Altstadtzerstörer?
Das Narva College von Kavakava Architekten
Text: Kasiske, Michael, Berlin
Altstadtzerstörer?
Das Narva College von Kavakava Architekten
Text: Kasiske, Michael, Berlin
Ein neues Unigebäude im Gewand einer vor 70 Jahren zerstörten Börse - Kavakava Architekten haben dort, wo einmal der Marktplatz des estnischen Narva war, eine eigenwillige Interpretation dieser Aufgabe entwickelt. Wie finden Sie das? Schreiben Sie der Redaktion Ihre Meinung.
Als wir am ehemaligen Rathaus um die Ecke biegen, verstehen wir, warum die freundliche junge Frau in der Touristeninformation uns „the interesting modern architecture“ nur zögernd empfohlen hat. (Das Café in der kürzlich fertiggestellten Hochschule sei übrigens auch sehr gut, schob sie hinterher.) Die Schaufassade, die sich vor uns aufbaut, ja, uns regelrecht entgegenkommt, ist zweifelsohne irritierend! „Schaufassade“ ist dabei keinesfalls despektierlich gemeint. Eine historisierende Front, genau genommen das Negativ einer solchen Front, mit einer trapezförmigen Auskragung über dem zweiten Obergeschoss, die gegenüber dem Fassadenschmuck ungeschlacht wirkt, beides in ein gespenstisches Weiß getaucht – das ist ein eindeutiges Bild und dennoch nicht aus dem Stand zu verstehen. Was auch an dem Ort liegt, an dem wir uns befinden: der Marktplatz von Narva, einst das Zentrum der estnischen Grenzstadt zu Russland, die bis zu ihrer völligen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg als „Perle des Barocks“ galt.
Als die Architekten Siiri Vallner, Indrek Peil und Katrin Koov im Jahr 2005 das Wettbewerbsgrundstück für den Neubau des „Narva College“ aufsuchten, fanden sie sich auf einer grünen Wiese wieder. Wo vormals eine dichte Bebauung aus dem 17. Jahrhundert stand, dominieren bis heute unverputzte Wohnzeilen in aufgelockerter Anordnung. Mit Ausnahme der Stadtbefestigung und einer Handvoll Häuser (etwa das als
Pionierheim wieder errichtete Rathaus) haben der Krieg und der hastige Wiederaufbau zur Ansiedlung russischer Arbeiter für neue Industriebetriebe die Vergangenheit in Narva ausgelöscht. Auch die Bevölkerung ist weitgehend ausgetauscht: Den geflohenen einheimischen Esten hatte man nach der Annexion des Landes durch die Sowjetunion lange die Rückkehr verweigert.
Pionierheim wieder errichtete Rathaus) haben der Krieg und der hastige Wiederaufbau zur Ansiedlung russischer Arbeiter für neue Industriebetriebe die Vergangenheit in Narva ausgelöscht. Auch die Bevölkerung ist weitgehend ausgetauscht: Den geflohenen einheimischen Esten hatte man nach der Annexion des Landes durch die Sowjetunion lange die Rückkehr verweigert.
Dass die Stadt dem Narva College für seinen Neubau den einstigen Standort der Börse direkt neben dem Rathaus anbot, zeigt die Wertschätzung für das Institut. An der 1999 gegründeten Dependance der Universität Tartu werden vor allem Lehrer ausgebildet, die Russisch unterrichten. Zwar ist Estnisch die Amtssprache, doch sind ein Viertel der Bevölkerung Estlands, in Narva sogar 95 Prozent der Einwohner russische Muttersprachler. Die Stadt wünschte sich ein Gebäude, das die Dimensionen der verschwundenen Börse aufnimmt. Doch genau deren Abwesenheit bildete den Ausgangspunkt des siegreichen Entwurfs der Tallinner Architekten. Der Standort der Börse selbst, an dem noch Teile des Kellers überdauert hatten, sollte unbebaut bleiben, die prachtvolle Repräsentationsarchitektur allerdings mit dem Neubau gewürdigt werden: durch einen Abdruck ihrer Rückfassade und des steilen Dachs. Aus Letzterem ergab sich die enorme Auskragung, die sich über den Vorplatz reckt. Das Rathaus, dessen Hauptfassade ehedem von der Börse teilweise verdeckt wurde, erhoben die Architekten durch diese Disposition beiläufig zur Dominante des Marktplatzes.
Von einer solchen Interpretation des Ortes musste sich eine Stadt brüskiert fühlen, die auf ihrer Website zumindest eine Teilrekonstruktion des alten Narva als eine ihrer wichtigsten Zukunftsaufgaben bezeichnet. Die Verantwortlichen unterstellten den Architekten, weil sie nicht aus Narva stammten, könnten sie den Wunsch nach Rückgewinnung des verlorenen Stadtbilds nicht nachvollziehen. Warum ausgerechnet von ihrer Generation die Wiederherstellung der alten Stadt erwartet würde, konterten die Anfang der 70er Jahre Geborenen. Inzwischen hatten sie im Stadtarchiv Blaupausen entdeckt, die zeigten, dass die Börse nach dem Krieg nur wenig zerstört war, einige Nachbarhäuser sogar noch Dächer hatten. Dennoch war alles abgeräumt worden. Würde eine heute vorgenommene Rekonstruktion in fünfzig Jahren nicht genauso verwegen erscheinen, gaben die Architekten zu bedenken.
Ihre Argumentation fand kein Gehör. Die Stadt suchte mit verschiedenen Kompromissangeboten nach einem Ausweg aus dem Dilemma, sie schlug vor, auf die Auskragung zu verzichten oder das Gebäude an anderer Stelle zu bauen. Doch die Architekten beharrten auf der Erinnerung an die Börse an genau diesem Ort – andernfalls hätte der Entwurf jeglichen Sinn verloren. Die Universität Tartu als Bauherr unterstützte sie. Und so konnte, nach fünfjähriger Verzögerung und einer gerichtlich durchgesetzten Baugenehmigung, 2010 mit dem Bau begonnen werden.
Zwei Jahre später wurde das Unterrichtsgebäude eröffnet. In seinem Innern erinnert, abgesehen von einer Fotoausstellung, nichts an die Geschichte des Ortes. Das Foyer, das vom Vorplatz (der über dem denkmalgerecht wiederhergestellten Kellergewölbe liegt) durch die Schaufassade betreten wird, empfängt den Besucher als weitläufiger, komplexer Raum, der sich hinter einer Kaskade von Sitzstufen in den Innenhof öffnet. Der Hof ist Mittel- und Orientierungspunkt der Erschließung aus Rampen und Treppen. Die Seminarräume lagern sich daran an oder sind über ebenfalls zum Hof hin offene Galerien zu erreichen. Der ungewöhnlich zugeschnittene Dachraum, der sich durch die Auskragung ergab, wird geschickt für die Bibliothek genutzt. Das gut sortierte Café – auch diese Empfehlung des Tourismusbüros traf zu – befindet sich im Erdgeschoss mit Blick in den Hof, dessen gegenüberliegendes Ende ein schmiedeeisernes Gitter begrenzt. In dem Gitter sind Motive eines in Südamerika heimischen Schmetterlings namens Narva eingearbeitet. Mit dieser Handwerksarbeit und dem unter dem dünnen Putz sichtbar gebliebenen Mauerwerk sind die Architekten dem Wunsch der Stadt nachgekommen, die drei frei gestalteten Fassaden des Hauses möglichst dem historischen Stil anzunähern. Deshalb haben sie auch überwiegend Hochformate für die Fenster gewählt, die lediglich in der Laibungstiefe variieren.
Die Architekten haben die Absicht, das Schicksal der Stadt durch unmittelbare Wahrnehmung erfahrbar zu machen, direkt und dennoch ästhetisch feinsinnig eingelöst. Die schwellenfreie Zugänglichkeit tut ihr Übriges, dem schroff und rückständig wirkenden Narva die Tür ins Estland der Gegenwart (ein kommunikationstechnisch hoch ausgestattetes Land) zu öffnen. Ob der Neubau eine wie auch immer geartete städtische Entwicklung anregt? Bei der jungen Frau vom Tourismusbüro bedanken wir uns jedenfalls für ihre Tipps, und wir meinen, in ihrem Gesicht so etwas wie Stolz zu erkennen.
0 Kommentare