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Der neue Bürgersinn – Brasiliens Gesellschaft als Modell?

Text: Brinkmann, Jens, Berlin

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Massenprotest in Rio auf dem Weg zum Rathaus am 20. Juni
Foto: Carlos Dias B. Xavier

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Massenprotest in Rio auf dem Weg zum Rathaus am 20. Juni

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Im Mai dieses Jahres protestierten Indios im brasilianischen Parlament für ihre Rechte. Sie befürchten, dass ihnen Land genommen wird.
Foto: Reuters/Valter Cam­panato

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Im Mai dieses Jahres protestierten Indios im brasilianischen Parlament für ihre Rechte. Sie befürchten, dass ihnen Land genommen wird.

Foto: Reuters/Valter Cam­panato


Der neue Bürgersinn – Brasiliens Gesellschaft als Modell?

Text: Brinkmann, Jens, Berlin

Was verbindet die Massenproteste dieses Jahres, radelnde Familien im Zentrum von São Paulo, Indios im brasilianischen Parlament, den Milliardär Philip Yang und ein neues Museum in Vitória miteinander? Was wissen wir über Brasilien, das Land im Aufbruch, immer auf der Suche nach sich selbst? 
Welche Auswirkungen hatte die positive wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahre auf die brasilianische Gesellschaft und das Bild Brasiliens in der Welt? Die These eines neuen Bürgersinns in Brasilien scheint mir eine wichtige Entwicklung, zu der einige Überlegungen bei­gesteuert werden sollen.

Für das Verständnis der heutigen gesellschaftlichen Situation in Brasilien ist es wichtig, mehr über die jüngsten wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen zu erfahren. Auch die Welle von Massenprotesten in diesem Jahr ist Ausdruck dieser Entwicklung. Sie stellt eine Herausforderung an das demokratische System dar und erfordert politische Reaktionen mit Weitsicht. Der Erfolg der Bewegung zeigt auch die Stärke der heutigen Bürgergesellschaft und einer gewachsenen demokratischen Kultur im ganzen Land. Der neue Bürgersinn ist da­bei hauptsächlich ein städtisches Phänomen. Am Beispiel São Paulos möchte ich dieses Engagement und einige Protagonisten vorstellen. Von dort aus könnte der Anstoß zu weiteren gesellschaftlichen Veränderungen ausgehen.
Die neue Mittelschicht
Die Rolle als Einwanderungsland und Schmelztiegel unterschiedlicher Ethnien hat Brasilien im letzten Jahrhundert stark geprägt. Die europäische Finanz- und Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre hat die Immigration erneut verstärkt. Dabei lockt der brasilianische Wirtschaftsboom vor allem Portugiesen und Spanier, aber auch Chinesen und die Nachbarn, Bolivianer und Paraguayer an. Prognosen sehen das Land in naher Zukunft auf Platz fünf der weltweit führenden Indu­strienationen.
Heute werden mehr als die Hälfte der etwa 200 Millionen Einwohner Brasiliens zur Mittelschicht gezählt. Im Jahr 2003 kündigte der damalige brasilianische Präsident Inácio Lula da Silva ein nationales Wirtschafts- und Sozialprogramm an, das die Voraussetzungen für den heutigen ökonomischen Wandel Brasiliens schuf und großen Einfluss auf die Senkung ungleicher Einkommensverteilung hatte. Gehälter und Rentenansprüche, vor allem unterer Einkommensgruppen, haben sich in den letzten Jahren entscheidend verbessert. Staatliche Förderprogramme wie „Fome Zero“ (Null-Hunger), das Wohnungsbauprogramm „Minha Casa, Minha Vida“ (Mein Haus, mein Le­ben) haben sich positiv auf das Leben der ärmeren Bevölkerung ausgewirkt. Das Programm „Bolsa Família“ (finanzielle Unterstützung für Familien), von dem allein 50 Millionen Menschen profitiert haben, ist weltweit das größte Sozialprogramm dieser Art. Die politischen und sozialen Auswirkungen der Umverteilung werfen jedoch auch Fragen auf, und der Beweis der lang anhaltenden Wirkung dieser Entwicklung steht noch aus.
Unstrittig ist, dass es entscheidender Impulse bedurfte, der historisch bedingten Ungleichheit zu begegnen. Trotzdem muss dem ökonomischen Wandel auch ein sozial-kultureller Wandel folgen. Viele der Zuwendungen sind deshalb auch an bildungspolitische Maßnahmen, wie den obligatorischen Schulbesuch der Kinder hilfsbedürftiger Familien, geknüpft. Kritiker halten der brasilianischen Regierung vor, strukturelle Elemente des Problems der Ungleichheit nicht entschlossen genug anzugehen. So muss künftig entschiedener in das öffentliche Schulsystem investiert werden. Hierin liegt ein Schlüssel auf dem Weg zu sozialer Chancengleichheit. Kritische Stimmen sehen in den Sozialprogrammen allerdings auch die Gefahr einer langfristigen Abhängigkeit der Begünstigten, die, wie das Beispiel Venezuela zeigt, das politische System gefährden kann.
Massenproteste
Im Juni dieses Jahres demonstrierten Tausende in São Paulo gegen die Preiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr. Die Polizei reagierte mit Gewalt. Daraufhin gingen Millionen in ganz Brasilien auf die Straße und brachten ihren Unmut über die Missstände zum Ausdruck. Die Erhöhung der Fahrscheinpreise um 20 Centavos, von 3 Reais auf 3,20 Reais (umgerechnet 1,20 Euro), war nur der zündende Funke für den Beginn von Protesten. Die Preiserhöhung mag gering erscheinen, doch in Brasilien wird die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs als allgemeines Bürgerrecht großgeschrieben. Die spontane Besetzung zentraler Plätze und wichtiger Verkehrsinfrastrukturen waren Ausdruck von Protest, zugleich aber auch eine Rückeroberung des öffentlichen Raums. Das belegen die Bilder von den Demonstrationen auf der Avenida Paulista oder der Stadtautobahn in São Paulo.
Weil die Protestaufrufe durch digitale Medien verbreitet wurden, weiteten sich die Demonstrationen schnell auf andere Städte aus. Die gesellschaftlich relevanten Themen, die dabei zur Sprache kamen, gingen über den eigentlichen Anlass, die Preissteigerungen, hinaus. Neben fehlenden Investitionen im öffentlichen Nahverkehr, hohen Steuern und dem starken Anstieg der Mieten und Immobilienpreise, sind die immensen Ausgaben für undurchsichtige Großprojekte der Fußball-WM und der Olympischen Spiele, Korruption bei den Sportfunktionären und deren Straflosigkeit Probleme, die viele Menschen beschäftigen. Von einer WM für Reiche, anstelle von Investitionen in Gesundheit und Bildung war die Rede. Preiserhöhungen wurden zum Sinnbild für ganz Brasilien, das zunehmend unbezahlbar wird. Am Ende kamen auch Forderung nach mehr Rechten der Ureinwohner oder weniger Einfluss für den sehr dominanten Fernsehsender TV Globo hinzu.
Brasilianische Freunde berichteten mir, dass diese Aufweichung der Protestthemen als Zeichen von Willkürlichkeit gewertet wurde. Trotzdem zeigt die breite Beteiligung von Bürgern aus allen sozialen Schichten und Altersgruppen – Studenten, Lehrer, linke Aktivisten und Gewerkschaftler –, dass die gestellten Forderungen auf einer breiten gesellschaft­lichen Basis gründen und dringend politischer Handlungsbedarf besteht. Die Forderungen sind Ausdruck der gewachsenen politischen Kultur in der städtischen Gesellschaft des Landes und müssen gehört werden.
Die Stadt als Ort der Gemeinschaft
Für viele brasilianische Städte sind die Verbesserung der urbanen Lebensqualität und die Wiederentdeckung der Stadt als Ort der Gemeinschaft heute von zentraler Bedeutung. Auch die diesjährige Architektur-Biennale in São Paulo feiert ihr zehntes Jubiläum unter dem Motto „Cidade: Modos de Fazer, Modos de Usar“ (Städte bauen, Städte nutzen). Vor dem Hintergrund, dass heute 84 Prozent der Brasilianer in Städten leben und einer Prognose, die von 90 Prozent im Jahr 2050 ausgeht, möchten die Kuratoren Guilherme Wisnik, Ana Luiza Nobre und Ligia Nobre eine Diskussion über die Zukunft der brasi­lianischen Stadt anregen (Bauwelt 45.13). Bei einer Führung durch die Räume der künftigen Ausstellung im Centro Cultural São Paulo spricht Guilherme Wisnik davon, dass wegen „der wirtschaftlichen Entwicklung Brasiliens auf der einen Seite und des desolaten Zustands städtischer Strukturen (sie sind zu 70 Prozent ungeplant entstanden) auf der anderen Seite, nun der Moment gekommen sei, neu über die zukünftige Rolle von Architektur und Stadtplanung nachzudenken“. Die Wahl des neuen Ausstellungsortes sei Teil des Konzepts, das Architektur und Stadt einander näher bringen soll.
Neue Nutzungen und die Aufwertung der Potenziale des Stadtraums spielen dabei eine große Rolle. Aktuelles Beispiel in São Paulo sind die Fahrradwege (Ciclo Faixas), die jeden Sonntag zwischen 7 und 16 Uhr im ganzen Stadtgebiet ausgewiesen werden. Auf einer Tour mit dem eigenen Rad oder dem des Verleihs einer brasilianischen Großbank, kann man den öffentlichen Stadtraum aus einer ganz neuen Perspektive erfahren – ein nicht unwesentlicher Aspekt neben dem Spaß und der Freude am Radfahren. Wer die Stadt am Sonntag aus der Fahrradfahrerperspektive erlebt hat, wird am Montag mehr Rücksicht nehmen. Die Länge der Radwege ist seit der Einführung im Jahr 2009 stetig gestiegen und beträgt aktuell 160 Kilometer. 2012 kamen die für das Projekt symbolträchtigen Abschnitte Avenida Paulista und das historische Stadtzentrum hinzu.
Auch die Umwandlung der Hochstraße Presidente Costa e Silva (genannt Minhocão) in den Parque Minhocão ist ein Beispiel der aktuellen Stadtdebatte. Die 3,4 Kilometer lange Straße wurde 1970 eröffnet und zählt heute zu den großen Bausünden der Stadtentwicklung im Zentrum São Paulos. Schon seit 1976 ist sie nachts für den Verkehr gesperrt und steht seit einigen Jahren sonntags allen Bürgern für Freizeitak-tivitäten offen. Inspiriert vom Highline-Park in New York hat sich eine Bürgerbewegung gegründet, die mögliche Umnutzungsszenarien propagiert. Auch das Festival Baixo Centro (Im Zentrum) hat die Potenziale des Minhocão und der angrenzenden Stadtteile erkannt. Unter dem Motto „As ruas são para dançar“ (Die Straßen sind zum tanzen da) lädt die Gruppe mit Aktionen und Veranstaltungen dazu ein, den öffentlichen Raum neu zu inszenieren und zu bespielen.
Für den Architekten Marcelo Morettin wäre die Entwicklung „Stadt neu zu denken“ in São Paulo vor fünf Jahren noch unvorstellbar gewesen. Erst mit den jüngsten Ereignissen in Brasilien haben Ideen, Konzepte und Personen schließlich das Rathaus erreicht. Für ihn ist jetzt „die Stadt an der Reihe“. Eine dieser wichtigen Personen im derzeitigen Veränderungsprozess ist der seit 2012 amtierende Stadtbaudirektor Fernando de Mello Franco (Seite 44). Mit dem neuen Plano Diretor Estratégico 2013 (strategischer Stadtentwicklungsplan) hat er in diesem Jahr eine wichtige Grundlage für künftige Entwicklungen geschaffen. Ein erster Schritt in der Umsetzung ist der städtebauliche Realisierungswettbewerb „Projeto Tiête“, der mit öffentlich-privaten Partnerschaften zentrale Stadtgebiete umstrukturieren und neuen Wohnraum, öffentliche Infrastruktur und Grünräume schaffen soll.
Die allgemein übliche Praxis öffentlich-privater Großinvestitionen, die in der Vergangenheit häufig mit Korruption, enormen öffentlichen Kosten und fehlender baulicher Qualität verbunden war, wird jüngst durch einen neuen Protagonisten in Frage gestellt. Philip Yang, Sohn chinesischer Einwan-derer, ehemals Pianist und brasilianischer Diplomat, im brasilianischen Öl- und Gasgeschäft zu Reichtum gekommen, tritt mit sozialem Anspruch und dem Wunsch auf, den städtischen Wandel positiv zu beeinflussen und fordert so das etablierte System heraus. 2011 gründet er das Instituto de Urbanismo e Estudos para a Metrópole (URBEM), einen Think-tank für Stadtplanung und Metropolenstudien. In einem Interview im Kulturmagazin Piauí spricht er über seine Idee, die er mit URBEM Realität werden lassen will. „Als Pianist und Diplomat hatte ich das Gefühl von Mittelmäßigkeit. Mein Traum war es schon immer, einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten. Dabei habe ich die Divergenz zwischen den stadtplanerischen Ansätzen, die wir in Brasilien haben und den ökonomischen Machtstrukturen São Paulos gesehen. Sonderbarerweise gab es nie einen Dialog zwischen diesen beiden Welten. Schon als wir mit URBEM begannen, hatte ich das Gefühl, dass städtebauliche Projekte nur im großen Maßstab Sinn machen würden. Wenn es nur darum ginge, einzelne Gebäude zu bauen, würde das alles schiefgehen.“
Mit seinem Projekt Casa Paulista (Paulista-Haus) möchte Yang einen ersten, wichtigen Beitrag zur Verbesserung der städtischen Lebensumwelt in São Paulo leisten. Seine Idee, im Zentrum 20.000 neue Mietwohnungen für untere und mittlere Einkommen zu bauen, besitzt durchaus utopische Züge. In Anlehnung an Städte wie New York, Barcelona oder Kopenhagen beabsichtigt er, Wohnen und Arbeiten einander räumlich wieder anzunähern. Auch das Konzept für einen neuen Stadtraum, der sich durch breite Bürgersteige, mehr Sicherheit, weniger Verkehr und multifunktionale Angebote auszeichnet, ist dabei wegweisend. So könnte der Traum eines heterogeren Stadtzentrums in naher Zukunft Realität werden und als Modell für ähnliche Entwicklungen in anderen brasilianischen Städten dienen.
Integration durch Bildung und Kultur
In den Bemühungen um kulturelle und bildungspolitische Integration kann Brasilien auf eine lange Tradition zurückblicken. Ein sehr erfolgreiches Modell ist die Geschichte des Serviço Social do Comércio (SESC). Die Institution, gegründet 1946, und Träger von Kultur-, Sport- und Freizeiteinrichtungen im ganzen Land, wird durch eine Abgabe aller Handelsunternehmen in Brasilien finanziert. In den großen Städten gibt es diese Zentren heute in fast allen Stadtteilen, 35 sind es allein in São Paulo. Sie widmen sich unterschiedlichen Schwerpunkten und bieten, vergleichbar mit dem Konzept der Volkshochschule in Deutschland, Räume für Kurse, Lesungen und Musikveranstaltungen an. Konzept und Ideen des SESC-Programms wurden nicht zuletzt durch das SESC Pom­péia (1978–82) der Architektin Lina Bo Bardi weltberühmt (Seite 40).
Interessant ist auch das Konzept der Schul- und Gemeinschaftszentren CEU (Centro Educacional Unificado), die in São Paulo zwischen 2001 und 2003 gebaut wurden (Seite 40). Auch Programme für sozialen Wohnungsbau und das FDE-Schulprogramm der Landesregierung von São Paulo (FDE: Fundação para o Desenvolvimento da Educação) sind bemerkenswerte Entwicklungen der letzten Jahre. Jüngste Investitionen in Bildung- und Kultur umfassen Beispiele neuer Museen und Kulturinstitutionen, wie das in diesem Jahr in Rio de Janeiro fertiggestellte Museu de Arte do Rio (MAR) der Architekten Thiago Bernardes, Paulo und Bernardo Jacobsen. In São Paulo eröffnete 2012 das neue Tanz- und Musikzentrum Praça das Artes von Brasil Arquitetura. Im gleichen Jahr wurde mit dem Neubau für das Kulturzentrum des Instituto Moreira Salles – eine der größten privaten Kunst- und Kulturstiftungen Brasiliens – einer der spektakulärsten Architekturwettbewerbe der vergangenen Jahre entschieden, den Vinicius Andrade und Marcelo Morettin für sich entscheiden konnten. Dabei beschränken sich neue Projekte schon lange nicht mehr nur auf die großen Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro. Der Neubau der Fundação Iberê Camargo von Alvaro Siza wurde in Porto Alegre im Bundesstaat Rio Grande do Sul schon 2008 eröffnet (Bauwelt 43.2007). 2014 soll auch das Kunstforum Cais das Artes von Paulo Mendes da Rocha mit Metro Arquitetos in Vitória, im Bundesstaat Espírito Santo, fertiggestellt werden. Zu diesem neuen Kulturbau auf einem großen öffentlichen Platz am Wasser werden Ausstellungsräume, eine Bibliothek, Cafés und ein Theater gehören. Im Spannungsfeld zwischen Stadt, Natur und Hafen soll ein neuer öffentlicher Ort entstehen, der die historische Altstadt und die angrenzenden Stadtgebiete aufwertet. Mit dem Gebäude möchte die Stadt auch Paulo Mendas da Rocha ein Denkmal setzten, der 1928 in Vitória geboren wurde.
Vielfalt als positive Erfahrung
Wie könnte die Zukunft Brasiliens als demokratische Wertegemeinschaft in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts aussehen? Die neue Mittelschicht des Landes hat sich als breite Basis für die erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre erwiesen. Die Bürgerproteste dieses Jahres sind dabei Ausdruck einer starken demokratischen Kultur, die mehr Einfluss auf wichtige politische und gesellschaftliche Entscheidungen einfordert. Diese Forderung nach Mitbestimmung bietet die große Chance, dringende Probleme gemeinschaftlich zu lösen. Unpopuläre Maßnahmen werden notwendig sein, um Reformen des Wahlrechts und des Rentensystems, die Erhöhung des Renteneintrittsalters und der Lebensarbeitszeit umzusetzen. Anstatt die öffentlichen Ausgaben immer weiter zu erhöhen, müssen die Haushaltsmittel neu strukturiert und besser verteilt werden.
Besondere Bedeutung kommt der Stadt auch als künftigem Ort der Gemeinschaft zu. Für Paulo Mendes da Rocha liegt diese Zukunft in dem großen Vermächtnis Amerikas: der Verbindung von Architektur, Stadt und Natur. Er stellt sich eine Stadt für alle vor. Dafür ist die Integration aller Bewohner durch Bildung und Kultur eine fundamentale Voraussetzung. Nur wenn es in Zukunft gelingt, Chancengleichheit für alle Bürger zu schaffen, kann Brasilien langfristig erfolgreich sein. Dieser Wunsch nach Chancengleichheit ist vor allem der Wunsch nach Chancengleichheit in der Bildung. Brasilien vereint bis heute extreme kulturelle Gegensätze. Gesellschaftliche Vielfalt wird hier als positive Erfahrung wahrgenommen. Ein Beispiel dafür ist die Urbevölkerung, die trotz ihrer geringen Größe aktiver Teil der brasilianischen Bürgergesellschaft und der demokratischen Gesamtkultur ist. Das zeigte sich auf eindrückliche Weise, als im Mai dieses Jahres Hunderte Ureinwohner den Plenarsaal des brasilianischen Parlaments besetzten, um gegen eine Beschränkung ihrer territorialen Rechte zu protestieren.
Das eurozentrische Weltbild des letzten Jahrhunderts wird weiter an Bedeutung verlieren. Durch den veränderten Blickwinkel ergeben sich weltweit neue Beziehungsstrukturen. Brasilien gilt heute etlichen Ländern Südamerikas und Afrikas in vielerlei Hinsicht als Vorbild. Der brasilianische Historiker Roberto da Matta ist der Überzeugung, dass „die Welt viel brasilianischer sein wird, als es sich unsere Theoretiker im Traum hätten vorstellen können“.

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