die eine klare Renditebegrenzung aufweisen und die ihre demokratische Verfasstheit nachweisen. Die Suche nach Verfahren, solche Kriterien zu bestimmen und zu kontrollieren, beschäftigt die wohnungspolitische Diskussion seit längerem. Einige Genossenschaften, wie die Berliner Möckernkiez eG, experimentieren mit Gemeinwohlbilanzen, um ihr Tun transparent zu machen. Auch die Planung einer „Neuen Wohngemeinnützigkeit“ auf Bundesebene reiht sich ein in diese Bemühungen, Kriterien für einen förderwürdigen Wohnungsbausektor zu erarbeiten. Die Entwicklung rund um den Molkenmarkt macht deutlich, wie überfällig solche Präzisierungen sind. Das beste Rezept gegen an der Rendite orientierte Genossenschaften ist, ihnen den Geldhahn zuzudrehen und den Zugang zu landeseigenen Grundstücken zu verwehren.
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