Die andere Seite der Medaille: Reading the Riots
London 2012
Text: Till, Jeremy, London
Die andere Seite der Medaille: Reading the Riots
London 2012
Text: Till, Jeremy, London
London 2011 – fast genau ein Jahr vor Olympia gingen schockierende Bilder um die Welt. Sie zeigten randalierende Jugendliche, brennende High Streets und eine machtlose Polizei. Welches Muster offenbaren die Londoner Unruhen? Was waren die Ursachen für die Ausschreitungen? Und wie soll verhindert werden, dass sich solche Ereignisse wiederholen?
Räumlich betrachtet lassen sich Unruhen grob in zwei Kategorien einteilen. Da gibt es erstens Unruhen, die sich in den sozial am stärksten benachteiligten Vierteln abspielen und deutlich auf diese begrenzt bleiben. Zweitens aber gibt es Unruhen, die als direkte Konfrontation verschiedener Schichten in den Stadtzentren stattfinden. Zur ersten Gruppe gehören die Unruhen rund um Broadwater Farm im Londoner Tottenham (1985), jene in Los Angeles (1992) und in der Pariser Banlieue (2005). Beispiele für die zweite Kategorie sind die Poll Tax Riots in London (1989), die Unruhen in Manchester (2011) und in Detroit (1967; sie begannen zwar mit einer lokalen Auseinandersetzung, griffen aber schnell auf das angrenzende Universitätsviertel über). Die erstgenannte Kategorie von Unruhen ist für das Establishment am leichtesten zu beherrschen, sowohl in praktischer Hinsicht (weil sie sich eindämmen lassen) als auch in politischer (weil unterschwellig die Ansicht verbreitet ist, dass Arme/Schwarze/Arbeitslose zu Gewaltausbrüchen neigten und sich daran auch nichts ändern ließe).
Wenn die Unruhen in der Peripherie stattfinden, sich die „Benachteiligten“ also nur gegenseitig zusammenschlagen und nur ihre eigene Welt zerstören, bleibt die übrige Gesellschaft vergleichsweise ungestört, es interessiert kaum. Die zweite Kategorie von Unruhen hingegen, die das Zentrum sowohl räumlich als auch begrifflich besetzen, stellen ein größeres Problem dar, deswegen wird dagegen auch mit geballter institutioneller Härte vorgegangen, wie z.B. bei den Poll Tax Riots auf dem Londoner Trafalgar Square, bei den Londoner Studentendemonstrationen von 2010 oder bei den Occupy-Wall-Street-Demonstrationen 2011. Weil ungezügelte Unruhen im Zentrum eine starke Herausforderung darstellen, können sie aber auch echte Veränderungen bewirken. So wird den Poll Tax Riots – sie entzündeten sich an der als sozial ungerecht empfundenen Reform der Gemeindesteuer – weithin ein Einfluss auf den Sturz Margaret Thatchers zugeschrieben, und die Unruhen in Detroit führten dazu, dass sich die Zahl der Weißen, die die Stadt verließen, verdreifachte.
Die Topografie der Londoner Unruhen von 2011 fügt sich in keines der beiden Muster. Sie konzentrierten sich nicht auf den Kern der am meisten benachteiligten Gebiete, und sie ereigneten sich auch nicht im Stadtzentrum, vielmehr waren sie über das Stadtgebiet verteilt. Einzige Ausnahme war Tottenham, wo die ersten Unruhen ausbrachen. Der Auslöser, die Erschießung des jungen Londoners Mark Duggan durch Polizeikräfte, unterschied sich deutlich von denen der Gewaltausbrüche in den folgenden Nächten, die scheinbar beliebig aufflammten. Die Unruhen in Tottenham beschränkten sich auf ein sozial stark benachteiligtes Gebiet, die anschließenden Unruhen hingegen ereigneten sich an Punkten, wo unterschiedlich zusammengesetzte Bevölkerungen aufeinander treffen. Solche Stellen als „Verwerfungslinien“ zu bezeichnen, ist wahrscheinlich zu hoch gegriffen und zu reißerisch, damit würde impliziert, dass die Grenzen zwischen radikal verschiedenen Gebieten zwangsläufig solche Ereignisse hervorrufen.
London zeigt zwar eine enorme Spreizung bei sozialen Bevölkerungsindikatoren – in der Stadt leben sehr Wohlhabende und sehr Arme – aber diese Unterschiede zeichnen sich hier räumlich nicht so deutlich ab wie in anderen Städten, wo Reiche und Arme in der Regel getrennt voneinander in klar definierten Gebieten leben. Die Londoner Topografie sozialer Benachteiligung präsentiert sich als ein Flickenteppich. In vielerlei Hinsicht verdankt die Stadt ihre Lebendigkeit und Vielfalt gerade dieser Durchmischung. Diese Mischung gab aber offenkundig auch den Unruhen im Jahr 2011 ihren besonderen Charakter. Andere Städte, in denen 2011 gleichzeitig Unruhen ausbrachen (Birmingham, Manchester und Nottingham) zeigen eine konventionellere Abgrenzung zwischen Zentrum, Armen- und Reichenvierteln; in diesen Städten spielten sich die Unruhen entweder im Zentrum oder in den besonders benachteiligten Vierteln ab.
Extreme Handlungen an alltäglichen Orten
Die Londoner „Riots“ ereigneten sich nicht in Gebieten, die als Ausnahme von der Norm definiert sind, sondern in Gegenden, die gerade ihre Durchschnittlichkeit charakterisiert. Die leicht heruntergekommenen Areale der Hauptstraßen, in denen sich ein Großteil der Unruhen abspielte, sind für London so typisch, dass die meisten Einwohner sie als selbstverständlich ansehen und die Mischung aus Handy-Läden, Manikürestudios, Ein-Pfund-Läden und dergleichen gar nicht mehr wahrnehmen. Obschon sich derartige Hauptstraßen oft in randständigen Wirtschaftsbereichen einrichten und von den sozial Ausgegrenzten frequentiert werden, unterscheiden sie sich sehr deutlich von den geschlossenen Armutsarealen, die in anderen Städten den Schwerpunkt der Unruhen bildeten: Londons High Streets sind vielfältig und durchlässig, während die letztgenannten Areale isoliert und homogen sind. Sie bilden die Schnittstellen des Alltagslebens, der täglichen Einkäufe, des örtlichen Einzelhandels und der alltäglichen Begegnungen und sind ein Rest des im Sinne des Wortes öffentlichen Raums, der aus den übrigen Teilen unserer Städte weitgehend verdrängt wurde. Der „höherwertige“ Handel wurde entfernt und in private Einkaufszentren verlagert.
Mit den Aufständen brach die Distanz zwischen dem Außerordentlichen und dem Gewöhnlichen zusammen. Nach Sam Jacobs Ansicht „versetzten sie alltägliche städtische Aktivitäten in den außergewöhnlichen Zustand der Gesetzlosigkeit.“ Die fast hysterischen Reaktionen auf die Unruhen lassen sich auf diese Überlagerung des Gewöhnlichen durch das Außergewöhnliche zurückführen: Die Unvorhersagbarkeit des Ausbruchs und das Gefühl, dass solche Unruhen nahezu überall entstehen könnten – „am Ende meiner Straße“, wie damals viele Leute sagten –, lösten verständliche Furcht und ein Gefühl der Unsicherheit aus. Dieses Unsicherheitsgefühl wurde durch die Geschwindigkeit, mit der sich die Unruhen ausbreiteten, und ihre Unübersichtlichkeit noch verstärkt. Jacob bemerkt dazu: „Während traditionelle Unruhen ein Ziel haben, waren diese ohne Zentrum, ohne Mitte und ohne Ränder.“
Die Sackgasse des architektonischen Determinismus
Viele Kommentatoren versuchten in dem Muster der Unruhen, ungeachtet ihrer Unvorhersagbarkeit, einen räumlichen Determinismus zu finden. Wie bei den Unruhen rund um Broadwater Farm, 1985 im Londoner Vorort Tottenham, als eine ganze Reihe von Personen eine Verbindung zwischen verfallenden Wohnblocks und den „daraus resultierenden“ Unruhen herstellten, sahen die international agierenden Analytiker von Space Syntax 2011 einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Raumgefüge der Wohnanlagen aus der Nachkriegszeit und dem Ausbruch der Unruhen. Dieser architektonische Determinismus, der allzu geflissentlich politische und soziale Faktoren übersieht, spielt den Politikern in die Hände, die sehr erfreut sind, andere Faktoren als Erklärung für soziale Unruhen anführen zu können.
Ich möchte Georg Simmel bemühen, um diese Sackgasse des architektonischen Determinismus zu verlassen: Die Stadt ist keine räumliche Tatsache mit soziologischen Folgen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich im Raum formt. In ihrer Anpassung an den planlosen, verstreuten und vielfältigen Raum der alltäglichen Stadt sind die Londoner Unruhen deutlich als die „Intensivierung einer zugrundeliegenden Situation“ lesbar. Sie waren kein Ereignis in einem isolierten Raum oder zu einer bestimmten Zeit: Sie begannen sogar bei Tage, anders als typische Unruhen, bei denen Flammen, Schatten und schlechte Sicht bei Nacht sich zu einem filmischen Spektakel apokalyptischer Angst vereinen. Genau das ließ sie so beunruhigend und als ein drohendes Fanal erscheinen. Da, abgesehen von dem gewaltsamen Tod Mark Duggans, alle anderen Unruhen offensichtlich beliebig und ohne besonderen Anlass ausbrachen, bleibt die Frage, was solche Ausbrüche in der Zukunft auslösen oder wie sich aufhalten lassen können?
Unruhen gegen ein konkretes Ziel bieten eine simple Antwort auf diese Frage: Das Ziel wird beseitigt, die Council Tax tritt an die Stelle der verhassten Poll Tax oder das Gebiet Broadwater Farm wird sozial und räumlich verändert. Die neuen Londoner Unruhen bieten in ihrer Banalität und angesichts des Fehlens eines klaren Ziels keine leichten Möglichkeiten einzugreifen. Deswegen reduzieren sie Politiker auf „schlichte Kriminalität“, gegen die sich auch „schlicht und einfach“ mit Gesetzen vorgehen ließe. Aus genau diesem Grund reduziert Space Syntax die Unruhen auf einen räumlichen Determinismus, der eine räumliche Lösung der Probleme suggeriert. Schließlich sorgten Massenverhaftungen, Bürgerwehren und die Empörung der Medien, aber auch schwindende Kräfte und Gelegenheiten – mehrfach die gleiche Straße zu verwüsten, löst keinen Adrenalinschub aus – dafür, dass die Unruhen nach vier Tagen zu Ende gingen.
Broken Middle
Dass die Unruhen an den Nähten des Flickenteppichs der Gebiete sozialer Benachteiligung stattfanden, lässt vermuten, dass das Problem komplexer ist, als wenn sie inmitten von homogenen benachteiligten Vierteln entstanden wären, wo sich Ursache und Wirkung eingrenzen lassen und potenziell auch leichter Ansätze zur Abhilfe entwickelt werden können. Im Gegensatz zu Grenzen, die trennen und feste Regeln für ihre Überschreitung haben, verbinden und trennen Nähte die Stücke des Teppichs. Die Nähte der sozialen Benachteiligung durchziehen die Londoner Topografie wie ein Wurzelgeflecht (siehe Karte S. 56), das geprägt ist von Einwanderung, Eingemeindung früherer Dörfer, Zentren für Handel und Versorgung und vielen weiteren historischen Faktoren. Wären die Warenhäuser der Reichen das Ziel der Angriffe gewesen, ließen sie sich als eine gewöhnliche Revolte lesen; hätten sie sich gegen die Institutionen der Mächtigen gerichtet, wären sie als eine Form revolutionären Handelns zu verstehen. Stattdessen betrafen sie die Straßen und Läden, die die Akteure als Teil ihres eigenen Alltagslebens kannten – sie bedeuteten also keine revolutionäre Ausnahmesituation, sondern waren ein seltsam alltäglicher Gewaltausbruch gegen Läden, die Massenware (Turnschuhe, Flachbildfernseher) oder Konsumartikel zur Zerstreuung (Alkohol, Computerspiele) verkaufen.
Diese Tatsachen sprechen gegen eine einfache Schwarz-Weiß-Malerei, der Gegenüberstellung von „uns“ und „denen da“. Erstens bildeten die Nähte mit ihrer doppelten Funktion des Verbindens und Trennens und ihrem provisorischen Charakter als Demarkationslinien den idealen Schauplatz für die offenen, fließenden und unübersichtlichen Manöver der Gewalttäter. Die Form der Unruhen verband sich mit der Form des Raumes. Und zweitens legt die Tatsache, dass sich die Unruhen an den Grenzen von Gebieten unterschiedlicher sozialer Benachteiligung ereigneten den Schluss nahe, dass es sich bei ihnen im Kern um die räumliche Ausformung einer immer größer werdenden sozialer Ungleichheit handelte. Die sozialen Kennzahlen der Statistiken der letzten zehn Jahre zeigen eine weitere Spreizung der Unterschiede zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen. Bei den Londoner Unruhen trafen nicht die beiden Enden dieser Skala aufeinander, vielmehr ereigneten sie sich über deren gesamte Bandbreite. Die Unruhen brachen dort aus, wo das Band der sozialen Ungleichheit bis zum Zerreißen gespannt war, nicht an den Enden, sondern in den Räumen, wo Knappheit der Mittel und Überfluss an Wünschen, angeheizt vom Schauspiel des Konsums, aufeinandertreffen.
Wenn Zygmunt Bauman recht damit hat, eine solche „Kombination aus Konsumismus und wachsender Ungleichheit“ als Hintergrund der Unruhen auszumachen, dann sind diese durchschnittlichen Londoner Straßen als Inbegriff der „broken middle“ ihr natürlicher Schauplatz. Da die Besitzlosen in den privatisierten Räumen der Einkaufszentren überwacht werden und den öffentlichen Räumen im Stadtzentrum fremd gegenüberstehen, wandten sie sich anderen Zielen zu. Die Hauptstraßen sind ein ideales Terrain für Unruhen, hier kann einerseits Beute gemacht werden und andererseits ist ein leichtes Wechseln aus anderen oder in andere Gebiete möglich.
Unbequeme Wahrheiten
Die Schlussfolgerungen aus diesen Überlegungen sind ernüchternd. Die Unruhen entstanden in den Nischen der Stadt, die der Privatisierung entkommen sind und ein alltägliches öffentliches Leben bewahrt haben. Wer behauptet, dass die Unruhen der Preis seien, den wir zahlen müssen, wenn wir zumindest den Anschein öffentlichen Lebens aufrechterhalten wollen, spricht eine schreckliche, nicht akzeptierte Wahrheit aus. Wenn wir öffentlichen Raum haben wollen, müssen wir akzeptieren, dass es in ihm Konflikte gibt. Die „broken middle“, in der die Unruhen ausbrachen, lässt sich nicht leicht reparieren, denn die soziale Ungleichheit nimmt weiter zu und die Konsumreize werden immer verlockender. Damit bleiben die Bedingungen erhalten, die derartige „Intensivierungen des Alltäglichen“ jederzeit wieder auftreten lassen können. Die reflexhafte Reaktion der Stadt besteht darin, solche Orte noch stärker in den Griff zu nehmen – durch stärkere Kontrolle, mehr Überwachung und weitere Privatisierungen. Ich denke, dass genau der entgegengesetzte Weg eingeschlagen werden sollte. Wir brauchen mehr, nicht weniger städtische Freiheit, wenn wir die Symptome der Ungleichheit zügeln wollen.
Alle Anzeichen sprechen aber dafür, dass die offizielle Reaktion genau in die entgegengesetzte Richtung geht. Doch damit wird die Schlinge um den Hals eines Teils der Gesellschaft enger gezogen und die Gefahr noch heftigerer Ausbrüche heraufbeschworen. Die Alternative heißt, den sozialen Flickenteppich als das zu akzeptieren, was er ist: eine gesunde und ehrliche Mischung städtischen Raums. Die politische Lösung einer Verminderung der sozialen Ungleichheit fällt eindeutig nicht in die direkte Kompetenz der Stadtplanung, gleichwohl haben wir die Möglichkeit und sind verpflichtet, uns den Forderungen nach stärkerer Abgrenzung und weiteren Instrumenten zur Überwachung und Kontrolle der Städte zu widersetzen.
Wenn die Unruhen in der Peripherie stattfinden, sich die „Benachteiligten“ also nur gegenseitig zusammenschlagen und nur ihre eigene Welt zerstören, bleibt die übrige Gesellschaft vergleichsweise ungestört, es interessiert kaum. Die zweite Kategorie von Unruhen hingegen, die das Zentrum sowohl räumlich als auch begrifflich besetzen, stellen ein größeres Problem dar, deswegen wird dagegen auch mit geballter institutioneller Härte vorgegangen, wie z.B. bei den Poll Tax Riots auf dem Londoner Trafalgar Square, bei den Londoner Studentendemonstrationen von 2010 oder bei den Occupy-Wall-Street-Demonstrationen 2011. Weil ungezügelte Unruhen im Zentrum eine starke Herausforderung darstellen, können sie aber auch echte Veränderungen bewirken. So wird den Poll Tax Riots – sie entzündeten sich an der als sozial ungerecht empfundenen Reform der Gemeindesteuer – weithin ein Einfluss auf den Sturz Margaret Thatchers zugeschrieben, und die Unruhen in Detroit führten dazu, dass sich die Zahl der Weißen, die die Stadt verließen, verdreifachte.
Die Topografie der Londoner Unruhen von 2011 fügt sich in keines der beiden Muster. Sie konzentrierten sich nicht auf den Kern der am meisten benachteiligten Gebiete, und sie ereigneten sich auch nicht im Stadtzentrum, vielmehr waren sie über das Stadtgebiet verteilt. Einzige Ausnahme war Tottenham, wo die ersten Unruhen ausbrachen. Der Auslöser, die Erschießung des jungen Londoners Mark Duggan durch Polizeikräfte, unterschied sich deutlich von denen der Gewaltausbrüche in den folgenden Nächten, die scheinbar beliebig aufflammten. Die Unruhen in Tottenham beschränkten sich auf ein sozial stark benachteiligtes Gebiet, die anschließenden Unruhen hingegen ereigneten sich an Punkten, wo unterschiedlich zusammengesetzte Bevölkerungen aufeinander treffen. Solche Stellen als „Verwerfungslinien“ zu bezeichnen, ist wahrscheinlich zu hoch gegriffen und zu reißerisch, damit würde impliziert, dass die Grenzen zwischen radikal verschiedenen Gebieten zwangsläufig solche Ereignisse hervorrufen.
London zeigt zwar eine enorme Spreizung bei sozialen Bevölkerungsindikatoren – in der Stadt leben sehr Wohlhabende und sehr Arme – aber diese Unterschiede zeichnen sich hier räumlich nicht so deutlich ab wie in anderen Städten, wo Reiche und Arme in der Regel getrennt voneinander in klar definierten Gebieten leben. Die Londoner Topografie sozialer Benachteiligung präsentiert sich als ein Flickenteppich. In vielerlei Hinsicht verdankt die Stadt ihre Lebendigkeit und Vielfalt gerade dieser Durchmischung. Diese Mischung gab aber offenkundig auch den Unruhen im Jahr 2011 ihren besonderen Charakter. Andere Städte, in denen 2011 gleichzeitig Unruhen ausbrachen (Birmingham, Manchester und Nottingham) zeigen eine konventionellere Abgrenzung zwischen Zentrum, Armen- und Reichenvierteln; in diesen Städten spielten sich die Unruhen entweder im Zentrum oder in den besonders benachteiligten Vierteln ab.
Extreme Handlungen an alltäglichen Orten
Die Londoner „Riots“ ereigneten sich nicht in Gebieten, die als Ausnahme von der Norm definiert sind, sondern in Gegenden, die gerade ihre Durchschnittlichkeit charakterisiert. Die leicht heruntergekommenen Areale der Hauptstraßen, in denen sich ein Großteil der Unruhen abspielte, sind für London so typisch, dass die meisten Einwohner sie als selbstverständlich ansehen und die Mischung aus Handy-Läden, Manikürestudios, Ein-Pfund-Läden und dergleichen gar nicht mehr wahrnehmen. Obschon sich derartige Hauptstraßen oft in randständigen Wirtschaftsbereichen einrichten und von den sozial Ausgegrenzten frequentiert werden, unterscheiden sie sich sehr deutlich von den geschlossenen Armutsarealen, die in anderen Städten den Schwerpunkt der Unruhen bildeten: Londons High Streets sind vielfältig und durchlässig, während die letztgenannten Areale isoliert und homogen sind. Sie bilden die Schnittstellen des Alltagslebens, der täglichen Einkäufe, des örtlichen Einzelhandels und der alltäglichen Begegnungen und sind ein Rest des im Sinne des Wortes öffentlichen Raums, der aus den übrigen Teilen unserer Städte weitgehend verdrängt wurde. Der „höherwertige“ Handel wurde entfernt und in private Einkaufszentren verlagert.
Mit den Aufständen brach die Distanz zwischen dem Außerordentlichen und dem Gewöhnlichen zusammen. Nach Sam Jacobs Ansicht „versetzten sie alltägliche städtische Aktivitäten in den außergewöhnlichen Zustand der Gesetzlosigkeit.“ Die fast hysterischen Reaktionen auf die Unruhen lassen sich auf diese Überlagerung des Gewöhnlichen durch das Außergewöhnliche zurückführen: Die Unvorhersagbarkeit des Ausbruchs und das Gefühl, dass solche Unruhen nahezu überall entstehen könnten – „am Ende meiner Straße“, wie damals viele Leute sagten –, lösten verständliche Furcht und ein Gefühl der Unsicherheit aus. Dieses Unsicherheitsgefühl wurde durch die Geschwindigkeit, mit der sich die Unruhen ausbreiteten, und ihre Unübersichtlichkeit noch verstärkt. Jacob bemerkt dazu: „Während traditionelle Unruhen ein Ziel haben, waren diese ohne Zentrum, ohne Mitte und ohne Ränder.“
Die Sackgasse des architektonischen Determinismus
Viele Kommentatoren versuchten in dem Muster der Unruhen, ungeachtet ihrer Unvorhersagbarkeit, einen räumlichen Determinismus zu finden. Wie bei den Unruhen rund um Broadwater Farm, 1985 im Londoner Vorort Tottenham, als eine ganze Reihe von Personen eine Verbindung zwischen verfallenden Wohnblocks und den „daraus resultierenden“ Unruhen herstellten, sahen die international agierenden Analytiker von Space Syntax 2011 einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Raumgefüge der Wohnanlagen aus der Nachkriegszeit und dem Ausbruch der Unruhen. Dieser architektonische Determinismus, der allzu geflissentlich politische und soziale Faktoren übersieht, spielt den Politikern in die Hände, die sehr erfreut sind, andere Faktoren als Erklärung für soziale Unruhen anführen zu können.
Ich möchte Georg Simmel bemühen, um diese Sackgasse des architektonischen Determinismus zu verlassen: Die Stadt ist keine räumliche Tatsache mit soziologischen Folgen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich im Raum formt. In ihrer Anpassung an den planlosen, verstreuten und vielfältigen Raum der alltäglichen Stadt sind die Londoner Unruhen deutlich als die „Intensivierung einer zugrundeliegenden Situation“ lesbar. Sie waren kein Ereignis in einem isolierten Raum oder zu einer bestimmten Zeit: Sie begannen sogar bei Tage, anders als typische Unruhen, bei denen Flammen, Schatten und schlechte Sicht bei Nacht sich zu einem filmischen Spektakel apokalyptischer Angst vereinen. Genau das ließ sie so beunruhigend und als ein drohendes Fanal erscheinen. Da, abgesehen von dem gewaltsamen Tod Mark Duggans, alle anderen Unruhen offensichtlich beliebig und ohne besonderen Anlass ausbrachen, bleibt die Frage, was solche Ausbrüche in der Zukunft auslösen oder wie sich aufhalten lassen können?
Unruhen gegen ein konkretes Ziel bieten eine simple Antwort auf diese Frage: Das Ziel wird beseitigt, die Council Tax tritt an die Stelle der verhassten Poll Tax oder das Gebiet Broadwater Farm wird sozial und räumlich verändert. Die neuen Londoner Unruhen bieten in ihrer Banalität und angesichts des Fehlens eines klaren Ziels keine leichten Möglichkeiten einzugreifen. Deswegen reduzieren sie Politiker auf „schlichte Kriminalität“, gegen die sich auch „schlicht und einfach“ mit Gesetzen vorgehen ließe. Aus genau diesem Grund reduziert Space Syntax die Unruhen auf einen räumlichen Determinismus, der eine räumliche Lösung der Probleme suggeriert. Schließlich sorgten Massenverhaftungen, Bürgerwehren und die Empörung der Medien, aber auch schwindende Kräfte und Gelegenheiten – mehrfach die gleiche Straße zu verwüsten, löst keinen Adrenalinschub aus – dafür, dass die Unruhen nach vier Tagen zu Ende gingen.
Broken Middle
Dass die Unruhen an den Nähten des Flickenteppichs der Gebiete sozialer Benachteiligung stattfanden, lässt vermuten, dass das Problem komplexer ist, als wenn sie inmitten von homogenen benachteiligten Vierteln entstanden wären, wo sich Ursache und Wirkung eingrenzen lassen und potenziell auch leichter Ansätze zur Abhilfe entwickelt werden können. Im Gegensatz zu Grenzen, die trennen und feste Regeln für ihre Überschreitung haben, verbinden und trennen Nähte die Stücke des Teppichs. Die Nähte der sozialen Benachteiligung durchziehen die Londoner Topografie wie ein Wurzelgeflecht (siehe Karte S. 56), das geprägt ist von Einwanderung, Eingemeindung früherer Dörfer, Zentren für Handel und Versorgung und vielen weiteren historischen Faktoren. Wären die Warenhäuser der Reichen das Ziel der Angriffe gewesen, ließen sie sich als eine gewöhnliche Revolte lesen; hätten sie sich gegen die Institutionen der Mächtigen gerichtet, wären sie als eine Form revolutionären Handelns zu verstehen. Stattdessen betrafen sie die Straßen und Läden, die die Akteure als Teil ihres eigenen Alltagslebens kannten – sie bedeuteten also keine revolutionäre Ausnahmesituation, sondern waren ein seltsam alltäglicher Gewaltausbruch gegen Läden, die Massenware (Turnschuhe, Flachbildfernseher) oder Konsumartikel zur Zerstreuung (Alkohol, Computerspiele) verkaufen.
Diese Tatsachen sprechen gegen eine einfache Schwarz-Weiß-Malerei, der Gegenüberstellung von „uns“ und „denen da“. Erstens bildeten die Nähte mit ihrer doppelten Funktion des Verbindens und Trennens und ihrem provisorischen Charakter als Demarkationslinien den idealen Schauplatz für die offenen, fließenden und unübersichtlichen Manöver der Gewalttäter. Die Form der Unruhen verband sich mit der Form des Raumes. Und zweitens legt die Tatsache, dass sich die Unruhen an den Grenzen von Gebieten unterschiedlicher sozialer Benachteiligung ereigneten den Schluss nahe, dass es sich bei ihnen im Kern um die räumliche Ausformung einer immer größer werdenden sozialer Ungleichheit handelte. Die sozialen Kennzahlen der Statistiken der letzten zehn Jahre zeigen eine weitere Spreizung der Unterschiede zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen. Bei den Londoner Unruhen trafen nicht die beiden Enden dieser Skala aufeinander, vielmehr ereigneten sie sich über deren gesamte Bandbreite. Die Unruhen brachen dort aus, wo das Band der sozialen Ungleichheit bis zum Zerreißen gespannt war, nicht an den Enden, sondern in den Räumen, wo Knappheit der Mittel und Überfluss an Wünschen, angeheizt vom Schauspiel des Konsums, aufeinandertreffen.
Wenn Zygmunt Bauman recht damit hat, eine solche „Kombination aus Konsumismus und wachsender Ungleichheit“ als Hintergrund der Unruhen auszumachen, dann sind diese durchschnittlichen Londoner Straßen als Inbegriff der „broken middle“ ihr natürlicher Schauplatz. Da die Besitzlosen in den privatisierten Räumen der Einkaufszentren überwacht werden und den öffentlichen Räumen im Stadtzentrum fremd gegenüberstehen, wandten sie sich anderen Zielen zu. Die Hauptstraßen sind ein ideales Terrain für Unruhen, hier kann einerseits Beute gemacht werden und andererseits ist ein leichtes Wechseln aus anderen oder in andere Gebiete möglich.
Unbequeme Wahrheiten
Die Schlussfolgerungen aus diesen Überlegungen sind ernüchternd. Die Unruhen entstanden in den Nischen der Stadt, die der Privatisierung entkommen sind und ein alltägliches öffentliches Leben bewahrt haben. Wer behauptet, dass die Unruhen der Preis seien, den wir zahlen müssen, wenn wir zumindest den Anschein öffentlichen Lebens aufrechterhalten wollen, spricht eine schreckliche, nicht akzeptierte Wahrheit aus. Wenn wir öffentlichen Raum haben wollen, müssen wir akzeptieren, dass es in ihm Konflikte gibt. Die „broken middle“, in der die Unruhen ausbrachen, lässt sich nicht leicht reparieren, denn die soziale Ungleichheit nimmt weiter zu und die Konsumreize werden immer verlockender. Damit bleiben die Bedingungen erhalten, die derartige „Intensivierungen des Alltäglichen“ jederzeit wieder auftreten lassen können. Die reflexhafte Reaktion der Stadt besteht darin, solche Orte noch stärker in den Griff zu nehmen – durch stärkere Kontrolle, mehr Überwachung und weitere Privatisierungen. Ich denke, dass genau der entgegengesetzte Weg eingeschlagen werden sollte. Wir brauchen mehr, nicht weniger städtische Freiheit, wenn wir die Symptome der Ungleichheit zügeln wollen.
Alle Anzeichen sprechen aber dafür, dass die offizielle Reaktion genau in die entgegengesetzte Richtung geht. Doch damit wird die Schlinge um den Hals eines Teils der Gesellschaft enger gezogen und die Gefahr noch heftigerer Ausbrüche heraufbeschworen. Die Alternative heißt, den sozialen Flickenteppich als das zu akzeptieren, was er ist: eine gesunde und ehrliche Mischung städtischen Raums. Die politische Lösung einer Verminderung der sozialen Ungleichheit fällt eindeutig nicht in die direkte Kompetenz der Stadtplanung, gleichwohl haben wir die Möglichkeit und sind verpflichtet, uns den Forderungen nach stärkerer Abgrenzung und weiteren Instrumenten zur Überwachung und Kontrolle der Städte zu widersetzen.
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