Öffentlich-private Quartierswiederbelebung
Ein Blick nach Paris, das immer noch wesentlich stärker durch Einzelhandel und Kleingewerbe geprägt ist als andere Metropolen: Mit der Agentur Semaest mischt auf dem dortigen Markt für Geschäftslokale seit vielen Jahren ein halb städtisch, halb privatwirtschaftlich organisierter Mitspieler mit, dessen Geschäftszweck nicht die Gewinnoptimierung, sondern der Erhalt kleinteiliger Strukturen ist.
Text: Kabisch, Wolfgang, Paris
Öffentlich-private Quartierswiederbelebung
Ein Blick nach Paris, das immer noch wesentlich stärker durch Einzelhandel und Kleingewerbe geprägt ist als andere Metropolen: Mit der Agentur Semaest mischt auf dem dortigen Markt für Geschäftslokale seit vielen Jahren ein halb städtisch, halb privatwirtschaftlich organisierter Mitspieler mit, dessen Geschäftszweck nicht die Gewinnoptimierung, sondern der Erhalt kleinteiliger Strukturen ist.
Text: Kabisch, Wolfgang, Paris
Paris ist eine Schnecke. Nicht, weil die Stadtverwaltung so langsam arbeitet, sondern weil sich seine Bezirke aneinanderreihen wie auf einem Schneckenhaus. Von 1 bis 20. Im Uhrzeigersinn. Dabei ist jeder Bezirk, jedes Arrondissement, anders. Größe, Architektur, Lebensart der Bewohner und so weiter unterscheiden sich deutlich. Standardisierte Fußgängerzonen mit uniformen Ladenketten sind hier seltener als in anderen Metropolen. Einzelhandel und Kleingewerbe sind in Paris häufig noch bunt durchmischt. Sie bestimmen die Identität der Bezirke und ihrer Viertel in hohem Maße. Die Schnecke lebt.
„Semaest“ heißt eine Gesellschaft, die sich inzwischen seit 30 Jahren mit verschiedenen Programmen dem Wohlergehen dieses fragilen Organismus widmet. Sie ist eine von mehreren Stadtentwicklungsgesellschaften, denn auch an Paris gehen die bekannten Konzentrationsprozesse, Immobilien- und Kapitalinteressen keinesfalls spurlos vorbei. Halb städtisch, halb privatwirtschaftlich organisiert (Société d’économie mixte – Public-Private Partnership) ist Semaest im Laufe der Zeit zu einem wirkungsvollen Instrument der Stadt bei der Belebung und Wiederbelebung prekärer Viertel geworden. Programmatisch setzt Semaest beim Einzelhandel an.
Nach ersten Erfolgen mit Sanierungsprogrammen im Osten von Paris hat die Stadt die Gesellschaft mit vielen Eingriffen in beinahe allen Arrondissements beauftragt. Unter dem Titel „Vital’Quartier“ wurden – in einer ersten Welle ab 2004 und einer zweiten ab 2008 – inzwischen gut 650 Projekte von der Gesellschaft betreut, die den Einzelhandel und das Kleingewerbe in den Stadtvierteln unterstützen und für die Bewohner „peu à peu“ die Einkaufsmöglichkeiten in der Nachbarschaft verbessern.
Das Ergebnis ist bemerkenswert. Der Leerstand von Ladenflächen ist zwischen 2004 und 2017 in den betreuten Gebieten um 25 Prozent, der Anteil von Großhändlern um 49 Prozent zurückgegangen. Dieser Rückgang ist angesichts ausufernder Mono-Aktivitäten – beispielsweise im 12. Bezirk (Informatik) und im 10./11. Bezirk (Textilgroßhandel) – erklärtes Ziel im Sinne der Lebensqualität der Bewohner. Der Lebensmitteleinzelhandel hat dagegen um 38 Prozent zugenommen, und das Dienstleistungsangebot im regionalen Bereich ist um über zwölf Prozent gewachsen. Das kommt ebenfalls den Anwohnern zugute. Mit einer dritten Auflage von „Vital’ Quartier“ soll das Programm auch 2021 fortgesetzt werden. Immer nach dem Leitmotiv: Wenn man fünf Prozent aller Geschäfte in einem Viertel revitalisiert, saniert man damit das gesamte Viertel.
Konkret funktioniert das Modell von Semaest nach folgendem Prinzip:
1. Die Gesellschaft kauft leer stehende Geschäftsräume auf der Basis des Vorkaufrechts, das ihr von der Stadt übertragen wird.
2. Sie renoviert die Geschäfte nach den technischen Normen und Anforderungen des Einzelhandels.
3. Die fertigen Räume werden über das Internet angeboten.
4. Interessenten bewerben sich um einen Mietvertrag bei Semaest, der dann für 3/6/9 Jahre gilt – also alle drei Jahre kündbar ist.
5. Semaest sucht die Kandidaten nach eingehender Beratung und Prüfung aus. Der Vertrag beinhaltet eine 3-Monats-Kaution. Darüber hinaus sind weder eine Bürgschaft noch eine Abstandszahlung (wie sonst in
Paris üblich) nötig.
Paris üblich) nötig.
Die Finanzierung des aufwendigen Programms läuft zunächst über den Haushalt der Stadt Paris. Sie vergibt an Semaest Kredite, die am Ende der Laufzeit des Programms zurückgezahlt werden müssen. Für 2004–2015 (Vital’Quartier 1) waren das 58 Millionen Euro, für 2008–2021 (Vital’ Quartier 2) 34 Millionen Euro und für 2021 (Vital’Quartier 3) sollen es 38 Millionen Euro werden.
Semaest erzielt die notwendigen Einnahmen aus Mieten und dem Weiterverkauf der renovierten Läden an die Mieter oder städtische Tochtergesellschaften. Mit einer Ausnahme: Im Quartier Latin, dort, wo es bei der Revitalisierung um Buchläden und Galerien geht, sichert sich die Stadt zum Ende des Projektes das Eigentum selbst. So wird der Charakter des Viertels langfristig erhalten. Das ist zumindest die Absicht.
Neben dem reinen Immobilienangebot unterstützt Semaest seine Mieter mit einer Reihe von Fortbildungsmaßnahmen, Untersuchungen zur Rentabilität, Erleichterungen bei einer Kreditaufnahme etc. bis hin zu dem Programm CoSto (Connected Stores), mit dem Semaest eine digitale Plattform zur Verfügung stellt, über die bereits 1400 Geschäfte miteinander vernetzt sind. Neue Ideen für den Einzelhandel von morgen sollen schließlich nicht am Laden an der Ecke vorbeigehen.
Wer sich nach dem Studium des differenzierten Angebots immer noch nicht sicher ist, ob er dem Ganzen trauen kann oder ob seine eigene Geschäftsidee tragfähig ist, auch für den hat Semaest einen Vorschlag: Warum nicht einen Laden zur Probe mieten, bevor man sich in das Abenteuer eines langfristigen Mietvertrages stürzt? „Testeur“ heißt das Programm. Es besteht aus jeweils einem Ladengeschäft, dem „Testeur de Commerce“ im 10. und 11. Bezirk von Paris. Den kann man für eine Dauer von vier Wochen bis zu vier Monaten mieten und unter Realbedingungen ausprobieren, wie man sich zum Beispiel präsentiert.
Natürlich kommt der Erfolg dieser Pariser Unternehmung nicht von ungefähr. Es ist das funktionierende Zusammenspiel zwischen den über 60 Angestellten von Semaest und den einzelnen Dezernatsmitarbeitern derStadt sowie deren politisch Verantwortlichen, woraus das notwendige Potenzial entsteht. Ein positives Beispiel für Public-Private Partnership.
Dazu kommt ein politischer Wille, der bis auf die Zeit von Bertrand Delanoë zurückgeht, der Anfang der 2000er Jahre Bürgermeister von Paris war. Dessen damalige Dezernentin für Stadtentwicklung hieß Anne Hidalgo – und die ist die gerade in ihrem Amt bestätigte derzeitige Bürgermeisterin. Paris lebenswerter zu machen und den Anschluss an die Zukunft wiederherzustellen, das ist ihr häufig angefeindetes Programm. Man kann Semaest durchaus als eine Frucht dieser Delanoë/Hidalgo-Politik bezeichnen, die man nun – weit über die Stadtgrenzen hinaus – anfängt wahrzunehmen.
La Station Lebensmittel ohne Abfall 69, rue de Maubeuge, 75010 Paris
„Die Idee, einen Laden aufzumachen, entstand zu der Zeit, als ich mich näher mit Ökologie und der Vermeidung von Abfall beschäftigt habe. Nach der Handelsschule hatte ich fünf Jahre lang für ein großes Unternehmen im Bereich Marketing gearbeitet. Doch da war mir die Arbeit am Ende nicht konkret genug. Bei vielen Themen, die mir wichtig waren, konnte ich dort nichts bewegen. Und weil ich noch jung bin, habe ich mir das unternehmerische Wagnis zugetraut, mit einem neuen Verkaufsmodell konkret Einfluss auf unseren Alltag zu nehmen.
In Paris gab es keine Geschäfte für den täglichen Bedarf, in denen man verpackungsfrei oder besonders umweltfreundlich einkaufen kann. Also lag die Idee nahe, es mit einem Geschäft in irgendeinem Pariser Stadtteil zu versuchen. Und dort den potentiellen Kunden Lebensmittel direkt als Schüttgut anzubieten. Gute nachhaltige Produkte mit Null-Abfall also.
Bei der Suche nach einem Standort stieß ich im Internet auf die Website von Semaest. Die sind gut referenziert. Ich habe gesehen, was sie anbieten, und dann mein Projekt mit ihnen besprochen. Kurze Zeit später meldeten sie sich bei mir zurück und fragten, ob ich an einem bestimmten Laden interessiert wäre. Der war an einer Stelle, die ich bereits auf ihrer Website gesehen hatte und die eine meine Favoriten war.
Semaest funktionieren so, dass sie ihre Vorschläge sehr spezifisch in Bezug auf die Art der Projekte der Bewerber machen. Zum Beispiel bieten sie das 19. Arrondissement eher für Kunsthandwerk an. Hier im 10. Bezirk wollen sie Lebensmittelgeschäfte und im 5. zum Beispiel einen Buchladen. Sie versuchen, ein Gleichgewicht zwischen ihren Vorstellungen, was gut für welchen Stadtteil wäre, und den Wünschen der Bewerber zu finden.
Bei der Miete liegt Semaest unter den Preisen des privaten Immobilienmarkts. Außerdem muss man keinen Abstand zahlen! Das ist ein großer Vorteil. Darüber hinaus bieten sie einen Beratungsservice an. Insgesamt ergibt das nicht nur einen sehr fairen Preis, sondern schafft ein Vertrauensverhältnis, das den Absprung in ein neues Leben erleichtert. Wie gut das funktioniert, kann ich in diesen Viruszeiten mit zwei Lockdowns noch nicht sagen.“ Amélie Meppiel
La Tonkinoise Schmuckherstellung und -verkauf 80, rue Jean-Pierre Timbaud, 75011 Paris
„Meine Schmuckmarke La Tonkinoise gibt es jetzt gut zehn Jahre. Die ersten fünf Jahre habe ich meine Arbeiten auf Pariser Märkten verkauft, auf denen Mode und Design angeboten wird. Parallel war ich mit meinem Schmuck auch auf den internationalen Pariser Großhandelsmessen Première Classe und Bijorhca. So habe ich mir einen Stamm von Kunden aufgebaut, denen ich irgendwann gerne eine feste Adresse anbieten wollte, unter der sie mich das ganze Jahr über finden können.
Um geeignete Geschäftsräume zu finden, habe ich angefangen, über Zeitungsanzeigen zu suchen und auch gut 20 Angebote besichtigt. Das war erfolglos. Dann bin ich bei den sogenannten Ateliers von Paris, wo die Stadt jungen Designern praktische Anregungen durch Gespräche mit Unternehmern, Anwälten oder Steuerberatern gibt und die mit Semaest verbunden sind, auf dieses Angebot der Stadt Paris gestoßen. Semaest hat mich interessiert, weil sie eigene, seriöse Immobilienangebote machen, die Stadtteile gut kennen und das kommerzielle Leben in den Vierteln beleben wollen. Deshalb vermieten sie günstig und haben keine Abstandsklauseln. Woanders in Paris muss man oft 30 oder 50 Tausend Euro investieren.
Dieser Laden hier erlaubt mir nun beides: an Einzelpersonen zu verkaufen und zur Zeit der Pariser Modewochen einen Showroom zu betreiben, ohne irgendwo extra einen teuren Stand mieten zu müssen. Außerdem habe ich jetzt hier auch Platz, meinen Schmuck herzustellen.
Bei den Bewerbungsbedingungen stellt Semaest hohe Anforderungen an Finanzierungsplan, zu erwartende Umsätze, Konzept etc. Man muss eine umfangreiche Akte vorlegen, um zu belegen, dass das Projekt Chancen hat. Das zwingt einen, sich alles noch einmal genau zu überlegen.
Semaest prüft die Anträge sehr genau, weil es auch in ihrem Interesse liegt, dass die Räumlichkeiten gut genutzt werden und ein Gewinn für das Viertel sein können.
Es ist jetzt sechs Jahre her, dass ich die Räumlichkeiten übernommen habe, und die Gegend hat sich inzwischen sehr zum Guten verändert. Mit Corona ist es jetzt natürlich ruhiger geworden. Aber Semaest hat mir bei dem ersten Lockdown einen dreimonatigen Mietverzicht gewährt. Das ist eine große Hilfe. Viele Händler hier haben keinen Mietverzicht.“ Chantal Manoukian
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