Anspielungsreiche Hülle
- Autor: Enrico Santifaller
- Fotos: Barbara Staubach, Gerhard P. Müller
Städtebaulich gesehen steht die neue Mensa der Louise-von-Rothschild-Schule im Schatten des mächtigen Schulgebäudes. Doch mit der schwarzen Klinkerverkleidung, der hohen Detailqualität und dem subtilen Ornament gewinnt der Rechtkant eigenständige Kraft, die Gegenwart und Historie verbindet. Die Architekten Kristin Dirschl und Matthias Federle wissen ökonomisches Bauen mit einem hohen Gestaltungwillen zu verknüpfen, der die Freude am Frischen und Fröhlichen mit einschließt.
Das von außen nahezu nicht wahrgenommene Quartier zwischen der Straße „Im Prüfling“ im Osten und dem Günthersburgpark im Westen ist eines der architektonisch Interessantesten in Frankfurt am Main. Reformarchitektur überlagert sich mit Jugendstil, der wiederum von expressiver Architektur durchsetzt ist. Am Rande des Günthersburgparks präsentiert sich die 1905 fertiggestellte Louise-von-Rothschild- Realschule wie eine steinerne Synopse ihrer architektonischen Umgebung: äußerst zurückhaltend, aber mit Raffinesse geschmückt, mit einem mächtigen, über drei Geschosse ragenden grauschindeligen Dach und einem breiten Zwerchhaus; ein Bau, der zentral auf dem Schulhof thront, oder wie Kristin Dirschl sagt, „einen solitäreren Solitär kann man ja kaum bauen“. Doch die Frankfurter Architektin musste mit diesem Gebäude, „das jedes kleinere Gebäude an die Wand bläst“, umgehen. Sie und ihr Partner Matthias Federle wurden vom städtischen Hochbauamt mit der Aufgabe betraut, eine Mensa für die Realschule zu planen. Ein kleineres Volumen also.
Da die Architekten ein Faible für feine Stoffe haben, kam die Idee auf, ein Rautenmotiv wie eine textile Hülle um die Mensa zu spannen.
Es ist nicht allzu viel verraten, wenn man den Architekten attestiert, reüssiert zu haben. Ihr knapp 40 m langer und über 10 m breiter Rechtkant wird weder an die Wand noch sonst wohin geblasen. Im Gegenteil: Er kann sich äußerst gut behaupten, er steht wie dem Boden entwachsen da – und wird von den Schülern auch noch angenommen. Das liegt an der städtebaulich genau richtigen Platzierung: Die Schulmensa bildet die nördliche Begrenzung des Schulhofs. Das liegt aber auch an der Entscheidung, einen Geländeversprung auszunutzen, so dass die Mensa wie die Verlängerung der Gartenarchitekturen des Parks wirkt und zu den relativ niedrigen Pavillons des „Luisenhofes“ vis-à-vis vermittelt, des ebenfalls nach Louise von Rothschild benannten Verwaltungssitzes der Frankfurter Entsorgungsbetriebe. Und es liegt an dem gekonnten Umgang von dirschl.federle_architekten mit Material und Farbe, mit der Fassade und einem rautenförmigen Dekor, das ebenso subtil wie beziehungsreich an Traditionslinien anknüpft und eine Neuinterpretation des Klinkers erarbeitet. Die Raute war eine Fachwerkverzierung im Stammhaus der Rothschilds in der Frankfurter Judengasse, deren Reste ein Museum präsentiert, das die Architekten derzeit sanieren. Mit dem Rautenornament wird die Mensa nicht nur durch ihre Platzierung, sondern auch symbolisch zu einem Bindeglied zwischen der Vergangenheit des Quartiers und der Gegenwart.
Die klar erkennbare Rautenform des Ziegeldekors wirkt abstrakt und gleichzeitig traditionell. Denn die Raute war eine Fachwerkverzierung im Stammhaus der Familie Rothschild in der Frankfurter Judengasse.
Die Mensa der Louise-von-Rothschild-Schule, in deren Speisesaal 75 Schüler in drei Schichten essen, ist eine von insgesamt vier Mensen, die dirschl.federle für das Hochbauamt geplant haben. Die Architekten fanden für jedes Gebäude je nach Ort, Umfeld, Volumen und Raumprogramm ein eigenes Motiv. Dirschl arbeitete lange Jahre in der Führungsebene im Büro schneider+schumacher, das in den vergangenen Jahren vor allem für seine Bürobauten in unterkühlter Eleganz bekannt ist. Federle war einer der Partner eines Wiesbadener Büros, das sich auf sachlich-neutrale Innenausbauten für Banken spezialisierte. Dirschl erklärt den Drang zum Dekorativen, dem sie sich mit der Gründung des gemeinsamen Büros im Jahre 2007 verschrieben hat, mit dem Wechsel der Kunden. Nicht für die Projektentwickler der Immobilienbranche mit deren Verlangen nach möglichst neutralen, möglichst nichtssagenden und deswegen möglichst leicht vermietbaren Büroflächen plane sie nun, sondern für die öffentliche Hand und für Kunden, die ihr Haus auch selbst benutzen wollen.
Die Architekten haben den Mauerwerksverband selbst entwickelt. Jeder der Kopfsteine ragt zwei Zentimeter aus der Fassadenebene heraus. Durch die dunkle Farbigkeit des Ziegels und der Fugen entsteht eine flächige Wirkung.
Darüber hinaus verweisen Dirschl und Federle auf ein architektonisches Problem: auf das Passivhaus mit seinen kompakten Grundrissen und den großen Oberflächen. Sowohl die Mensen als auch die Kindertagesstätte hatten Passivhäuser zu sein – laut einem Beschluss der Stadt Frankfurt am Main aus dem Jahre 2007, nach dem alle städtischen Gebäude und die der städtischen Gesellschaften künftig Passivhäuser sein müssen. Im ersten Entwurf dachten die Architekten noch an eine Fassade aus Betonfertigteilen. Doch den unstrukturierten Flächen der Passivhäuser müsse man eine „Note“ verleihen, erklärt Matthias Federle. Und da beide ein Faible für feine Stoffe hätten, sei, verkürzt gesagt, die Idee aufgetaucht, bei der Rothschild-Schule ein Rautenmotiv wie eine textile Hülle um die Mensa zu spannen. Der schwarze Ziegel sei deshalb besonders interessant, weil er industriell und abstrakt wirke. Ein in unterschiedlichen Farben changierender rot-bunter Klinker ziehe im Vergleich die Aufmerksamkeit auf sich selbst, ein Relief im Sichtmauerwerk würde eher als Störung bewertet. Der schwarze Klinker dagegen wirke – verbunden mit einer möglichst dunklen Farbe des Fugenmörtels – flächig. Das Muster, das je nach Lichtund Schattenwirkung mal deutlicher, mal kaum wahrnehmbar hervortrete, stehe aber bei der Rothschild-Schule im Vordergrund. Deswegen haben die Architekten den Mauerwerksverband selbst entwickelt, bei dem genau berechnete Kopfsteine jeweils zwei Zentimeter herausgezogen wurden. Wichtig dabei ist, eine genau definierte Fugenbreite einzuhalten, was die Maurer vor Ort einigen Schweiß gekostet hat. Auch die Dehnungsfugen, die man bei einem 40 Meter langen Gebäude benötigt, wurden in den Verband gelegt.
Auch im Innenraum wurde das Rautenmotiv der Fassade in der abgehängten Decke des Speisesaals aufgegriffen.
Neben dem Zweck – gerade für eine Schule sollte eine Verkleidung möglichst robust sein – ist ein weiterer, ein regionaler Aspekt interessant, den man in der zeitgenössischen Architektur Frankfurts eher selten antrifft: Die Tonschichten für diese Klinker werden in der Nähe von Limburg abgebaut, der kurze Transportweg verbillige das Produkt. Da die öffentlichen Bauten nicht nur in Frankfurt unter stetem Kostendruck entstehen, auch wenn sie wie in diesem Falle durch das Konjunkturprogramm II gefördert wurden, war der Preis für die Klinker ein weiterer wichtiger Entscheidungsgrund. Auch der Ton für die weißen Ziegel aus der gleichen Klinkerfamilie werde im nahen Westerwald abgebaut. Die Architekten verwendeten diesen Ziegel für die Terrasse vor dem Speisesaal, der sich mit raumhohen Fenstertüren zum Schulhof öffnet. Mit der Stahlkonstruktion des Dachs und den „Ortbetonflügeln“ an den Seiten sowie dem schmalen Klinkerstreifen am Rand entsteht ein Trichtereffekt, der die Blicke fast magisch auf die Mensa zieht. Dass sich das Rautenmotiv auch im Bandraster unter der Decke des Speisesaals findet, dass es sich ebenfalls im braunschwarzen Geländer – einer zweilagigen Stahlkonstruktion, die das ganze Grundstück einfriedet – findet, zeugt von einer wirklich originell-spielerischen Verbindung zwischen Innen und Außen. Dass das Gebäude dennoch nicht nach dem Passivhausstandard zertifiziert wurde, liegt nicht an der Planung und allen verbauten Passivhaus- Komponenten, die auf dem Markt zu bekommen waren, sondern am Schulhaus. Die Mensa steht zu oft im Schatten des mächtigen Gebäudes, zu wenig solare Einträge sind die Folge. Gleichwohl, nicht nur die vorbildliche Detailqualität des Mensabaus, auch seine anspielungsreiche Klinkerverkleidung machen ihn zu einem gelungenen Stadtbaustein, der als eigenständiger Beitrag wie selbstverständlich Alt und Neu verbindet und dem reizvollen Quartier angemessen ist.