Gibt es demnächst ‚Neue Straßen‘? Ende eines räumlichen Dogmas
Die herkömmliche Straße ist am Kollabieren. Nicht der Dauerstau der Autos ist die Ursache – die Straße selbst steckt in einer Sackgasse. Die Klimakrise hat die Mobilitätswende weg vom Auto unausweichlich gemacht. Die Straße wird nicht verschwinden. Sie wird aber in ihrer heutigen Form in Frage gestellt durch die notwendige Gleichberechtigung anderer Fortbewegungsmittel und die Forderung, wieder ein Aufenthaltsraum für alle zu werden – die Pandemie führt die teils groteske Unwirtlichkeit der Straßen vor Augen. Das hat Folgen für den Stadtraum und birgt neue Chancen für Architektur und Städtebau.
Text: Geipel, Kaye, Berlin
Gibt es demnächst ‚Neue Straßen‘? Ende eines räumlichen Dogmas
Die herkömmliche Straße ist am Kollabieren. Nicht der Dauerstau der Autos ist die Ursache – die Straße selbst steckt in einer Sackgasse. Die Klimakrise hat die Mobilitätswende weg vom Auto unausweichlich gemacht. Die Straße wird nicht verschwinden. Sie wird aber in ihrer heutigen Form in Frage gestellt durch die notwendige Gleichberechtigung anderer Fortbewegungsmittel und die Forderung, wieder ein Aufenthaltsraum für alle zu werden – die Pandemie führt die teils groteske Unwirtlichkeit der Straßen vor Augen. Das hat Folgen für den Stadtraum und birgt neue Chancen für Architektur und Städtebau.
Text: Geipel, Kaye, Berlin
Pop-up-Räume Ästhetische Erwägungen waren in Berlin selten ein Hinderungsgrund für die Planung. Das massenhafte Aufstellen von Verbots- und Hinweisschildern im Stadtraum zum Beispiel erfolgt mit leichter Hand. Die dreispurige und für Fahrradfahrer oft lebensgefährliche Autoschneise, die Kreuzberg und Schöneberg entlang des Landwehrkanals verbindet, war während der Pandemie plötzlich von Unmengen von Schildern punktiert. Kilometerlange Reihen rotweißer Baken standen da auf meinem Weg in die Redaktion im Staccato aufgereiht. Sie grenzen rechts eine Bus- und Fahrradspur, links eine Autospur und in der Mitte einen rätselhaften Leerraum ab. Fußgänger haben von den Grenzziehungen nicht profitiert.
Berlin wurde für das schnelle Aufstellen solcher Pop-up-Fahrradwege in Coronazeiten republikweit gelobt. Einmal Vorbild sein. Zudem ein Trost nach dem endlosen Gezerre um die Umsetzung des Fahrradwegeplans, 2015 initiert, dessen Realisierung bis heute verstolpert wurde. Die Fähigkeit, erstmal zu improvisieren, ist anzuerkennen. Ein mutiger Kopfsprung der Planung in das, was heute taktischer Urbanismus genannt wird. Der Autoverkehr wird gebremst, Busse und Fahrräder können beschleunigen – mehr Gleichberechtigung. Nach einem Jahr Provisorium will man jetzt wissen: Bleibt das so? Oder gibt es auch ein Konzept für die Zeit nach der Improvisation?
Wiederentdeckung Längst hat ein epochaler Umbruch in der Wahrnehmung der Straße stattgefunden. Selbst Kenneth Frampton, der weltweit anerkannte, 90-jährige Architekturkritiker, sah sich jüngst bei einem Vortrag über sein Lebenswerk genötigt, diesen mit einer Warnung zu beschließen. Die Prinzipien der autogerechten Stadt, die bei der Verknüpfung der Stadtquartiere immer noch die institutionelle Planung bestimmen, sollten endlich entsorgt werden. Weltweit wird über die Kombination von alternativen Mobilitätsformen und neuen Typologien der Straße nachgedacht – egal ob dies top-down von den Kommunen ausgeht, die ihre großen Straßensysteme, auch Magistralen genannt, in den Fokus nehmen, wie etwa London und Hamburg (Stadtbauwelt 223.2019), ob es bottom-up auf private Initiativen von Aktivistinnen und Bewohnern zurückgeht, die sich neuralgische Verkehrsnoten vorknöpfen, oder ob sich Entwurfslehrstühle an den Hochschulen zusammenfinden, um über Alternativen zum Durchgangsverkehr vor den zu entwerfenden Häusern nachzudenken. Entscheidender Anstoß ist die Klimakrise und die toxische CO2-Produktion des Autoverkehrs. Ein grundlegender Bewusstseinswandel ist nicht zu übersehen: Die Straße, die jahrzehntelang festgefahren war in den Regularien einer normativen Verkehrsplanung, wird als gestaltbarer Gegenstand, als Raum für alle wiederentdeckt. Die Zeiten ihrer Existenz als alleinige Rennbahn des motorisierten Autoverkehrs sind vorbei.
‚Neue Straßen‘ Die bonbonfarbenen Fahrradwege, die Vorreiter-Städte in Dänemark, den Niederlanden oder China in weiten Bögen über den Asphalt der Autostraßen kurven lassen, beeindrucken. Wie mit dem Neonstift durch die Luft gezogen, wirken sie wie fröhliche Botschafter für die Null-Emissions-Mobilität. Solche bunten Luftfotos eignen sich bestens für das Stadtmarketing. Klar ist aber auch, dass die Fahrradstraße die Autostraße nicht ersetzen wird. Sollte sie auch nicht, denn das wäre dann ein neuer Funktionalismus. Es geht bei der Umwertung der Straße um einen Verfügungsraum der Stadt, der unterschiedlichen Lebensmodellen und Mobilitätsgewohnheiten endlich mehr Platz bieten muss. Die belgischen Stadtplaner Aglaée Degros und Stefan Bendiks benennen ein hochgestecktes Ziel: Dort, wo vorher Fahrbahn war, Raumgerechtigkeit über gleichwertige Raumverteilung herstellen. Die Vorbilder in den skandinavischen Städten machen deutlich, wie sehr die Straßen als multifunktionale Verkehrsadern dann auch mit den Nutzungen in den Häusern zusammengedacht werden müssen, und dass ein paar abgerockte Gartenstühle auf dem Gehweg und ein Stück grüner Rollrasen wo vorher die Autos brausten, zwar lustig, aber keine Lösung sind. ‚Neue Straßen‘, wenn man den Euphemismus einmal verwenden will, wird es nur in einem Netzwerk-Entwerfen geben, das Nachbarschaftsprogramme, kommunale Schutzmechanismen für das Gewerbe und ökologische Circular-City-Konzepte zusammenführt. An dieser Stelle berührt die Idee der Neuen Straße dann auch das Konzept der 15-Minuten Stadt, das wir in der nächsten Stadtbauwelt behandeln werden. Salvador Rueda, treibende Kraft des inzwischen zwanzigjährigen, weltweit gelobten Straßen- und Quartiersumbaus in Barcelona benennt eine Reihe von Grundfunktionen des täglichen Lebens, die in einem Umkreis von 300 bis 600 Metern Entfernung von jeder Wohnung aus zu erreichen sein müssen.
Kubistische Collagen Als universales Gliederungselement gehört die drei Meter breite, grau asphaltierte Straße mit weißen Trennstreifen in der Mitte, plus Trottoir und Fahrradspur an den Rändern, der Vergangenheit an. Die Beispiele in diesem Heft machen deutlich: Es wird künftig kein uniformes Konzept der Straße mehr geben. Wenn man es in ein Bild fassen will, dann wird die Neue Straße einer kubistischen Collage gleichen. Mehrere Mobilitätsformen nebeneinander beanspruchen eigene Profile: die Fahrradwege zeigen sich in rotem oder blauem Epoxidharz, die regenwasserdurchlässigen Bereiche in pflanzlichem Grün, die Flächen für die Fußgänger – wie in Barcelona – in sicherheitswirksamem knalligem Gelb. Dazu viel Holz für die Sitzbänke. Die Konsequenzen solch vielfältig zusammengesetzter Straßenprofile, die uns die kommenden Jahre beschäftigen werden, sind noch nicht abzusehen. Harmonie ist nicht zu erwarten: Die Auseinandersetzung um gleichwertige Raumverteilung wird zu Konflikten führen, wie es das Beispiel Hamburg Ottensen zeigt. Eine weitere Nutzergruppe ist zu erwähnen: Die Fußgänger – so unser Eindruck bei der Vorbereitung dieses Heftes – wurden in der Debatte um die Verkehrswende bisher vernachlässigt. Die Lobby der Fahrradfahrer ist jünger, lauter und wirkmächtiger. Bei solchen Konflikten ist die Kompetenz der Planenden gefragt: Die Fußgänger sind der entscheidende Link in die Erdgeschosszonen, die sich mit dem Wandel der Straße ebenfalls verändern werden: Das Raumkontinuum Erdgeschoss–Hauseingang–Trottoir wird künftig viel mehr Alternativen bieten, wie jüngst ein Wettbewerb in Barcelona deutlich machte.
Nicht verspielen: frei werdende Raumressourcen Straßenbilder verändern sich nur langfristig. Hamburg hat mit der Debatte über die Zukunft der städtischen Magistralen vor zwei Jahren angefangen und mit Wettbewerben zum Verkehrskreuz Berliner Tor weitergemacht. Der Umbau der autogerechten Verkehrsanlagen der Sechzigerjahre bietet viel von der kostbarsten Ressource der Stadt: dem städtischer Boden. An vielen Stellen blühen schon heute die Immobilienphantasien für diese meist innerstädtische Wertschöpfung in bester Lage: Stadtautobahnen abreißen und durch lukrative Wohnbebauung ersetzen – ein vielversprechendes Spekulationsgeschäft tut sich auf. Die frei gewordene Raumressource darf aber nicht im Gegengeschäft für Vorleistungen bei der Transformation der Straße verscherbelt werden. So wichtig der Rückbau der überdimensionierten Stadtautobahnen ist, der Abriss bestehender Verkehrstrukturen ist nicht das Wichtigste, weil viel zu teuer. Eher geht es um neue Strategien des Überbauens, des Unterbauens und des Anverwandelns wie beim Österreichischen Platz in Stuttgart. Vor allem: Die Neue Straße ist keinesfalls nur eine Aufgabe der Großstadt. Sie ist genauso ein Thema der kleinen und mittelgroßen Städte, der ländlichen Räume und der Peripherie der Großstädte, die mit ihr verknüpft sind. Kristiaan Borret, der Brüsseler Stadtbaumeister, hat seine Recherche als Suche nach der ‚normalen Straße‘ beschrieben. Es braucht viele Hunderte solcher geduldigen Projekte, die aufzeigen, wie Straße wieder zu einem öffentlichen Raum werden kann.
0 Kommentare