Werte bauen
- Interview: Florian Thein
- Fotos: Frank Peterschröder
Im luxemburgischen Kanton Capellen entsteht derzeit ein Schulcampus nach Plänen des Atelier d’Architecture et de Design Jim Clemes. Die Bildungseinrichtung umfasst Vor- und Grundschule, Räume zur Früherziehung sowie eine Nachmittagsbetreuung. Der Campus Capellen möchte sich seinem direkten Umfeld öffnen – die angeschlossene Sporthalle kann auch für außerschulische Veranstaltungen genutzt werden. Die Architekten sehen in ihrer Arbeit eine hohe soziale Verantwortung gegenüber den zukünftigen Nutzern, was sich nicht zuletzt in einer sehr bewussten Wahl der Materialien äußert.
Ihr Portfolio ist von einer großen Vielfalt geprägt. Würden Sie ihre Arbeit einem bestimmten Stil zuordnen?
Jede Bauaufgabe erfordert eine genaue Auseinandersetzung mit dem Ort, mit der Jim Clemes:Zeit, mit dem Programm und den individuellen Anforderungen des Auftraggebers. Daraus ergibt sich eine bestimmte Sprache. Meines Erachtens kann das nicht immer die gleiche sein. Stil hat nur bedingt etwas mit den Bedürfnissen des Nutzers zu tun. Unsere Arbeit besteht darin, diese Bedürfnisse zu verstehen und die richtige Antwort darauf zu entwickeln. Wir haben uns mit verschiedensten Bauaufgaben beschäftigt und unsere Architektur immer wieder auf die spezifischen Anforderungen eingestellt.
Sie beschreiben ihre Arbeit auch als eine Verbindung von Bau und Kunst.
JC: Kunst ist leider nur ein sehr kleiner Teil des Architekturprozesses. Für mich hat das hauptsächlich mit einer Vermittlung von Werten zu tun. Im Sinne von Kunst sind das Werte wie Schönheit und Ästhetik – Werte die für ein Verständnis von Nachhaltigkeit stehen. Wir fahren regelmäßig nach Sienna, obwohl sich dort in den letzten 500 Jahren nicht viel geändert hat. Es ist aber immer wieder reizvoll, sich die Stadt anzuschauen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Das ist für mich ein Beispiel, wie wichtig Schönheit und Form in unserer Arbeit sind. Diese mit den Bedürfnissen des Nutzers und den Gegebenheiten zu kombinieren, das eigentlich Unvereinbare in Einklang zu bringen – und darüber hinaus, dem Nutzer ein paar Dinge bieten zu können, die er vielleicht erst entdeckt, wenn er das Gebäude über einen längeren Zeitraum benutzt: Das ist der Ansatz, den wir verfolgen.
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Perspektive des Campus Capellen, der auch außerhalb der Schulzeiten genutzt werden kann.
Wie kam es zum aktuellen Projekt Campus Capellen?
JC: Es handelte sich um einen Folgeauftrag. Dem Campus Capellen ging ein Schulcampus voraus, den wir an einem anderen Ort für die gleiche Gemeindeverwaltung realisiert hatten. Jener Campus in Mamer wurde von uns nach dem Wettbewerbsgewinn 2001 über zehn Jahre realisiert. Die Nutzer haben ihn sehr gut angenommen und er konnte regional exemplarische Wirkung entfalten, weshalb die Gemeindeverwaltung uns dann mit dem Campus Capellen beauftragt hat.
Wo lagen die Herausforderungen beim Entwurf?
JC: Den Schulcampus in Mamer konnten wir auf einem Gelände von rund sieben Hektar, in relativ lockerer, erweiterbarer Bebauung entwickeln. In Zusammenarbeit mit den Landschaftsarchitekten ist so ein richtiger Park entstanden. Beim Campus Capellen waren die gleichen räumlichen Qualitäten sowohl innen wie außen in einen wesentlich kompakteren, nicht einmal einen Hektar großen, städtischen Raum umzusetzen. Das hieß, schulische und außerschulische Aktivitäten auf einem sehr kompakten Gelände zusammenzuführen und daraus eine Sprache zu entwickeln, die im nachbarschaftlichen Kontext funktioniert. Beim Umfeld handelt es sich hauptsächlich um freistehende Häuser, eine sehr niedrige Bebauung, aber trotzdem sehr städtisch.
Wie wurde das strukturell gelöst?
JC: Der Baukörper bietet der umliegenden Bebauung ein selbstbewusstes Gegenüber, passt sich in der Höhe aber maßstäblich an. Das Volumen ist, ähnlich einer Skulptur, den Funktionen entsprechend geformt. Der Neubau bildet ein U, das die Pausen- und Freiräume der Früherziehung und der Vorschule dreiseitig umschließt und von der Straße abtrennt. Der Schulhof der Grundschule befindet sich im Norden des Grundstücks und wird durch die Sporthalle und die Nachmittagsbetreuung eingerahmt, die in L-Form an das U gesetzt sind. Man erreicht so eine gleichzeitige Überlagerung und Trennung der Schulhofbereiche, damit jeder den Raum hat, den er braucht, um sich frei entfalten zu können. Die Sportinfrastruktur ist uns sehr wichtig, da sie eben nicht nur für die Schule, sondern auch für außerschulische Veranstaltungen örtlicher Vereine genutzt werden kann. Der Campus ist so die ganze Woche über belebt.
„Das Volumen ist, ähnlich einer Skulptur, den Funktionen entsprechend geformt."
Jim Clemens
Als Fassadenmaterial haben Sie einen Backstein gewählt ...
JC: ... wie auch schon beim Campus in Mamer. Diese Entscheidung hat zum einen geschichtliche Hintergründe – beide Orte liegen an einer alten Römerstraße, die vom französischen Reims über Arlon und Luxemburg nach Trier verlief. Genau an dieser Verkehrsachse befinden sich die beiden Campusstandorte. In der Nähe von Mamer wurden sogar historische Öfen gefunden, mit denen einst Tonwaren und Ziegel hergestellt worden waren. Zum anderen ist Ziegel für mich einfach die beste Wahl für ein Gebäude das gut altern können muss. Bei dem, was eine Schule im Laufe der Zeit über sich ergehen lassen muss, sind Putze meines Erachtens ungeeignet.
Warum haben Sie sich für eine graue Färbung entschieden?
JC: Wir wollten eine Farbigkeit, die sich verstärkt mit dem Thema Urbanität auseinandersetzt. Das ist besonders im Hinblick auf die aktuelle Stadtentwicklung zu sehen. Der Kern der Stadt Luxemburg ist in seiner Ausdehnung limitiert, ihr äußerer Ring wird von kleineren Ortschaften gebildet. Diese befinden sich allerdings im Umbruch und sind auf dem Weg von Dörfern zu Kleinstädten. Sie stärken den Stadtkern. Wir haben deshalb eine Farbe gewählt, die für uns mit Stadt zu tun hat, weil wir ein Gebäude konzipieren wollten, das Motor dieser städtischen Entwicklung ist.
Sie geben das Goethezitat „Gebt euren Kindern Wurzeln und Flügel“ als leitendes Motiv beim Campusentwurf an.
JC: Die angesprochene Dauerhaftigkeit des Materials ist in diesem Sinne mit dem Wurzelmotiv verknüpft. Es handelt sich um eine Verankerung am Ort. Diese ist aber auch mit einer gewissen Leichtigkeit verbunden: Man kann effektiv auf diese Fundamente aufbauen, letztendlich aber auch davon abheben. Es ist unser Wunsch, dass die Schule mehr sein sollte als die Summe ihrer einzelnen Teile. Der Bildungsort sollte als ein sehr starkes Element empfunden werden, zu dem man gerne geht. Wenn wir durch die Architektur dazu beitragen können, dass die Kinder mehr Lust am Lernen haben, ist das ganz fantastisch.
Ingbert Schilz: Wir wollten etwas mit einer interessanten Haptik schaffen, etwas, das Oberflächen und Kanten zeigt. Dazu gehört auch das Aufzeigen von Lösungen, die anders sind als die Erwartungen, die im positiven Sinne Irritationen erzeugen und so Denkanstöße geben. Die Schule soll zu jedem Zeitpunkt und an jeder Stelle ein Lernort sein. Ob das der Schulhof ist, das Treppenhaus oder der Flur. All das muss räumliche Qualitäten mitbringen, die eine Möglichkeit zum Austausch und zum Lernen darstellen.
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Jim Clemes (links) und Ingbert Schilz (rechts).
Die soziale Verantwortung ist also ein maßgeblicher Bestandteil ihrer Arbeit.
IS: Ich glaube, neben dem handwerklichen, neben dem Bauen ist es unsere Aufgabe, Orte zu schaffen, die eine positive Grundeinstellung hervorbringen. Eine Einstellung, die sich später auch im Arbeitsleben fortsetzt und weitergegeben wird. Wir müssen hier Verantwortung übernehmen und uns beispielsweise bei der Materialwahl die Frage nach einem sinnvollen Umgang mit Ressourcen und einer möglichen, späteren Entsorgung stellen. Das heißt für uns, Bauchemie wie Schäume und ähnliches zu vermeiden und von außen nach innen durchgehend emissionsfreie, langlebige Materialien zu verwenden. Auch das verstehen wir als Wertevermittlung den Kindern gegenüber, sozusagen einen Gegenpol zur Wegwerfgesellschaft zu bilden, in der alles nur zeitlich begrenzt benutzt wird.
JC: Ich bin kein Freund von Wärmedämmverbundsystemen, weil sie auch bei der Demontage eines Objektes unwahrscheinliche Probleme verursachen. Man weiß ja heute noch nicht, wie sich die Dämmkerne über einen längeren Zeitraum verhalten werden. Der Ziegel ist etwas, mit dem ich groß geworden bin- ein Material, dass ich im Laufe der Zeit genau beobachten konnte: wie es altert, wie es sich anfühlt, seine haptischen Qualitäten. Der Backstein ermöglicht, etwas zu bauen, das späteren Generationen, sollten sie einmal das Gebäude abtragen müssen, nicht mehr Probleme als unbedingt nötig beschert.
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Probemauerung: Ziegel ist für die Architekten ein Material, das in Würde altert.
Bringt dieser hohe Anspruch an die Materialität nicht oft auch Mehrkosten mit sich?
JC: Ich bin überzeugt, das es nicht unbedingt teurer werden muss. Es kommt auf eine intelligente Planung an. Bei der Bauteilfügung muss man sich entsprechende Technologien und Bausysteme zu Nutze machen.
IS: Zum Glück gibt es da mittlerweile auch ein Umdenken. Die öffentliche Hand hat durchaus den Anspruch, durch einen vernünftigen Umgang mit Ressourcen und Material bei ihren Gebäuden Verantwortung zu zeigen. Hier wurde aus der Vergangenheit gelernt. Der Einsatz bestimmter Materialien an Bauten der sechziger und siebziger Jahre hat längerfristig hohe Kosten verursacht.