100 Jahre Allgemeine Städtebau-Ausstellung in Berlin
Text: Bodenschatz, Harald, Berlin; Frick, Dieter, Berlin; Kegler, Harald, Dessau; Nägelke, Hans-Dieter, Berlin; Sonne, Wolfgang, Dortmund
100 Jahre Allgemeine Städtebau-Ausstellung in Berlin
Text: Bodenschatz, Harald, Berlin; Frick, Dieter, Berlin; Kegler, Harald, Dessau; Nägelke, Hans-Dieter, Berlin; Sonne, Wolfgang, Dortmund
Auf der Allgemeinen Städtebau-Ausstellung präsentierten die „Star-Städtebauer“ von 1910 ihre Visionen für die großen Herausforderungen jener Zeit. Alle Teile der Stadt waren Ziel der Erneuerung. Die als veraltet empfundene historische Mitte sollte zur zentralen „Monumentalstadt“ umgestaltet werden. Für die an das Zentrum anschließenden Mietskasernen plante man aufgelockerte, aber urbane Alternativen, im Umland wurde mit neuen Formen der Vorstadt experimentiert. Ein System von Schnellbahnen und Grünzonen sollte alle Bereiche verbinden. Erstmals wurde so die neue Realität in der wachsenden Stadt-Region thematisiert.
Vor 100 Jahren wurde die „Allgemeine Städtebau-Ausstellung in Berlin“ gezeigt – ein Jahrhundertereignis im doppelten Sinne des Wortes. Die Ausstellung antwortete auf die großen Herausforderungen der Zeit, ihr Ziel war die Ordnung und Rationalisierung der rasch und chaotisch wachsenden Großstadt der Industriegesellschaft. Erstmals trat die damals noch junge Disziplin Städtebau an eine breitere Öffentlichkeit, und dies mit beachtlichem Erfolg. Die Ausstellung wurde von etwa 65.000 Personen besucht und stieß auf ein reges öffentliches Interesse, auch bei den Gewerkschaften. Selbst das internationale Echo war groß. Noch im gleichen Jahr wurde sie in Düsseldorf gezeigt, und im Herbst des Jahres 1910 wurden Teile der Ausstellung in London anlässlich der International Town Planning Conference präsentiert. Die Städtebau-Ausstellung spiegelte die herausragende Bedeutung Berlins in der nationalen und internationalen Städtebaudebatte wider. Die Großstadt Berlin verglich sich damals selbstbewusst mit anderen Modellstädten des Städtebaus: in Deutschland vor allem mit München, Hamburg, Nürnberg, Köln und Stuttgart, in Europa vor allem mit Paris, London, Wien, Budapest und Stockholm, und in den USA vor allem mit Chicago und Boston.
Im Vorbereitungsausschuss zur Ausstellung wirkten so illustre Personen wie Ernst von Borsig und Werner von Siemens mit, aber auch kommunale Vertreter wie die Oberbürgermeister von Charlottenburg, Rixdorf und Wilmersdorf. Ein Groß-Berlin, wie wir es heute kennen, gab es damals noch nicht. Präsident der Ausstellung war der Berliner Oberbürgermeister Martin Kirschner. Generalsekretär war Werner Hegemann, der zugleich als bester Kenner des US-amerikanischen Städtebaus die Brücke über den Atlantik schlug.
Die Städtebau-Ausstellung in Berlin fasste das damalige Wissen über den Städtebau zusammen. Sie verdeutlichte, dass Städtebau weit mehr ist als Form, dass aber die Form den Kern des Städtebaus bildet, und dass Städtebau ohne den Austausch historischer und internationaler Erfahrungen undenkbar ist. In der damaligen Auseinandersetzung über den Charakter des Städtebaus – Kunst oder Wissenschaft – war die Botschaft eindeutig: Städtebau ist Kunst, Wissenschaft und Ingenieurleistung zugleich. Stadtplanung wurde in diesem Kontext als Teil des Städtebaus verstanden. Auf der Ausstellung spielten erstmals zentrale Figuren der neuen Städtebaudisziplin eine Schlüsselrolle, „Star-Städtebauer“ der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Dazu gehörten Daniel Burnham aus Chicago, Raymond Unwin aus London, Eugène Hénard aus Paris sowie Hermann Jansen und Josef Stübben aus Berlin. Mit der großen Ausstellung in Berlin 1910 hatte sich das Fachgebiet „Städtebau“ international durchgesetzt und etabliert.
Der Wettbewerb Groß-Berlin 1908/10
Als die Allgemeine Städtebau-Ausstellung im Mai 1910 in der Hochschule für die Bildenden Künste in Charlottenburg eröffnet wurde, hatten ihre Organisatoren kaum mehr denn ein halbes Jahr der Vorbereitung hinter sich. Erst kurz vor Einsendeschluss des Wettbewerbs Groß-Berlin im Dezember 1909 war entschieden worden, die Präsentation der Konkurrenzentwürfe zu einer den Städtebau in seinem ganzen Umfang darstellenden Schau auszuweiten, um den Nutzen „für alle, die aus baukünstlerischen, wirtschaftlichen und politischen Gründen bei der Ausgestaltung von Groß-Berlin mitzuwirken berufen sind, noch zu steigern“, wie das Zentralblatt der Bauverwaltung vermeldete. Offensichtlich wurde damit aus einer Not eine Tugend gemacht. Allzu deutlich hatte sich abgezeichnet, dass der Wettbewerb trotz über einjähriger Bearbeitungszeit und ansehnlicher Preisgelder nicht die Beteiligung fand, die sich die Auslober gewünscht und die Presse erwartet hatte. Fristgerecht liefen nur fünfzehn Beiträge ein. Die überregionale Beteiligung war gering, das internationale Interesse verschwindend. Liest man die Liste der Teilnehmer, dann finden sich neben dem Franzosen Léon Jaussely und einigen der Preisträger – Josef Brix und Felix Genzmer, Rudolf Eberstadt, Albert Gessner, Hermann Jansen, Bruno Möhring, Bruno Schmitz – keine bekannten Namen. In der offiziellen Beurteilung listete das Preisgericht zwar „27 Entwürfe“ auf, sieben davon waren allerdings nur „Teilentwürfe“, während bei zwei weiteren der geforderte Erläuterungsbericht fehlte.
Die Anfänge des Wettbewerbs Groß-Berlin reichten ins Jahr 1900 zurück, als die „Vereinigung Berliner Architekten“ unter dem Eindruck der Pariser Weltausstellung desselben Jahres eine städtebauliche Kommission zur Verschönerung Berlins gebildet hatte, das damit erstmals über seine Stadtgrenzen hinaus als Großraum gedacht werden sollte. Wirkliche Dynamik aber erhielt die Diskussion erst ab 1906, nachdem die Volkszählung des Vorjahres der virulenten Kritik am ungeregelten Wachstum der Stadt eine erschreckende statistische Basis gegeben hatte. Unter Mitarbeit der zweiten berufsständischen Organisation, des „Architekten-Vereins zu Berlin“, wurde im Herbst 1906 der „Architekten-Ausschuss Groß-Berlin“ unter Vorsitz von Otto March gegründet. March war zwar selbst kein Städtebauer, schien aber als unter Kollegen, in der Stadt und nicht zuletzt bei Hofe anerkannter Architekt und Professor der Technischen Hochschule zum einflussreichen Moderator besonders geeignet. 1907 veröffentlichten beide Vereine gemeinsam „Anregungen zur Erlangung eines Grundplanes für die städtebauliche Entwicklung Groß-Berlins“ – gemeint war schon der Wettbewerb.
Otto March gelang es trotz anfänglicher Distanz der Behörden, sowohl den Berliner Magistrat als auch die umliegenden Städte Charlottenburg, Schöneberg, Rixdorf, Wilmersdorf, Lichtenberg, Spandau und Potsdam sowie die Landkreise Teltow und Niederbarnim für das Projekt und dessen weitere Finanzierung zu gewinnen. Damit hatte sich allerdings nicht nur die Zahl, sondern auch die Interessenslage der Akteure verschoben, die nun über die Architekten-Vereine hinaus auch aus Fachpresse, Bauverwaltung und Politik stammten. Der Wettbewerb hatte sich ein gutes Stück fort von der Architektur und hinein ins Feld der Strukturplanung begeben und forderte von seinen Teilnehmern nichts Geringeres, als „eine einheitliche, großzügige Lösung zu finden sowohl für die Forderungen des Verkehrs als für diejenigen der Schönheit, der Volksgesundheit und Wirtschaftlichkeit“. Dass dieser höchst komplexe und damals neue, eine disziplinenübergreifende Kooperation erfordernde Anspruch viele und vor allem auswärtige Teilnehmer fernhielt, braucht ebenso wenig zu verwundern wie die Tatsache, dass die ersten Plätze sämtlich von Architekten und Planern errungen wurden, die seit vielen Jahren im Groß-Berlin-Projekt engagiert waren.
Frischen Wind in die Planung der Ausstellung brachte als „Generalsekretär“ Marchs Neffe Werner Hegemann. Nicht Architekt, sondern Nationalökonom, konnte der erst 28-Jährige beträchtliche internationale Erfahrungen vorweisen. Er hatte in Berlin, Paris und Philadelphia studiert, in München promoviert und war auch danach wiederholt in die USA gereist, wo er mit Daniel H. Burnham, den Brüdern John Charles und Frederick Law Olmsted jr. oder Charles Mulford Robinson führende amerikanische Landschafts- und Stadtplaner kennengelernt hatte. Seine internationale Vernetzung und sein kritischer Blick sorgten dafür, dass sich die Ausstellung weit von ihrem ursprünglichen Ziel entfernen sollte.
Die zentrale Botschaft der neuen Disziplin
Das kommunale Durcheinander, der zunehmende Großstadtverkehr, das Wohnungselend, die mangelnden Erholungsmöglichkeiten durch fehlende Grünräume und die unbefriedigende Gestaltung öffentlicher Räume – die Themen der Städtebau-Ausstellung waren die brennenden Probleme der Großstadtentwicklung jener Jahre. „Dabei darf jedoch die technische und wirtschaftliche Überwindung von der künstlerischen zeitlich nicht getrennt werden, um beide muss gleichzeitig gerungen werden“, hatte der Berliner Architekten- und Ingenieurverein den Bewerbern mit auf den Weg gegeben. Nur ein multidisziplinärer Zugriff, der ebenfalls die Gestaltung mit einbeziehe, könne die aktuellen Probleme der Großstädte lösen – das war die zentrale Botschaft der neuen Disziplin Städtebau, die sich von der vornehmlich ingenieurstechnischen Prägung der Stadtplanung des 19. Jahrhunderts lösen wollte.
Die Ausstellung zeigte, dass die Protagonisten des Städtebaus durchaus überzeugende Antworten auf die großen Herausforderungen der Zeit zu bieten hatten: urbane Alternativen zur überaus verdichteten Mietkasernenstadt, suburbane Alternativen in Form von Gartenstädten, eine bessere Organisation des Verkehrs durch ein System von Schnellbahnen und eine gesündere Umwelt durch mehr Freiflächen und Volksparks. Erstmals wurde so in umfassender Weise die neue städtebauliche Realität der Stadt-Region thematisiert. Diese Antworten waren keineswegs immer eindeutig oder konsensfähig. Die großen städtebaulichen Streitthemen der Zeit waren implizit oder explizit auf der Ausstellung präsent: privater oder öffentlicher Städtebau, urbaner oder suburbaner Städtebau?
Den Kern der Ausstellung bildeten die preisgekrönten und angekauften Beiträge zum Wettbewerb Groß-Berlin. Diese wurden aber nicht in lokaler und zeitlicher Isolation, sondern in einem breiten internationalen und historischen Kontext präsentiert. Dahinter stand nicht nur das Bestreben, die geringe Internationalität des Wettbewerbs zu bemänteln und Berlin als eine führende Hauptstadt im Konzert der imperialen Weltmächte darzustellen, sondern vor allem die Überzeugung der Fachwelt, dass guter Städtebau nur im internationalen Austausch und mit breiter historischer Kenntnis entstehen könne. So zeigte die Ausstellung auch die städtebauliche Entwicklung Berlins seit dem 17. Jahrhundert. Daneben waren zahlreiche in- wie ausländische Städte nicht nur mit aktuellen Planungen, sondern auch mit historischen Ansichten vertreten. Neben den Städten hatten auch zahlreiche Architekten und Ingenieure sowie Baufirmen, Gesellschaften und Vereine aus allen Teilen der Welt mit Exponaten teilgenommen. Dementsprechend vielfältig waren die gezeigten Ausstellungsstücke: natürlich viele Pläne, aber nicht weniger Ansichten; daneben erste Statistiken und Diagramme, immer wieder auch Architekturdarstellungen und detaillierte Ansichten städtebaulicher Ensembles – und nicht zuletzt Modelle, von der Gesamtstadt bis zum einzelnen Bauwerk.
Während 1910 nur ein kurzer Führer zur Ausstellung erschien, wurde 1911 und 1913 von Werner Hegemann ein zweibändiger Katalog unter dem Titel „Der Städtebau nach den Ergebnissen der Allgemeinen Städtebau-Ausstellung in Berlin nebst einem Anhang: Die internationale Städtebau-Ausstellung in Düsseldorf“ im einschlägigen Wasmuth-Verlag herausgegeben, mit stolzen 425 Abbildungen. Er war allerdings weniger eine Dokumentation als eine teilweise polemische und einseitige Interpretation.
Die Ergebnisse des Wettbewerbs waren keinesfalls ein Plädoyer gegen die Großstadt, sondern orientierten auf deren Verbesserung und Rationalisierung, auf eine gestufte Großstadt mit einer monumentalen Mitte, mit reformierten urbanen Baublöcken in der Innenstadt und mit Garten-Vororten um kleine Zentren im suburbanen Raum. Angesichts der Konkurrenzverhältnisse des privaten Städtebaus war an eine Umsetzung der meisten Vorschläge jedoch nicht zu denken. Eine Voraussetzung der Umsetzung solcher Visionen wäre der Zusammenschluss aller beteiligten Gemeinden gewesen. Darauf musste Berlin allerdings noch zehn Jahre warten – bis 1920.
So international die Ausstellung war, so sehr war sie Teil eines breiten Diskurses, der sich weltweit in Städtebauausstellungen und -konferenzen manifestierte. Nationale Schulen formierten sich im Rahmen eigener nationaler Kongresse und Ausstellungen. Beispiele hierfür waren etwa die erste deutsche Städte-Ausstellung mit Kongress 1903 in Dresden, dann die ab dem Londoner Kongress 1907 in England wiederholten National Town Planning Conferences zur Garden City oder die National Conferences on City Planning, die ab dem Kongress 1909 in Washington jährlich in den USA stattfanden. Diese nationalen Veranstaltungen wurden von großen internationalen Kongressen flankiert, an denen derselbe Kreis von Städtebauexperten teilnahm. Dort wurde zum einen das Bild nationaler Eigenarten international verbreitet, andererseits fand ein globaler Austausch statt, der zu internationalen Entsprechungen führte. Mit der Allgemeinen Städtebau-Ausstellung in Berlin und mit der vom Royal Institute of British Architects im Oktober veranstalteten Town Planning Conference and Exhibition in London bildete das Jahr 1910 einen ersten Höhepunkt dieser internationalen Treffen. Gefolgt wurden diese Ereignisse vom Premier congrès international et exposition comparée des villes, der 1913 im Rahmen der Weltausstellung in Gent stattfand. Das Schicksal dieser Ausstellung markiert drastisch den Einschnitt, den der Erste Weltkrieg für die internationale städtebauliche Kultur bedeutete: Sie versank zusammen mit dem Frachter „Emden“ 1914 im Pazifischen Ozean.
Kurswechsel zur Moderne – und zurück
Nach dem Ersten Weltkrieg lebte eine Polarisierung wieder auf, die bereits im 19. Jahrhundert angelegt war. Auf der einen Seite stand die Utopie der „neuen Stadt“ (auch der Stadt außerhalb der Stadt), die bis auf die Entwürfe der „utopischen Sozialisten“ (Robert Owen, Charles Fourier, Jean-Baptiste André Godin und andere) zurückging und bis zur internationalen Gartenstadt-Bewegung reichte. Auf der anderen Seite wurde die Reorganisation der vorhandenen Stadt verfolgt, die technische, hygienische und baulich-räumliche Modernisierung und Erweiterung der Städte, für die etwa die berühmten Beispiele Wien (Eduard van der Nüll u.a.), Paris (Georges Eugène Haussmann) oder Barcelona (Ildefons Cerdà) standen. Sie waren um 1910 nicht vergessen, und die in der Städtebau-Ausstellung gezeigten, besonders die im Wettbewerb 1910 prämierten Beiträge waren ganz überwiegend an dieser Modernisierung orientiert. Sie wurde erweitert um eine komplexere Sichtweise, die die Stadtregion zur Grundlage hatte und damit deren gestaltenden Kräften, dem Schnellbahnsystem und dem Großstadtgrün, besondere Bedeutung beimaß. Infolge der Ausstellung richteten weitere Technischen Hochschulen Lehrstühle für Städtebau ein, 1922 entstand die „Freie Akademie des Städtebaus“ (heute Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung).
Es mag verwundern, dass die Entwicklung, die zu dem Höhepunkt von 1910 geführt hatte, mit dem Ersten Weltkrieg so weitreichend abbrach. Der Krieg öffnete ein neues Fenster, das des „modernen Städtebaus“, international an erster Stelle vertreten durch die CIAM (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne). Aber selbst der Hauptakteur der Städtebau-Ausstellung, Werner Hegemann, hat mit seinem bekannten Buch „Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietkasernenstadt der Welt“ 1930 den Kurswechsel befördert. Die vorhandene Stadt und die Architekten und Stadtplaner, die sich bis dahin mit ihrer Reformierung beschäftigt hatten, wurden scharf angegriffen. Die „Avantgarde“ präsentierte radikale Versionen einer besseren Stadt: Diese reichten von Le Corbusiers „Plan voisin“ für Paris (1925) über Hans Scharouns „Kollektivplan“ für Berlin (1946) bis zur „Gegliederten und aufgelockerten Stadt“ von Johannes Göderitz, Roland Rainer und Hubert Hoffmann (1945, publiziert 1957). Die beiden Richtungen bestanden zwar weiterhin nebeneinander, aber der „moderne Städtebau“ dominierte in der Praxis wie in der Theorie und Ideologie. Er war durch eine oft sektorale, funktionstrennende Sicht- und Arbeitsweise geprägt, die Geschichte und Form der Stadt und den öffentlichen Raum (zum Teil explizit) vernachlässigte.
Erst seit den 1970er und 1980er Jahren zeigte sich von Neuem ein sichtbarer Einfluss der Ausstellung von 1910 auf die Disziplin des Städtebaus. Mit der wachsenden Krise des „modernen Städtebaus“ wurde der vor-moderne Städtebau wieder entdeckt. Nun sollten Lehren aus seinen realisierten Projekten, seinen Plänen und Botschaften gezogen werden, nicht zuletzt durch das Studium der gut dokumentierten Ergebnisse der Ausstellung von 1910.
1910 und 2010 – vom PRO zum RE
Vor 100 Jahren wurden die beeindruckenden Planungen für Chicago weltweit gefeiert, Paris und London rückten in das Zentrum der Debatten um die urbanistische Zukunft der Weltstädte, und die Berliner Ausstellung zeigte Planungen, bei denen die wichtigsten Fragen der Zeit in einer stadtregionalen Sicht zusammengeführt wurden. Spielen heute diese Kultorte des Städtebaus von gestern immer noch oder wieder eine Rolle? Können sie, angesichts des Hypes um die „Endless-Cities“ von Shanghai über Dubai bis São Paulo, der die Entwicklungen in den früh industrialisierten Regionen dieser Welt in den Hintergrund treten lässt, auch Antworten auf die drängenden Fragen unserer Gegenwart geben? Die Metropolen der Alten Welt haben sich heute den Herausforderungen gestellt – wenngleich weit mehr im Schatten globaler Aufmerksamkeit als vor 100 Jahren.
Die Themenfelder von damals ähneln denen von heute, die Vorzeichen haben sich allerdings drastisch geändert: Damals stand alles unter dem Verdikt einer rationalen Gestaltung des uneingeschränkten Wachstums der Städte, der Lenkung von Prosperität und Progression. Heute stehen der soziale und ökologische Umbau der Stadtregion, ihre Reurbanisierung und Revitalisierung, perspektivisch sogar ihre Schrumpfung, auf der Tagesordnung. Die Gegenüberstellung von 1910 und 2010 offenbart einen Jahrhundertschritt vom „Pro“ zum „Re“, wie dies der Kulturphilosoph Wilhelm Schmid bezeichnet. Er umreißt damit treffend die historische Phase, in der die „Re-Labels“ die Debatten dominieren und die Reflexion der Moderne mit ihren „PRO-Zeichen“ (PROgress, PROduktivität, PROgnose etc. – also Fortschrittsglaube) abzulösen beginnen: REcycling, REnaturierung, Urban REnaissance, REvitalisierung etc. So grobmaschig die Gegenüberstellung zunächst auch erscheinen mag, sie kann doch den Blick für einen globalen Prozess öffnen, der erneut in den früh industrialisierten Ländern beginnt, vielleicht auch andere erreicht und sicher von dort durch neue Themen bereichert und in Frage gestellt werden wird.
Abschließend sei die Frage aufgeworfen, welche der heutigen Themen des Städtebaus wohl noch in 100 Jahren eine Bedeutung haben werden? Es wird – wenn überhaupt – nicht einfach sein, Themenlinien aufzumachen, da sich der Bogen nicht mehr so klar wie heute vom beginnenden zum vollendenden Industriezeitalter spannen lassen dürfte – der „Bogen“ wird überspannt sein. Vermutlich wird der Umbau des Sprawl, des Siedlungssystems insgesamt, ein großes Gewicht in der Debatte haben. Es wird vielleicht um die Frage der Sicherung von Kernelementen städtebaulicher Kultur im Kontext einer dann insgesamt geschrumpften Weltbevölkerung und geschrumpfter Ressourcen gehen. Dabei könnten gerade die mittelgroßen Metropolen und Stadtregionen der altindustriellen Welt eine wichtige Impulsgeberrolle spielen.
Im Vorbereitungsausschuss zur Ausstellung wirkten so illustre Personen wie Ernst von Borsig und Werner von Siemens mit, aber auch kommunale Vertreter wie die Oberbürgermeister von Charlottenburg, Rixdorf und Wilmersdorf. Ein Groß-Berlin, wie wir es heute kennen, gab es damals noch nicht. Präsident der Ausstellung war der Berliner Oberbürgermeister Martin Kirschner. Generalsekretär war Werner Hegemann, der zugleich als bester Kenner des US-amerikanischen Städtebaus die Brücke über den Atlantik schlug.
Die Städtebau-Ausstellung in Berlin fasste das damalige Wissen über den Städtebau zusammen. Sie verdeutlichte, dass Städtebau weit mehr ist als Form, dass aber die Form den Kern des Städtebaus bildet, und dass Städtebau ohne den Austausch historischer und internationaler Erfahrungen undenkbar ist. In der damaligen Auseinandersetzung über den Charakter des Städtebaus – Kunst oder Wissenschaft – war die Botschaft eindeutig: Städtebau ist Kunst, Wissenschaft und Ingenieurleistung zugleich. Stadtplanung wurde in diesem Kontext als Teil des Städtebaus verstanden. Auf der Ausstellung spielten erstmals zentrale Figuren der neuen Städtebaudisziplin eine Schlüsselrolle, „Star-Städtebauer“ der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Dazu gehörten Daniel Burnham aus Chicago, Raymond Unwin aus London, Eugène Hénard aus Paris sowie Hermann Jansen und Josef Stübben aus Berlin. Mit der großen Ausstellung in Berlin 1910 hatte sich das Fachgebiet „Städtebau“ international durchgesetzt und etabliert.
Der Wettbewerb Groß-Berlin 1908/10
Als die Allgemeine Städtebau-Ausstellung im Mai 1910 in der Hochschule für die Bildenden Künste in Charlottenburg eröffnet wurde, hatten ihre Organisatoren kaum mehr denn ein halbes Jahr der Vorbereitung hinter sich. Erst kurz vor Einsendeschluss des Wettbewerbs Groß-Berlin im Dezember 1909 war entschieden worden, die Präsentation der Konkurrenzentwürfe zu einer den Städtebau in seinem ganzen Umfang darstellenden Schau auszuweiten, um den Nutzen „für alle, die aus baukünstlerischen, wirtschaftlichen und politischen Gründen bei der Ausgestaltung von Groß-Berlin mitzuwirken berufen sind, noch zu steigern“, wie das Zentralblatt der Bauverwaltung vermeldete. Offensichtlich wurde damit aus einer Not eine Tugend gemacht. Allzu deutlich hatte sich abgezeichnet, dass der Wettbewerb trotz über einjähriger Bearbeitungszeit und ansehnlicher Preisgelder nicht die Beteiligung fand, die sich die Auslober gewünscht und die Presse erwartet hatte. Fristgerecht liefen nur fünfzehn Beiträge ein. Die überregionale Beteiligung war gering, das internationale Interesse verschwindend. Liest man die Liste der Teilnehmer, dann finden sich neben dem Franzosen Léon Jaussely und einigen der Preisträger – Josef Brix und Felix Genzmer, Rudolf Eberstadt, Albert Gessner, Hermann Jansen, Bruno Möhring, Bruno Schmitz – keine bekannten Namen. In der offiziellen Beurteilung listete das Preisgericht zwar „27 Entwürfe“ auf, sieben davon waren allerdings nur „Teilentwürfe“, während bei zwei weiteren der geforderte Erläuterungsbericht fehlte.
Die Anfänge des Wettbewerbs Groß-Berlin reichten ins Jahr 1900 zurück, als die „Vereinigung Berliner Architekten“ unter dem Eindruck der Pariser Weltausstellung desselben Jahres eine städtebauliche Kommission zur Verschönerung Berlins gebildet hatte, das damit erstmals über seine Stadtgrenzen hinaus als Großraum gedacht werden sollte. Wirkliche Dynamik aber erhielt die Diskussion erst ab 1906, nachdem die Volkszählung des Vorjahres der virulenten Kritik am ungeregelten Wachstum der Stadt eine erschreckende statistische Basis gegeben hatte. Unter Mitarbeit der zweiten berufsständischen Organisation, des „Architekten-Vereins zu Berlin“, wurde im Herbst 1906 der „Architekten-Ausschuss Groß-Berlin“ unter Vorsitz von Otto March gegründet. March war zwar selbst kein Städtebauer, schien aber als unter Kollegen, in der Stadt und nicht zuletzt bei Hofe anerkannter Architekt und Professor der Technischen Hochschule zum einflussreichen Moderator besonders geeignet. 1907 veröffentlichten beide Vereine gemeinsam „Anregungen zur Erlangung eines Grundplanes für die städtebauliche Entwicklung Groß-Berlins“ – gemeint war schon der Wettbewerb.
Otto March gelang es trotz anfänglicher Distanz der Behörden, sowohl den Berliner Magistrat als auch die umliegenden Städte Charlottenburg, Schöneberg, Rixdorf, Wilmersdorf, Lichtenberg, Spandau und Potsdam sowie die Landkreise Teltow und Niederbarnim für das Projekt und dessen weitere Finanzierung zu gewinnen. Damit hatte sich allerdings nicht nur die Zahl, sondern auch die Interessenslage der Akteure verschoben, die nun über die Architekten-Vereine hinaus auch aus Fachpresse, Bauverwaltung und Politik stammten. Der Wettbewerb hatte sich ein gutes Stück fort von der Architektur und hinein ins Feld der Strukturplanung begeben und forderte von seinen Teilnehmern nichts Geringeres, als „eine einheitliche, großzügige Lösung zu finden sowohl für die Forderungen des Verkehrs als für diejenigen der Schönheit, der Volksgesundheit und Wirtschaftlichkeit“. Dass dieser höchst komplexe und damals neue, eine disziplinenübergreifende Kooperation erfordernde Anspruch viele und vor allem auswärtige Teilnehmer fernhielt, braucht ebenso wenig zu verwundern wie die Tatsache, dass die ersten Plätze sämtlich von Architekten und Planern errungen wurden, die seit vielen Jahren im Groß-Berlin-Projekt engagiert waren.
Frischen Wind in die Planung der Ausstellung brachte als „Generalsekretär“ Marchs Neffe Werner Hegemann. Nicht Architekt, sondern Nationalökonom, konnte der erst 28-Jährige beträchtliche internationale Erfahrungen vorweisen. Er hatte in Berlin, Paris und Philadelphia studiert, in München promoviert und war auch danach wiederholt in die USA gereist, wo er mit Daniel H. Burnham, den Brüdern John Charles und Frederick Law Olmsted jr. oder Charles Mulford Robinson führende amerikanische Landschafts- und Stadtplaner kennengelernt hatte. Seine internationale Vernetzung und sein kritischer Blick sorgten dafür, dass sich die Ausstellung weit von ihrem ursprünglichen Ziel entfernen sollte.
Die zentrale Botschaft der neuen Disziplin
Das kommunale Durcheinander, der zunehmende Großstadtverkehr, das Wohnungselend, die mangelnden Erholungsmöglichkeiten durch fehlende Grünräume und die unbefriedigende Gestaltung öffentlicher Räume – die Themen der Städtebau-Ausstellung waren die brennenden Probleme der Großstadtentwicklung jener Jahre. „Dabei darf jedoch die technische und wirtschaftliche Überwindung von der künstlerischen zeitlich nicht getrennt werden, um beide muss gleichzeitig gerungen werden“, hatte der Berliner Architekten- und Ingenieurverein den Bewerbern mit auf den Weg gegeben. Nur ein multidisziplinärer Zugriff, der ebenfalls die Gestaltung mit einbeziehe, könne die aktuellen Probleme der Großstädte lösen – das war die zentrale Botschaft der neuen Disziplin Städtebau, die sich von der vornehmlich ingenieurstechnischen Prägung der Stadtplanung des 19. Jahrhunderts lösen wollte.
Die Ausstellung zeigte, dass die Protagonisten des Städtebaus durchaus überzeugende Antworten auf die großen Herausforderungen der Zeit zu bieten hatten: urbane Alternativen zur überaus verdichteten Mietkasernenstadt, suburbane Alternativen in Form von Gartenstädten, eine bessere Organisation des Verkehrs durch ein System von Schnellbahnen und eine gesündere Umwelt durch mehr Freiflächen und Volksparks. Erstmals wurde so in umfassender Weise die neue städtebauliche Realität der Stadt-Region thematisiert. Diese Antworten waren keineswegs immer eindeutig oder konsensfähig. Die großen städtebaulichen Streitthemen der Zeit waren implizit oder explizit auf der Ausstellung präsent: privater oder öffentlicher Städtebau, urbaner oder suburbaner Städtebau?
Den Kern der Ausstellung bildeten die preisgekrönten und angekauften Beiträge zum Wettbewerb Groß-Berlin. Diese wurden aber nicht in lokaler und zeitlicher Isolation, sondern in einem breiten internationalen und historischen Kontext präsentiert. Dahinter stand nicht nur das Bestreben, die geringe Internationalität des Wettbewerbs zu bemänteln und Berlin als eine führende Hauptstadt im Konzert der imperialen Weltmächte darzustellen, sondern vor allem die Überzeugung der Fachwelt, dass guter Städtebau nur im internationalen Austausch und mit breiter historischer Kenntnis entstehen könne. So zeigte die Ausstellung auch die städtebauliche Entwicklung Berlins seit dem 17. Jahrhundert. Daneben waren zahlreiche in- wie ausländische Städte nicht nur mit aktuellen Planungen, sondern auch mit historischen Ansichten vertreten. Neben den Städten hatten auch zahlreiche Architekten und Ingenieure sowie Baufirmen, Gesellschaften und Vereine aus allen Teilen der Welt mit Exponaten teilgenommen. Dementsprechend vielfältig waren die gezeigten Ausstellungsstücke: natürlich viele Pläne, aber nicht weniger Ansichten; daneben erste Statistiken und Diagramme, immer wieder auch Architekturdarstellungen und detaillierte Ansichten städtebaulicher Ensembles – und nicht zuletzt Modelle, von der Gesamtstadt bis zum einzelnen Bauwerk.
Während 1910 nur ein kurzer Führer zur Ausstellung erschien, wurde 1911 und 1913 von Werner Hegemann ein zweibändiger Katalog unter dem Titel „Der Städtebau nach den Ergebnissen der Allgemeinen Städtebau-Ausstellung in Berlin nebst einem Anhang: Die internationale Städtebau-Ausstellung in Düsseldorf“ im einschlägigen Wasmuth-Verlag herausgegeben, mit stolzen 425 Abbildungen. Er war allerdings weniger eine Dokumentation als eine teilweise polemische und einseitige Interpretation.
Die Ergebnisse des Wettbewerbs waren keinesfalls ein Plädoyer gegen die Großstadt, sondern orientierten auf deren Verbesserung und Rationalisierung, auf eine gestufte Großstadt mit einer monumentalen Mitte, mit reformierten urbanen Baublöcken in der Innenstadt und mit Garten-Vororten um kleine Zentren im suburbanen Raum. Angesichts der Konkurrenzverhältnisse des privaten Städtebaus war an eine Umsetzung der meisten Vorschläge jedoch nicht zu denken. Eine Voraussetzung der Umsetzung solcher Visionen wäre der Zusammenschluss aller beteiligten Gemeinden gewesen. Darauf musste Berlin allerdings noch zehn Jahre warten – bis 1920.
So international die Ausstellung war, so sehr war sie Teil eines breiten Diskurses, der sich weltweit in Städtebauausstellungen und -konferenzen manifestierte. Nationale Schulen formierten sich im Rahmen eigener nationaler Kongresse und Ausstellungen. Beispiele hierfür waren etwa die erste deutsche Städte-Ausstellung mit Kongress 1903 in Dresden, dann die ab dem Londoner Kongress 1907 in England wiederholten National Town Planning Conferences zur Garden City oder die National Conferences on City Planning, die ab dem Kongress 1909 in Washington jährlich in den USA stattfanden. Diese nationalen Veranstaltungen wurden von großen internationalen Kongressen flankiert, an denen derselbe Kreis von Städtebauexperten teilnahm. Dort wurde zum einen das Bild nationaler Eigenarten international verbreitet, andererseits fand ein globaler Austausch statt, der zu internationalen Entsprechungen führte. Mit der Allgemeinen Städtebau-Ausstellung in Berlin und mit der vom Royal Institute of British Architects im Oktober veranstalteten Town Planning Conference and Exhibition in London bildete das Jahr 1910 einen ersten Höhepunkt dieser internationalen Treffen. Gefolgt wurden diese Ereignisse vom Premier congrès international et exposition comparée des villes, der 1913 im Rahmen der Weltausstellung in Gent stattfand. Das Schicksal dieser Ausstellung markiert drastisch den Einschnitt, den der Erste Weltkrieg für die internationale städtebauliche Kultur bedeutete: Sie versank zusammen mit dem Frachter „Emden“ 1914 im Pazifischen Ozean.
Kurswechsel zur Moderne – und zurück
Nach dem Ersten Weltkrieg lebte eine Polarisierung wieder auf, die bereits im 19. Jahrhundert angelegt war. Auf der einen Seite stand die Utopie der „neuen Stadt“ (auch der Stadt außerhalb der Stadt), die bis auf die Entwürfe der „utopischen Sozialisten“ (Robert Owen, Charles Fourier, Jean-Baptiste André Godin und andere) zurückging und bis zur internationalen Gartenstadt-Bewegung reichte. Auf der anderen Seite wurde die Reorganisation der vorhandenen Stadt verfolgt, die technische, hygienische und baulich-räumliche Modernisierung und Erweiterung der Städte, für die etwa die berühmten Beispiele Wien (Eduard van der Nüll u.a.), Paris (Georges Eugène Haussmann) oder Barcelona (Ildefons Cerdà) standen. Sie waren um 1910 nicht vergessen, und die in der Städtebau-Ausstellung gezeigten, besonders die im Wettbewerb 1910 prämierten Beiträge waren ganz überwiegend an dieser Modernisierung orientiert. Sie wurde erweitert um eine komplexere Sichtweise, die die Stadtregion zur Grundlage hatte und damit deren gestaltenden Kräften, dem Schnellbahnsystem und dem Großstadtgrün, besondere Bedeutung beimaß. Infolge der Ausstellung richteten weitere Technischen Hochschulen Lehrstühle für Städtebau ein, 1922 entstand die „Freie Akademie des Städtebaus“ (heute Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung).
Es mag verwundern, dass die Entwicklung, die zu dem Höhepunkt von 1910 geführt hatte, mit dem Ersten Weltkrieg so weitreichend abbrach. Der Krieg öffnete ein neues Fenster, das des „modernen Städtebaus“, international an erster Stelle vertreten durch die CIAM (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne). Aber selbst der Hauptakteur der Städtebau-Ausstellung, Werner Hegemann, hat mit seinem bekannten Buch „Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietkasernenstadt der Welt“ 1930 den Kurswechsel befördert. Die vorhandene Stadt und die Architekten und Stadtplaner, die sich bis dahin mit ihrer Reformierung beschäftigt hatten, wurden scharf angegriffen. Die „Avantgarde“ präsentierte radikale Versionen einer besseren Stadt: Diese reichten von Le Corbusiers „Plan voisin“ für Paris (1925) über Hans Scharouns „Kollektivplan“ für Berlin (1946) bis zur „Gegliederten und aufgelockerten Stadt“ von Johannes Göderitz, Roland Rainer und Hubert Hoffmann (1945, publiziert 1957). Die beiden Richtungen bestanden zwar weiterhin nebeneinander, aber der „moderne Städtebau“ dominierte in der Praxis wie in der Theorie und Ideologie. Er war durch eine oft sektorale, funktionstrennende Sicht- und Arbeitsweise geprägt, die Geschichte und Form der Stadt und den öffentlichen Raum (zum Teil explizit) vernachlässigte.
Erst seit den 1970er und 1980er Jahren zeigte sich von Neuem ein sichtbarer Einfluss der Ausstellung von 1910 auf die Disziplin des Städtebaus. Mit der wachsenden Krise des „modernen Städtebaus“ wurde der vor-moderne Städtebau wieder entdeckt. Nun sollten Lehren aus seinen realisierten Projekten, seinen Plänen und Botschaften gezogen werden, nicht zuletzt durch das Studium der gut dokumentierten Ergebnisse der Ausstellung von 1910.
1910 und 2010 – vom PRO zum RE
Vor 100 Jahren wurden die beeindruckenden Planungen für Chicago weltweit gefeiert, Paris und London rückten in das Zentrum der Debatten um die urbanistische Zukunft der Weltstädte, und die Berliner Ausstellung zeigte Planungen, bei denen die wichtigsten Fragen der Zeit in einer stadtregionalen Sicht zusammengeführt wurden. Spielen heute diese Kultorte des Städtebaus von gestern immer noch oder wieder eine Rolle? Können sie, angesichts des Hypes um die „Endless-Cities“ von Shanghai über Dubai bis São Paulo, der die Entwicklungen in den früh industrialisierten Regionen dieser Welt in den Hintergrund treten lässt, auch Antworten auf die drängenden Fragen unserer Gegenwart geben? Die Metropolen der Alten Welt haben sich heute den Herausforderungen gestellt – wenngleich weit mehr im Schatten globaler Aufmerksamkeit als vor 100 Jahren.
Die Themenfelder von damals ähneln denen von heute, die Vorzeichen haben sich allerdings drastisch geändert: Damals stand alles unter dem Verdikt einer rationalen Gestaltung des uneingeschränkten Wachstums der Städte, der Lenkung von Prosperität und Progression. Heute stehen der soziale und ökologische Umbau der Stadtregion, ihre Reurbanisierung und Revitalisierung, perspektivisch sogar ihre Schrumpfung, auf der Tagesordnung. Die Gegenüberstellung von 1910 und 2010 offenbart einen Jahrhundertschritt vom „Pro“ zum „Re“, wie dies der Kulturphilosoph Wilhelm Schmid bezeichnet. Er umreißt damit treffend die historische Phase, in der die „Re-Labels“ die Debatten dominieren und die Reflexion der Moderne mit ihren „PRO-Zeichen“ (PROgress, PROduktivität, PROgnose etc. – also Fortschrittsglaube) abzulösen beginnen: REcycling, REnaturierung, Urban REnaissance, REvitalisierung etc. So grobmaschig die Gegenüberstellung zunächst auch erscheinen mag, sie kann doch den Blick für einen globalen Prozess öffnen, der erneut in den früh industrialisierten Ländern beginnt, vielleicht auch andere erreicht und sicher von dort durch neue Themen bereichert und in Frage gestellt werden wird.
Abschließend sei die Frage aufgeworfen, welche der heutigen Themen des Städtebaus wohl noch in 100 Jahren eine Bedeutung haben werden? Es wird – wenn überhaupt – nicht einfach sein, Themenlinien aufzumachen, da sich der Bogen nicht mehr so klar wie heute vom beginnenden zum vollendenden Industriezeitalter spannen lassen dürfte – der „Bogen“ wird überspannt sein. Vermutlich wird der Umbau des Sprawl, des Siedlungssystems insgesamt, ein großes Gewicht in der Debatte haben. Es wird vielleicht um die Frage der Sicherung von Kernelementen städtebaulicher Kultur im Kontext einer dann insgesamt geschrumpften Weltbevölkerung und geschrumpfter Ressourcen gehen. Dabei könnten gerade die mittelgroßen Metropolen und Stadtregionen der altindustriellen Welt eine wichtige Impulsgeberrolle spielen.
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