Steiners Postauto
Eine Bildgeschichte
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Steiners Postauto
Eine Bildgeschichte
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Eine durchaus persönliche, ja autobiographische Geschichte über das Leben im Engadin und Fotos davon, geschrieben vom 2019 verstorbenen Schweizer Architekten Marcel Meili – für alle, die sich mit den Gebäuden seines Büros Meili & Peter beschäftigt haben, liegt das Interesse an dieser Publikation auf der Hand. Auch Menschen mit einer Bindung an die Schweiz im Allgemeinen und das Engadin im Besonderen dürften interessiert zu diesem Buch greifen. Doch ist der Kreis, in den hinein sich eine Empfehlung sprechen lässt, weit größer. Mich hat sein Ausgangspunkt zum Lesen gelockt: eine Fotografie von Albert Steiner, um 1930 aufgenommen, die einen offenen Postbus „ob Silvaplana“ zeigt, eines jener langhaubigen Gefährte, wie sie bis in die 50er Jahre ähnlich auch auf Deutschlands Straßen für den Personen-, Post- und Gütertransport eingesetzt wurden.
Kann es gelingen, anhand eines einzigen Fotos eine ganze Kulturgeschichte zu erzählen? Oder wenigstens einen relevanten Ausschnitt daraus? Erfolg wie Misslingen eines solchen Unternehmens hängen wohl sehr von der Aufnahme ab, ebenso aber vom Betrachter; davon, welches Wissen er mitbringt, im Moment, da er das Foto zur Hand nimmt, und wie genau er es betrachtet, was er sieht und welche Fragen das in ihm keimen lässt. Marcel Meili ist dieses Unterfangen gelungen. Meili hatte das Foto einst als Geschenk für seinen Vater ausgewählt, der Anfang der 60er Jahre ein Ferienhaus im Engadin erbaut hat, sodass Marcel Meilis Leben eng mit der Region verwoben war. Seine Vertrautheit mit den Landschaftsfotografien von Albert Steiner, die dieser in den 20er und 30er Jahren angefertigt hat, führte ihn zu der Geschenkidee; das schließlich in einer Zürcher Galerie ausgewählte Bild aber ist insofern ein spezielles Motiv, als die Insignien der Moderne, die spätestens mit dem Ausbau der Julier-Passstraße kurz vor dem Zweiten Weltkrieg auch das Engadin erreichen sollten, in Steiners Bildwelt eher eine Nebenrolle spielen. Warum also hat Steiner dieses Bild gemacht? Was zeigt es eigentlich, außer dem Postbus und dem Dorf dahinter? Lässt es sich vielleicht doch genau datieren?
Beim Brüten über diesen Fragen, beim Nachrecherchieren in Archiven, bei Postauto-Nerds und in unterschiedlichen Fachmedien der 30er Jahre erhellte sich für Meili mehr und mehr das Panorama, das in dieser Aufnahme eingefangen worden ist: „Mit der Zeit wurde klar, dass ausgerechnet der Landschaftsfotograf Albert Steiner, der meist ins 19. Jahrhundert zurückgeblickt hat, über diesen Auftrag und seine Ergebnisse zum aktiven Teilnehmer an einem besonders bewegten Abschnitt in der Technik- und Tourismusgeschichte der Alpen im 20. Jahrhundert geworden ist.“ Ein Abschnitt, der den Leser mitnimmt auf eine Reise durch die Urbanisierung der Alpen, vom Tennis-Saal im Hotel Palace in St. Moritz über die Brücken Maillards und Menns zur Gestalt der Radnaben an den Saurer-Bussen der 20er Jahre bis zur Analyse „Die Schweiz – ein städtebauliches Porträt“ des Studio Basel 2005, an dem Meili selbst mitwirkte. Dass diese Geschichte über weite Strecken außerordentliches Lesevergnügen bietet, macht die Empfehlung perfekt.
Marcel Meili hatte der Veröffentlichung seines Manuskripts in Buchform noch kurz vor seinem Tod zugestimmt. Ein Glück für alle an der europäischen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts Interessierten.
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