Sichtbare Geschichte
Neri&Hu bei Aedes in Berlin
Text: Kögel, Eduard, Berlin
Sichtbare Geschichte
Neri&Hu bei Aedes in Berlin
Text: Kögel, Eduard, Berlin
An einem Shanghaier Eckhaus aus den Dreißigerjahren, das die japanische Armee während des Zweiten Sino-Japanischen Krieges (1937–1945) errichtete, setzte das Büro Neri&Hu 2010 neue Standards für den Umgang mit dem Bestand. Das Gebäude liegt am South Bund, nur durch eine Straße vom Huangpu-Fluss getrennt. Der ehemalige Betonskelettbau wurde mit einer eingeschossigen Aufstockung in ein viergeschossiges Hotel mit 19 Zimmern umgebaut. Bei der Renovierung und den Interventionen setzten die Architekten auf den maximalen Kontrast zwischen dem Bestand und den neuen Elementen. Die Aufstockung ist mit Cor-Ten-Stahl verkleidet, der an den ehemals industriellen Charakter der Gegend erinnern soll. Der Hotelgast befindet sich in einer Inszenierung, die über Material- und Oberflächenkontraste ein Narrativ entwickelt, das es so bis dahin in China noch nicht gegeben hatte.
Ein ähnliches Projekt wurde 2021 in der südchinesischen Metropole Shenzhen fertiggestellt. Hier bauten die Architekten einen neungeschossigen, mit Fliesen verkleideten Wohnturm in das Nantou City Guesthouse um, bei dem die äußere Hülle weitgehend erhalten blieb und nur durch leichte transluzente Bänder horizontal gegliedert wurde. Die in archäologischer Manier durchgeführte Freilegung rauer Betonstrukturen und die minimalistische Möblierung schaffen eine Atmosphäre, die vermutlich vor allem für Hipster eine große Anziehungskraft entwickelt.
Jedes der derzeit unter dem Titel Reflective Nostalgia im Aedes-Architekturforum ausgestellten Projekte entfaltet über die Präsentation mit Fotografien, Filmen und vor allem detaillierten Modellen einen faszinierenden Einblick in die Haltung des Büros. Zu sehen sind neben den genannten Bauwerken zum Beispiel ein Teehaus in Fuzhou, in dem sich das Holzskelett eines traditionellen Pavillons wiederfindet, die Sanierung eines Backsteinbaus in Shanghai, eine Kapelle in Suzhou, der Neubau eines Wohnhauses in Singapur oder die erste Whisky-Destillerie in China.
Neri&Hu haben ein Faible für Ruinen: Sie nähern sich ihren Projekten über den Bestand, über die Nutzung historischer Versatzstücke. Die Materialität der Oberflächen ist so gewählt, dass Alterungspuren als Teil eines wachsenden Organismus verstanden werden. Das Büro will Geschichtlichkeit jenseits von Denkmalpflege in einen neuen Ausdruck für ein zeitgenössisches Lebensgefühl im 21. Jahrhundert einbinden.
Ihr Büro gründeten Lyndon Neri und Rossana Hu 2004 in Shanghai. Heute haben sie Zweigbüros in London, Paris und Mailand. Zur Ausstellung, die noch bis zum 30. November läuft, erschien ein Katalog in Fadenheftung – nicht zuletzt damit dokumentieren die Architekten, dass ihr Ansatz weit über die Architektur hinausreicht.
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