Fotos: Frank Peterschröder, Frank Herfort, Tsimailo Lyashenko & Partner
Am nördlichen Rand Moskaus haben Tsimailo Lyashenko
& Partners mit „9–18“ einen hochverdichteten
Wohnungsbau mit knapp 1.200 Wohnungen realisiert.
Die großvolumigen, in der Höhe zwischen neun und achtzehn
Geschossen variierenden Baukörper gewinnen Dank einer
kleinteilig strukturierten Klinkerfassade mit Farbverlauf an
Leichtigkeit.
Moskau erfährt derzeit ein enormes Bevölkerungswachstum,
was in gleichem Maße auch den Druck auf den Wohnungsmarkt
in Innenstadtlagen wachsen lässt. Längst hat die Mittelschicht
den noch bezahlbaren Rand der Hauptstadt als
Alternative für sich entdeckt. Am Autobahnring MKAD im
Norden der russischen Hauptstadt verläuft die Grenze zur
170.000 Einwohner zählenden Stadt Mytischtschi, eine der
größten Städte im Verwaltungsbezirk Moskau. Mit knapp
neunzehn Kilometern Entfernung zum Moskauer Zentrum erweist
sich die ehemalige Industriestadt besonders für Pendler
als hervorragende Lage.
Zentral in Mytischtschi gelegen, unmittelbar neben der Mytischtschi-
Arena, Wirkstätte des über die Stadtgrenzen hinaus
bekannten Eishockeyclubs Atlant Moskowskaja Oblast, fand
sich ein zu entwickelndes Grundstück von 145.000 m² Fläche.
Im Nordwesten begrenzt von der wichtigen Hauptverkehrsachse
Letnaya ulitsa, sichert hier das gegenüberliegende
Einkaufszentrum die Nahversorgung. Im Südosten bildet die
beruhigte Anliegerstrasse Tereshkovoy ulitsa den Abschluss.
In der von Plattenbauten der sowjetischen Nachkriegsmoderne
geprägten Wohnsiedlung positioniert sich der neu entstandene
Wohnkomplex „9–18“ von Tsimailo Lyashenko & Partners
als vermittelnder Sonderbaustein.
Die Parzelle teilt sich in zwei offene Blöcke, in denen jeweils
zwei Hochhausscheiben mit differenzierter Höhenentwicklung
Bezug zur Umgebungsbebauung nehmen.
Die kleinere der beiden Scheiben sowie der niedrigere Teil der
gestaffelten größeren Scheibe nehmen die Höhe der im Süden
angrenzenden neungeschossigen Zeilenbauten aus der Nachkriegszeit
auf. Der achtzehngeschossige Teil der großen
Scheibe nutzt die maximal zulässige Gebäudehöhe aus und
bezieht sich auf die neueren Bestandsbauten im Norden. Der auf die gewählte Anzahl der Geschosse zielende Name
„9–18“ des neuen Wohnkomplexes wurde schnell zur Marke.
Zum Block ergänzt werden die Scheiben durch eine zweigeschossige
Schule im südlichen Teil sowie einen dreigeschossigen
Kindergarten im nördlichen Teil. Beide Blöcke durchdringt
und verbindet, ähnlich der hohen Durchgrünung im
Umfeld, eine Art Erlebnis- und Erholungslandschaft als öffentlicher
Boulevard. Verschiedene, in leuchtenden Farben abgesetzte
Nutzungen wie Spielplätze, Sitzgelegenheiten und
Wasserspiele sind als Kreismotive perlenkettenartig miteinander
verbunden. Der gesamte Bereich ist autofrei gehalten, die
Parkierung in weiten Teilen in einer eingeschossigen Tiefgarage
unter dem Grundstück gelöst. Ein weiteres Parkhaus zwischen
dem Areal und dem Eisstadion kann auch von den Bewohnern
genutzt werden.
"Der Name „9–18“ des neuen
Wohnkomplexes wurde schnell
zur Marke"
Der bogenförmige Verlauf der beiden großen Scheiben minimiert die gegenseitige
Verschattung, unattraktive Innenecken werden vermieden
Innerhalb des Boulevards wird aus der Fußgängerperspektive
die formale Besonderheit der Baukörper besonders deutlich:
der Verzicht auf den rechten Winkel. Der Gebäudeabschluss an der Querseite der Scheiben beschreibt jeweils einen exakten
Halbkreis. Diese abgerundeten Ecken entschärfen zum
einen die räumliche Nähe der Baukörper zueinander, vor allem
aber entstehen in Verbindung mit den beiden großen Scheiben,
die in einem sanften, sichelförmigen Bogen von etwa 45°
ihre Richtung ändern, immer wieder neue, räumlich spannungsvolle
Perspektiven: eine urbane Anmutung, die den
Maßstab wahrt und eine deutliche Abkehr zur seriellen Zeilenbebauung
der Umgebung markiert. Gleichzeitig vermeidet
diese Ausformung unattraktive Innenecken und optimiert die
Belichtung der Wohnungen.
Auf den insgesamt 99.400 m² Wohnfläche wurden 1.170 Wohneinheiten
umgesetzt. Sechs separat erschlossene Einheiten
der gebogenen Scheibe halten jeweils sechs bis acht Wohnungen
vor, die zwei Einheiten der kleineren Scheibe im südlichen
Teil fünf, im nördlichen Teil acht. 48 Prozent der Wohnungen
verteilen sich auf kleinere Einzimmerstudios von 35–50 m²,
39 Prozent auf Zweizimmerwohnungen mit 54–65 m² und
13 Prozent auf Dreizimmerwohnungen mit 76–100 m². In der
klassischen Mittelgangerschließung befinden sich am Gang die
kleineren, einseitig belichteten Einheiten, an den Rändern die
größeren als durchgesteckte Wohnungen mit zweiseitiger
Belichtung. Zu den attraktivsten Wohnungen zählen sicherlich
die von drei Seiten belichteten in den abgerundeten Ecken.
"Das Fassadenbild wirkt wie
die digitale Interpretation
eines Mosaiks"
Farblicher Kontrast – die bunte Landschaft aus kreisförmigen Inseln im Inneren
des Wohnkomplexes
"Eine urbane Anmutung, die den
Maßstab wahrt und eine deutliche
Abkehr zur seriellen Zeilenbebauung
der Umgebung markiert"
Balkone wurden konsequent jeweils nur auf der Sonnenseite
angebracht. Im rhythmischen Wechsel angeordnet, schaffen
sie es, im Zusammenspiel mit den wechselnd linear und versetzt
positionierten Fensteröffnungen der Lochfassade den
Baukörpern eine dem Geschosswohnungsbau oft immanente
Strenge zu nehmen. Diese aufgelockerte Struktur findet im
gewählten Fassadenmaterial eine adäquate Entsprechung.
Der Klinker als kleinster gemeinsamer Vielfacher im Normalformat
sprengt die Wuchtigkeit der Masse schier auf, lässt sie
zur begreifbaren Oberfläche werden.
Unterstützt wird dieser Eindruck eines aus dem menschlichen
Maßstab gewachsenen Ganzen durch die außergewöhnliche
Farbgebung der Klinker. Insgesamt fünf verwendete Farbtöne
setzten die Ziegel noch deutlicher gegeneinander ab. Diese
Trennschärfe nimmt mit zunehmender Höhe jedoch deutlich
ab, was Tsimailo Lyashenko & Partners bewusst nutzen. Die
farbliche Verteilung beschreibt über die Geschosse aufsteigend
einen Farbverlauf von dunkel nach hell. Vom strukturierten,
je nach Lichtverhältnis fast schwarzen Klinker in der
Fußgängerperspektive, fließt der Verlauf über ein dunkles
Braun, Basalt-Bunt, Grau-Bunt hin zu einem glatten Keramikklinker
in glänzend-strahlendem Perlweiß. Die Baukörper
scheinen sich geradezu dem Himmel entgegenzustrecken, die
oberen Geschosse mit den Wolken zu verschmelzen. Eine
Überhöhung, die der untere, dunklere Teil gleichzeitig jedoch
immer erdet. Das Fassadenbild wirkt wie die digitale Interpretation
eines Mosaiks. Pixelgleich sind die Klinker in bestechender
Präzision positioniert.
Anders als beim typischen Mosaik-Wandbild der Nachkriegsplattenbauten,
welches als verordnete Kunst am Bau der
Tristesse entgegenwirken sollte, ist „9–18“ jedoch mehr als ein
Bildträger. Das Motiv wirkt nicht appliziert, das Gebäude selbst
wird zum Bild.
Dynamisches Spiel aus Spiegelung, Licht und Schatten auf der Klinkerfassade
Interview
Interview mit Nikolay Lyashenko,
Gründungspartner im Architekturbüro
Tsimailo Lyashenko & Partner, Moskau
Ihr Büro verfügt über ein breit aufgestelltes Portfolio, beschäftigt
sich mit Architektur, Städtebau und Innenarchitektur.
Wie kommt es zu dieser Vielfalt an Projekten?
Nikolay Lyashenko: Ich glaube, es liegt daran, dass wir uns
gleich zu Beginn unserer Bürogründung entschieden haben,
nur Projekte zu machen, bei denen wir uns wohlfühlen, Spaß
haben und das Beste realisieren können. Wenn wir spüren, dass
die Aufgabe interessant ist, und die Möglichkeit besteht, ein
gutes Produkt herzustellen, dann machen wir das.
Ihre Arbeit wirkt sehr international. Gibt es dennoch russische
Einflüsse?
Wir versuchen natürlich, unsere russische Herkunft nicht zu
vergessen. Bei mehreren Projekten haben wir versucht, alte
Ornamente oder bestimmte Techniken der Klinkerverlegung zu
verwenden. Ich finde es sehr schön, wenn die Wurzeln nicht
verloren gehen und man in der eigenen Stadt bestimmte Traditionen
weiterführen kann. Allerdings versuchen wir immer
zeitgemäße Architektur zu machen.
Sie haben unter anderem in Deutschland studiert und gearbeitet.
Inwiefern hat das ihre Architekturauffassung beeinflusst?
Prägend war da sicher die Vorgehensweise bei Planung und
Voranalyse, aber auch die gewisse Liebe zur Ordnung und zum
Detail. Bei meiner Tätigkeit in Russland habe ich dagegen gelernt,
einfach mal quer zu gehen. So kommt man oft schneller
zum Ziel.
Mit „9–18“ haben Sie einen sehr großen Wohnungsbau in der
Region Moskau verwirklicht. Wie kamen Sie zu dem Projekt?
Es handelte sich um eine Direktbeauftragung durch einen Investor.
Welches Klientel spricht „9–18“ an?
Die Idee bei der Vermarktung war, ein Wohnquartier für Leute
zu schaffen, die in Moskau selbst keinen Platz mehr finden.
Nun ist es aber so, dass die Mehrheit der jetzigen Bewohner, fast 70 Prozent der Leute, aus der direkten Nachbarschaft
kommen, weil sie sehr gerne im Quartier bleiben wollten, aber
ein qualitativ besseres Produkt bevorzugen. Ursprünglich war
„9–18“ als eine Art Economy Class konzipiert, Wohnen für
junge Familien und Studenten. Der Kaufpreis war sehr niedrig
und die Einheiten sehr klein. Als der Investor damit auf den
Markt ging, wurde plötzlich klar, dass ein ganz anderes Klientel
hier wohnen wollte. Der Kaufpreis ist am Ende um das
Doppelte gewachsen. Daraus ist ein relativ erfolgreiches
Projekt geworden.
"Wenn wir spüren, dass die Aufgabe
interessant ist, und die Möglichkeit
besteht, ein gutes Produkt herzustellen,
dann machen wir das."
Mytischtschi war eine Industriestadt. Welche städtebauliche
Situation haben Sie vorgefunden?
Mytischtschi ist ein schöner Ort mit guter Verkehrsanbindung,
durchaus eine junge Stadt. „9–18“ befindet sich in zentraler
Lage inmitten einer Wohnbebauung. Eine Seite schließt an eine
Bebauung aus sowjetischen Zeiten mit 5 bis 9 Geschossen an.
Auf der anderen Seite gibt es einen Neubau mit einer großen
Anzahl an Geschossen. Hier wollten wir eine Art Übergangszone
schaffen, die die Geschossigkeit von „Altstadt“ und „Neustadt“
übernimmt. So ist diese abgestufte Höhenentwicklung
und Proportion entstanden.
Alle Baukörper sind mit abgerundeten Ecken ausgebildet, die
beiden größeren beschreiben einen Bogen. Wie kam es zu
dieser Ausformung?
Es gibt in Russland die Anforderung von mindestens zwei Besonnungsstunden
pro Tag für jede Wohnung. Darüber hinaus
durften wir mit unseren Baukörpern auch nicht die Umgebung
verschatten. Beides lösen wir mit dem Bogen. Die Gebäude stehen relativ dicht, wir haben den Blick aus den einzelnen
Wohnungen analysiert und sind so zu der Lösung mit den abgerundeten
Ecken gekommen.
Nikolay Lyashenko schätzt die Liebe zum Detail
Wie sieht die Nutzung im Erdgeschossbereich aus?
Selbstverständlich kann man da immer Geschäfte unterbringen,
aber es gibt viele Kinder in der Umgebung, und natürlich
auch im Wohnblock selbst. Es wurden also in großem Umfang
Kinderzentren und adäquate Zusatznutzungen wie Tanzschulen
realisiert. Zusätzlich dazu gibt es noch einen Kindergarten und
eine Schule in jeweils eigenen Baukörpern.
Was neben der schieren Größe der Bausubstanz auffällt, ist
die Lochfassade, die über die Geschosse einen Farbverlauf
beschreibt.
Das ist natürlich eine sehr große Wandscheibe. Wir wollten es
nicht so massig und brutal haben, deshalb haben wir als Grundidee
einen Farbverlauf vorgesehen. Von unten nach oben soll
das Gebäude etwas heller werden.
Umgesetzt ist der Farbverlauf mit Klinkern
Wir wollten als Fassadenmaterial auf jeden Fall etwas Kleinteiliges
haben. Klinker passt sehr gut zur Umgebung, in Mytischtschi
existieren viele Klinkerbauten in ganz unterschiedlichen
Farben. So wird das Gebäude eins mit der Stadt, gleichzeitig
unterscheidet es sich dennoch vom Bestand. Klinker hat etwas,
dass man anfassen will. Hinzu kommt die Maßstäblichkeit. Für
mich macht den Reiz dieser großen Wandfläche aus, dass man
im Erdgeschoss das Modulhafte des Klinkers noch wahrnimmt,
dieses ab einer gewissen Höhe aber völlig verwischt.
Wie haben Sie die Farbverteilung gelöst, um einen homogenen,
sanften Verlauf zu erzeugen?
Wir haben zunächst viele Prinzipien im Computer ausprobiert.
Letztendlich haben wir diese dann sehr groß ausgedruckt und
auf der Baustelle mit dem Papier 1:1 den Verlauf von drei Geschossen
simuliert, um die Wirkung zu sehen.
„Wir wollten keine ab Werk zusammengestellten
Paletten mit der
richtigen Farbverteilung verwenden,
sondern haben stattdessen
Verlegungskarten erstellt.“
Ein experimentelles Vorgehen also?
Trial and Error. Wir haben die Verteilung bestimmt hundert Mal
geändert, mehrere Monate hin und her probiert. Das hat aber
tatsächlich auch viel Spaß gemacht.
Wie gestaltete sich die Umsetzung vom Papier zum Stein?
Wir wollten keine ab Werk zusammengestellten Paletten mit der
richtigen Farbverteilung verwenden, sondern haben stattdessen
Verlegungskarten erstellt. Innerhalb jedes Geschosses gibt es
ein Modul von 3,50m x 3,50m, welches sich wiederholt. Keine
einfache Aufgabe für die ausführende Firma, aber unser Bauunternehmer
Region Development hat uns dabei voll unterstützt.
Trotz Wiederholung wirkt das Ganze nicht wie eine Tapete.
Tatsächlich haben wir zunächst versucht, die wiederholenden
Elemente mit regelmäßigen Fensteröffnungen zu kombinieren,
man hat die Wiederholung aber leider gleich gesehen. So sind
wir zu den versetzten Fenstern gekommen. Links und rechts
der Fenster sind unterschiedlich farbige Klinker, so fällt die
Wiederholung nicht auf.
Wäre dieser Effekt mit einem anderen Material nicht kostengünstiger
umzusetzen gewesen?
Es gab natürlich Diskussionen, vor allem nach der ersten Kostenschätzung.
Aber es ist uns gelungen, den Bauherren für unsere
Idee zu gewinnen. Es war das erste Projekt für diesen Investor
und dessen Ziel war es natürlich, sich am Markt zu positionieren.
Ein Prestigeprojekt?
Ein Prestigeprojekt. Es hat sich auf jeden Fall ausbezahlt. Mit
der Bezeichnung „9–18“, die wir vorgeschlagen haben, werden
inzwischen auch andere Projekte vermarktet, die mit dieser
Geschossigkeit gar nichts zu tun haben. Das finde ich ganz gut.
Seit 2015 Wohnkomplex Torpedo, Moskau
Seit 2014 Wohnbauprojekt Zil, Moskau
Seit 2014 Altenheim, Zikovo Village, Region Moskau
Seit 2010 Wohnbauprojekt Savvin River Residence, Moskau
2013 Wohnungsbau Kursovoy side street 10, Moskau
2013 Wohnungsbau Malaya Dmitrovka street, Moskau
2012–2013 Shopping Mall, Balashika, Region Moskau
2011–2013 Wohnbauprojekt Park Rublevo, Region Moskau