Bauwelt

Doppelt gekrümmt

Die HP-Schalen von Herbert Müller

Text: Scheffler, Tanja, Dresden

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P-Schalen im Messeprospekt des Ingenieurbüros für Bauwesen Halle

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P-Schalen im Messeprospekt des Ingenieurbüros für Bauwesen Halle


Doppelt gekrümmt

Die HP-Schalen von Herbert Müller

Text: Scheffler, Tanja, Dresden

Der „Schalenbaumeister“ Ulrich Müther ist jedem ein Begriff. Aber Herbert Müller, „Schalenmüller“ genannt, der Erfinder der HP-Fertigteil-Schale? Seine wellenförmigen Betonstrukturen prägen viele Gesellschaftsbauten in Halle-Neustadt und zahllose Sporthallen in der ehemaligen DDR. Eine Ausstellung im Stadtmuseum Halle widmet sich seinem Lebenswerk.
Gekrümmte Eisenbetonkonstruktionen haben Tradition im mitteldeutschen Industrierevier. Die in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts in Jena in „Zeiss-Dywidag-Schalenbauweise“ errichteten Kuppel- und Tonnenschalen gelten als ingenieurtechnische Meisterleistungen. Nach dem Krieg setzte sich diese Entwicklung fort: von den einfach gebogenen Fertigteilschalen der Leuna-Werke bis zu Hermann Henselmanns Spannbetonkuppel-Entwürfen für den Kulturpark der Schkopauer Buna-Werke. 1951 entwickelte der Hallenser Bauingenieur Herbert Müller (1920–1995) im Rahmen eines Wettbewerbsentwurfs für eine Sportschule die herkömmlichen Fertigteilelemente zu einer doppelt gekrümmten Schale weiter. Das weitgespannte, wellenförmige Dach orientierte sich konstruktiv an internationalen Vorbildern, vor allem an Nervis eben fertiggestellter Ausstellungshalle in Turin. Die gegenläufige Krümmung der neuartigen Betonelemente sollte die Knick- und Biegesteifigkeit erhöhen und ihre Wannenform gleichzeitig eine gute Entwässerung gewährleisten.
Obwohl die Sportschule später gar nicht gebaut wurde, sorgte Müllers Entwurf in Fachkreisen für Furore. Ein Fertigteil derart komplex zu krümmen, das hatte zu diesem Zeitpunkt – offenbar selbst im Ausland – noch keiner konstruktiv bewältigt. Während Architekten wie Félix Candela erste hyperboloide Spritzbeton-Konstruktionen errichteten, versuchten Bau­­ingenieure in Ost und West vergleichbare indus-triell vorfertigbare Konstruktionen zu entwickeln. Herbert Müller meldete 1954 auf eigene Faust unter der Bezeichnung „Stahlbetonfertigteil als Bogenelement“ mit gekrümmter „Hyperboloidfläche“ ein Patent an. Die Hauptidee seiner Erfindung: eine materialsparende Dachstruktur mit geringem Eigengewicht und hoher Belastbarkeit, die sich selbst bei großen Spannweiten wirtschaftlich herstellen ließ, und gleichzeitig eine mechanisch stabile und ästhetische ansprechende äußere Erscheinung haben sollte. Außerdem sollten die Elemente auf der Baustelle möglichst unkompliziert zu montieren sein, mit ein bis zwei simplen sogenannten Derrickkränen.
Eine derart auf funktionale Aspekte ausgerichtete Konstruktion passte damals nicht in die gestalterische Linie der ostdeutschen Bauakademie. Bis in die frühen 60er Jahre galt die Doktrin, dass „der HP-Schalenträger, das Spannstahldach, das Faltwerk und die Wellenschalenträger“ für Gesellschaftsbauten „nicht geeignet sind“. So wurden weitergehende Forschungen nicht bewilligt. Zum Umdenken kam es erst nach einem Patentrechtstreits mit einer westdeutschen Erfindergemeinschaft 1961. Das Essener Unternehmen hatte, ausgehend von Tonnenschalen, wie sie für Sheddächer üblich sind, eine mit Müllers Konstruktion vergleichbare Schale entwickelt und seit 1957 im großen Stil von England bis Italien im Industriebau eingesetzt. Weil in der DDR hingegen noch nicht einmal Versuchsbauten standen, schloss der Streit mit einem Vergleich. Gegen eine Abfindung von 10.000 West-Mark verzichtete Müller auf sein bundesdeutsches Patent.
Das erste Mal zum Einsatz kamen seine HP-Schalen schließlich beim Lagerhallenneubau eines Chemie-Großhandelskontors (1965) in Sangerhausen. Dessen Direktor setzte angesichts der riesigen Dachfläche des Lagers beim Ministerium für Bau­wesen die erste Industriebau-Zulassung durch. Für Halle-Neustadt, die ab 1964 errichtete „Chemiearbeiterstadt“, waren Müllers innovative Konstruktionen von Anfang an Teil der Planung. Um der Hallenser Bevölkerung einen Vorgeschmack auf die vielen mit diesem System angedachten Sonder- und Gesellschaftsbauten zu geben, stellte man auf dem Altstädter Obermarkt einen kleinen Ausstellungspavillon, eine kombinierte Schalen-Seilkonstruktion, auf. Weitere Musterbauten entstanden bald darauf in der Neustadt: eine dreischiffige Mehrzweckhalle (1966/67), bei der erstmals ein durchgehendes Lichtband zum Einsatz kam und im Wandbereich die Anwendung von halbzylinderförmigen Schalen getestet wurde, sowie eine stützenfreien Schwimmhalle (1968/69). Es folgten die „Delta“-Kindergärten, die Feuerwache und die Versorgungseinrichtungen von „Treff“ bis „Basar“. Daraus wurde ein universell einsetzbarer Schalenfertigteil-Baukasten entwickelt, das sogenannte Uni HP-System.
Nur in dieser Betonschalen-freundlichen Atmosphäre war auch die beispiellose Karriere von Ulrich Müther (1934–2007) als „Schalenbaumeister“ der DDR möglich. Angefangen mit dem Projekt seines Bauingenieurdiploms – eine aus vier Hyparschalen bestehende Saalüberdachung in seinem Heimatort Binz auf Rügen – konnte er ab 1964 unzählige Spritzbeton-Konstruktionen errichten, die längst als architektonische Meisterwerke gelten (Bauwelt 12). Den Fertigteil-Schalen hingegen haftet immer noch der Makel der Massenproduktion an. Sie sind jedoch ebenfalls Spitzenprodukte der Ingenieurbaukunst – und gleichzeitig ein Beweis dafür, dass es selbst während des Kalten Krieges blockübergreifende Parallel-Entwicklungen auf Augenhöhe gegeben hat. Vor allem aber sind sie charakteristisch für die ostdeutsche Architektur-Ästhetik der 60er und frühen 70er Jahre. In vielen der als „sozialistische Idealstadt“ konzipierten Wohngebieten bilden die mit einem gewellten Dach versehenen Gesellschafts- und Sportbauten zwischen den vorgefertigten Wohnblocks regelrechte Landmarken.
Im Zuge des landesweiten Fertigteilschalen-Booms zeichnete man Herbert Müller 1968 für seine „beispielgebenden Leistungen bei der Entwicklung und Produktion von industriell vorgefertigten hyperbolischen Betonfertigteilschalen“ mit dem „Nationalpreis der DDR“ aus. Mit Beginn des staatlichen Wohnungsbauprogramms wurde es für die Stadtplaner allerdings immer schwieriger, von den Komplett-Sortimenten der lokalen Wohnungsbaukombinate abzuweichen. Daher verlagerte sich der Einsatzbereich von Müllers Schalen ab Mitte der 70er Jahre auf landwirtschaftliche Bauten und wenige Sonderbauten wie das Hallenser Planetarium auf der Peißnitz-insel (1978) oder die Rotunde für Werner Tübkes Bauernkriegspanorama bei Bad Frankenhausen (1975).
Die Ausstellung im Stadtmuseum Halle, die Herbert Müllers Sohn, der Fotojournalist Knut Mueller, kuratiert hat, reißt viele dieser Aspekte im Werk des findigen Ingenieurs nur an. Doch gelingt es ihr mit einer ganzen Reihe atmosphärischer Fotos aus den 70er Jahren von Gerald Große, einem Absolventen der Leipziger Kunstakademie, der lange selbst in Halle-Neustadt gelebt hat, die wichtige Rolle von Müllers Bauten für die Identität der Planstadt eindrucksvoll zu veranschaulichen.
Fakten
Architekten Müller, Herbert (1920–1995)
aus Bauwelt 33.2014
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