Kaum eine Gegend in Antwerpen hat sich in den letzten Jahren
so sehr verändert wie die Viertel nördlich der alten Innenstadt.
Wo sich früher nur Hafenarbeiter aufhielten und rote Laternen
leuchteten, entstehen nun Museen, Restaurants und schicke
Wohnprojekte. Zu den neuen Entwicklungen gehört auch der
Park Spoor Noord, ein 18 Hektar großer Stadtpark auf einem
ehemaligen Güterbahnhofsgelände, der 2008 nach einem
Entwurf des Mailänder Studios Associato Bernardo Secchi
Paola Viganò angelegt wurde. Als letzte Phase des Projekts
entsteht nun auf einer sechs Hektar großen Fläche an seinem
westlichen Ende ein Gebäudekomplex mit Wohnungen, Büros,
Hochschulbauten und einem Krankenhaus, der für den Anschluss
des Parkgeländes an die Innenstadt sorgen soll.
Mehrere Neubauten durften als Hochhäuser formuliert und bis
zu 80 Meter hoch werden. Als eines der ersten wurde der
Lichttoren von awg architecten realisiert: ein 75 Meter hohes,
strahlend weißes Wohnhochhaus mit 22 Geschossen. Zwei
hohe Geschosse mit Büroräumen bilden den Sockel des Hochhauses.
Darüber liegen die Wohnungen, die in drei Lagen von
jeweils sechs Geschossen mit ansteigender Deckenhöhe angeordnet
sind. Ganz oben befindet sich ein Doppelgeschoss
mit Penthouse-Wohnungen und Technikräumen, das mit seinen
arkadenähnlichen Pfeilern einen Spiegel des Sockels bildet.
Der Turm Lichttoren gehört zu einem Neubaugebiet mit mehreren Türmen nahe des Zentrums von Antwerpen.
Die 144 relativ kleinen Wohnungen und drei Penthouses sind
dank einer Konstruktion aus tragendem Betonkern und tragender
Fassade im Inneren völlig frei einteilbar. Ebenso neutral
ist der Charakter der Fassaden: Auf den ersten Blick verraten
nur die Balkone die Wohnnutzung des Gebäudes.
Obendrein bringen die Balkone und Loggien etwas Leben und ein spielerisches Element in die sonst sehr zurückhaltende
Fassadengestaltung.
In jede Himmelsrichtung sind die Öffnungen
und Außenräume unterschiedlich formuliert: Während
die zum Bahndamm orientierte Nordfassade mit ihren kleinen
Fenstern recht geschlossen wirkt, ist die Südfassade dank
geschosshoher französischer Fenster viel offener gestaltet.
An der Westseite des Hochhauses finden sich pro Geschoss
zwei horizontal gegeneinander versetzte Balkone in Kombination
mit französischen Fenstern und kleinen Loggien auf den
Ecken, und im Osten springen vier Balkone pro Geschoss über
die Fassade. Die größten Terrassen, die an West- und Ostfassade
beinahe ein durchlaufendes Band bilden, haben natürlich
die Penthouses.
„Man muss Gebäuden ihre Funktion
nicht unbedingt ansehen,
sondern sie sollten vor allem eine
Rolle im Stadtgefüge spielen.“
Die helle Farbgebung, die offenen Ecken und die nach oben
hin immer höher werdenden Geschosse bewirken, dass das
Hochhaus von unten betrachtet unerwartet schlank und leicht
wirkt. Dazu tragen auch die schmalen Aluminiumfensterrahmen
und die dünnen Stahlrohrgeländer der Balkone bei.
Gleichzeitig kennzeichnet den Bau durch seine Gesamtform
und Materialisierung auch eine gewisse Schwere. Die Fassaden
wurden aus dem Röben Keramik-Klinker OSLO perlweiß
im Normalformat gefertigt, den eine geringe Wasseraufnahme
und eine hohe Unempfindlichkeit gegen Staub und Abgase
auszeichnen – was angesichts der hellen Farbe und dem
Standort des Gebäudes an einem stark befahrenen Verkehrsknotenpunkt
bei der Produktwahl von großer Bedeutung war.
Alle vertikalen Fassadenabschnitte wurden im Läuferverband
mit hellen Fugen gemauert. Um den vertikalen Charakter des
Sockels fortzuführen, wurde in der Mitte der Fläche jeweils ein einzelner Stein leicht zurückliegend und blockweise übereinander
gesetzt. So entsteht ein subtiles vertikales Linienspiel,
das noch dadurch betont wird, dass die Klinker in den horizontalen
Brüstungsbereichen abweichend vertikal gemauert
sind.
Alle Wohnungen verfügen über Balkone oder Loggien und bieten weite Ausblicke auf die Stadt.
Obwohl alle Gebäude im städtebaulichen Ensemble des Parks
Spoor Noord in Weißtönen gestaltet sind, hat jedes einen
deutlich erkennbaren eigenen Charakter. Der Lichttoren ist
das bislang zeitloseste Bauwerk. Es lebt vor allem von der
ästhetischen Spannung, die zwischen seiner in die Vertikale
strebenden Leichtigkeit und der gewissen Schwere und Ruhe
des weißen Klinkers entsteht.
Jan Verrelst ist seit
vielen Jahren einer der
fünf Partner des Büros
awg architecten, Antwerpen,
und war für das
Projekt Lichttoren verantwortlich.
Herr Verrelst, wie haben Sie den Auftrag für das Lichttoren-
Hochhaus bekommen?
Es handelte sich um eine Direktvergabe. Auftraggeber war der
Projektentwickler Immpact, der im Laufe des Entwicklungsprozesses
ein Konsortium mit Banken und der Belgischen Post
bildete. Immpact wollte ein Hochhaus mit etwa 150 Wohnungen
bauen: kleine Eigentumswohnungen mit 40 bis 85 Quadratmetern,
die für Ein- bis Dreipersonenhaushalte gedacht sind. Nur
im obersten Geschoss befinden sich drei große Penthouses mit
jeweils 150 Quadratmetern.
Wieso sollte der Großteil der Wohnungen so klein sein?
Das entspricht dem derzeitigen Markt in Antwerpen. Die Immobilienpreise
sind in den letzten Jahren stark gestiegen, und die
meisten Leute können sich keine großen Wohnungen mehr leisten.
Regelgeschoss mit acht Wohnungen unterschiedlicher Größe.
Das Gebäude steht am Park Spoor Noord, einer frisch angelegten
Grünzone am nordöstlichen Rand der Innenstadt. Wieso
entschied man sich, an diesem Ort Wohnhochhäuser zu errichten,
obwohl Antwerpen keine klassische Hochhausstadt ist?
Das liegt an der Geschichte des Geländes. Früher befand sich
dort ein Güterbahnhof, in dem die Waren aus dem Hafen in
Züge verladen und dann weitertransportiert wurden. Allerdings
zog der Hafen in den 1950er und 1960er Jahren immer weiter
nach Norden, und zuletzt wurde der Bahnhof nur noch von der
belgischen Post genutzt, die auch irgendwann von Bahn- auf
LKW-Transport umstieg. Die Stadt beschloss daraufhin, das
Bahnhofsgelände zum Park umzunutzen. Ein Problem war jedoch
die teilweise Kontaminierung des Bodens. Um die Reinigung
des Erdreichs bezahlen zu können, wurde ein Gebäudekomplex
mit vier Hochhäusern in die Planung integriert. Neben
dem Lichttoren sind es der Parktoren, der London Tower und
der Noordster.
Die Fassadengestaltung des Lichttoren ist sehr neutral, beinahe
zeitlos. Wieso haben Sie sich für solch eine zurückhaltende
Gestaltung entschieden?
Wir glauben, dass man Gebäuden ihre Funktion nicht unbedingt
ansehen muss, sondern dass sie vor allem eine Rolle im
Stadtgefüge spielen sollten. Öffentliche Bauten wie Krankenhäuser
oder Bibliotheken dürfen ruhig offensichtlicher und
erkennbarer sein, aber gerade Büro- und Wohnbauten entwerfen
wir gerne abstrakt. Dies ermöglicht im Laufe der Zeit
Umnutzungen und Funktionswechsel. Nur die Balkone heben
sich hervor und sorgen für einen lebendigen Fassadeneindruck.
Sie verraten dann doch, dass es sich um einen Wohnbau
handelt.
Jan Verrelst vor der Bibliothek im Antwerpener Büro, November 2014.
Geht es auch darum, dass sich das Gebäude in seinen Kontext
einfügt?
Nein, nicht wirklich. Es hat eher damit zu tun, dass es eine
Rolle für die Stadt spielt. Unsere Bauten wollen keine Ikonen,
sondern in erster Linie zweckmäßig sein. Aber man muss auch
dafür Sorge tragen, dass das Gebäude länger lebt als nur die
dreißig Jahre, bis es sich amortisiert hat.
Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch gerne von
„intelligenten Ruinen“. Was genau bedeutet das?
Das ist ein Ausdruck, den Bob Van Reeth, der Gründer unseres
Büros, einmal geprägt hat. Kluge Gebäude überleben Generationen,
Lebensstile und Wohnbedürfnisse und bleiben
nutzbar, ohne ihre Identität zu verlieren. Der Zeitfaktor sollte
ebenso wie Form und Material zum architektonischen Konzept
gehören.
Inwiefern ist das beim Lichttoren der Fall, von der Neutralität
der Fassade einmal abgesehen?
Das Gebäude ist sehr flexibel und kann sich somit jederzeit
geänderten Anforderungen anpassen. Es hat einen tragenden
Kern mit Aufzugschächten und Treppenhaus und eine tragende
Fassade aus Beton und Klinker. Dazwischen befinden sich
keine konstruktiven Elemente, so dass die Geschosse frei
teilbar sind. Momentan sind es acht Wohnungen pro Geschoss,
aber sie können auch zusammengelegt werden.
Ist das bereits geschehen?
Ja, zwei Wohnungen wurden zusammengelegt und dienen als
Büro, und ein paar andere wurden zu größeren Wohnungen
zusammengefügt.
Das neue Wohnhochhaus steht am Rande der öffentlichen Parkanlage Spoor Noord. Im obersten Geschoss befinden sich die Penthouses.
Wieso haben Sie sich für Klinker als Fassadenmaterial entschieden?
Wegen der Haptik, und weil es ein Baumaterial ist, das im Laufe
der Zeit immer schöner wird. Außerdem ist es leicht zu verarbeiten,
da es in Belgien das gängigste Fassadenmaterial ist. Der
Klinker ist uns vertraut und war daher von Anfang an eine naheliegende
Wahl für uns.
Für Hochhäuser ist es aber eher ungewöhnlich, oder?
Dieser Meinung schließe ich mich nicht an. Denken Sie nur an die
klassischen Hochhäuser in New York und anderen amerikanischen
Städten!
Die Hochhausklassiker haben alle eher Fassaden aus dunklem
Backstein. Wieso haben Sie Weiß als Farbe gewählt?
Im Masterplan des Stadtbaumeisters Christian Borret war vorgegeben,
dass die Gebäude im Park Spoor Noord alle helle
Fassaden haben müssen. So entschieden wir uns für Weiß, denn
Antwerpen war früher einmal eine weiße Stadt. Das ist heute
nicht mehr gut erkennbar, denn in den letzten hundert Jahren
sind viele dunkle Gebäude hinzu gekommen, aber der Turm der
Kathedrale besteht zum Beispiel aus hellem Sandstein. Wir
wollten, dass auch unser Gebäude diesen Charakter erhält und
so zum Teil der Skyline von Antwerpen wird.
War der Keramik-Klinker ein Produkt aus dem Katalog oder
wurde er speziell für das Projekt angefertigt?
Er ist ein Standardprodukt im Normalformat. Wir haben uns für
diesen Stein von Röben entschieden, weil er eine schöne samtige
Oberfläche hat und vor allem, weil er durch und durch aus
weißem Ton gebrannt ist. Wir wollten auf keinen Fall einen roten
Stein mit lediglich weißer Oberfläche. Mit dem weißen Keramik-
Klinker ist es uns bestens gelungen, den monochromen Baukörper
nach unseren Vorstellungen auszubilden. Röben war uns gut
bekannt. Wir hatten schon zuvor mit dem Hersteller ein Projekt
umgesetzt.
Welchen Stellenwert hat der Lichttoren im Werk von awg
architecten?
Er ist für uns als erstes Hochhaus ein bedeutender Bau, auf den
wir stolz sind.
Ist er auf den ersten Blick als Projekt von awg architecten
erkennbar? Sieht man Ihre Handschrift?
Nein, denn wir haben keine. Wir glauben, dass jedes Gebäude auf
seinen spezifischen Kontext reagieren und den Genius Loci reflektieren
sollte. Wenn man unsere Bauten in eine Reihe stellen
würde, könnte man vielleicht ein paar wiederkehrende Elemente
erkennen, aber einen ausgeprägten Stil haben wir nicht. Außerdem
haben wir uns im Laufe der Zeit auch weiterentwickelt.
Unser Büro wurde 1972 von Bob Van Reeth unter dem Namen
Architektenwerkgroep gegründet und 2001 in awg architecten
umfirmiert. Wir sind jetzt fünf Partner; Bob Van Reeth ist seit ein
paar Jahren im Ruhestand. Natürlich entwerfen wir nicht mehr
genauso wie vor zehn oder zwanzig Jahren. Die Zeiten haben sich
geändert. Die finanziellen Mittel sind andere, und Themen wie
zum Beispiel die Nachhaltigkeit sind wichtig geworden. Das hat
einen großen Einfluss auf unsere Architektur.
Vielen Dank für das Interview.
Wohnturm Lichttoren in Antwerpen
Architekten
awg architecten, Antwerpen
www.awg.be
Büroprofil
awg architecten
Das Architekturbüro wurde 1972 in Antwerpen
gegründet. awg steht für architects work group. Das Team setzt
sich zusammen aus Architekten, Stadtplanern und Landschaftsplanern
und wird von fünf Partnern geleitet: Geert Driesen, Filip
Delanghe, Christine de Ruijter, Ilse van Berendoncks und Jan
Verrelst. Gründer des Büros war Bob Van Reeth. Das Büro unter
seinem Namen wurde 2001 in awg architecten umbenannt. Bis
heute wurden mehr als 650 Projekte bearbeitet, von der städtebaulichen
Gesamtplanung bishin zu kleinen, bescheidenen
Bauaufträgen. Im Mittelpunkt steht die sorgsame Analyse des
städtischen Umfelds, aber auch die Suche nach einer innovativen
Lösung. Seit der Zeit von Bob Van Reeth spielt beim Entwurf das
Thema der möglichen späteren Umnutzung eine wichtige Rolle.
Einen ausgeprägten Baustil gibt es nicht. Das Büro spricht davon,
dass jede Bauaufgabe seine eigene Individualität besitze, auf die
immer wieder mit einer entsprechenden Architektursprache und
manchmal auch mit ganz neuen Ansätzen eingegangen werden
muss. Wichtige Bauten der letzten Zeit: Dokumentationszentrum
des Holocaust und der Menschenrechte in Mechelen und das
innerstädtische Hessenberg-Wohnareal in Nimwegen.
Projekte (Auswahl)
2012 Wohnanlage Baelskaai 20, Ostende
2012 Holocaust-Dokumentationszentrum und Gedenkstätte, Mechelen
2012 Wohnareal Hessenberg, Nimwegen
2009 Sanierung und Umbau der Fabrik Lichttoren von 1911, Eindhoven
1991 Zuiderterras, Antwerpen
Produktinformationen
Die Basis für den extrem unempfindlichen Klinker bilden eisenarme, hochplastische
Tone, die unter Beimischung von Quarzsanden und feinem Dolimit-Mehl
bei hohen Temperaturen oberhalb von 1.230 °C gebrannt werden.