Bauwelt

„Ein guter Architekt lügt. Probleme, die entstehen, lässt er verschwinden.“

Luigi Snozzi über Livio Vacchini

Text: Geipel, Kaye, Berlin; Lensing, Till

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Luigi Snozzi und Livio Vacchini in Bellinzona

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Luigi Snozzi und Livio Vacchini in Bellinzona


„Ein guter Architekt lügt. Probleme, die entstehen, lässt er verschwinden.“

Luigi Snozzi über Livio Vacchini

Text: Geipel, Kaye, Berlin; Lensing, Till

Der Autor Till Lensing sprach mit Luigi Snozzi über Livio Vacchinis Entwurfsprinzipien, über dessen Glauben an die elementaren Prinzipien des Klassizismus und darüber, wie er mit diesen Prinzipien auf undogmatische Art und Weise hantiert hat.
In den sechziger Jahren entwickelte eine Handvoll Tessiner Architekten, unter ihnen Aurelio Galfetti, Luigi Snozzi, Livio Vacchini, später auch Mario Botta und Ivano Gianola, am Südhang der Alpen einen architektonischen Neuanfang: Der regionalen Baukultur zwischen Locarno und Bellinzona wurden internationalen Tendenzen regelrecht eingeimpft. Eine weithin beachtete Ausstellung fasste die neuen Bauten 1975 unter dem Begriff „Tendenza“ zusammen. Inzwischen ist die Tessiner Schule selbst historisch geworden, die beteiligten Architekten sind bei ihrem Alterswerk angelangt. Livio Vacchinis Sporthalle Mülimatt wurde posthum von seiner Tochter Eloisa fertiggestellt.
Der Autor Till Lensing sprach mit Luigi Snozzi über Livio Vacchinis Entwurfsprinzipien, über dessen Glauben an die elementaren Prinzipien des Klassizismus und darüber, wie er mit diesen Prinzipien auf undogmatische Art und Weise hantiert hat. Bei der Sportanlage Mülimatt etwa sind es die rätselhaften „Stützen“, die in ihrer mächtigen Form und ihrem flirrenden Lichtspiel aus der Ferne an klassizistische Säulen erinnern, um dann – aus der Nähe betrachtet – solche Analogien wie fehlgeleitete Interpretationen erscheinen zu lassen. KG
Zu Beginn der 60er Jahre haben Sie mit Livio Vacchini zusammengearbeitet. Wie kam das zustande?
Luigi Snozzi | Ich habe ihn in mein Büro geholt. Wir arbeiteten zusammen, bis er 1969 sein eigenes Studio in Locarno eröffnete. Kurz vor seinem Tod gab es dann die Idee, noch einmal gemeinsam an einem Projekt zu arbeiten. Wir entwarfen eine große Plattform im Lago Maggiore. Ein Platz, auf dem in Zukunft das Filmfestival von Locarno stattfinden sollte. Eine Struktur im See, umgeben von Wasser und Fischen.
Ein ausgefallener Beitrag zur Stadt. Was interessierte Sie denn an Vacchini?
LS | Mich interessiert nach wie vor seine Theorie.Vacchinis Theorie, so könnte man es zusammenfassen,
besteht aus Prinzipien, die er eigens aufgestellt hat, um mit ihnen zu arbeiten.
LS | Seine Prinzipien sind mit der Zeit entstanden. Es hat lange gedauert, bis er sie entwickelt hatte. Obschon seine Prinzi­pien persönlichen, ja autobiographischen Charakter haben, sind sie nicht weniger objektiv. Sie beziehen sich auf das We­sen der Architektur. Die Theorie strebt nach dem Absoluten, und Vacchini hat sich wie Palladio nur für das Absolute interessiert. Über die Probleme, die zwangsläufig entstehen, hat er nie gesprochen. Ein guter Architekt lügt, er lässt die Probleme verschwinden.
Subjektiv ist Vacchinis Handhabung der Prinzipien. Entwerfen ist bei Vacchini eine Art Ritual. Das bedeutet, dass er mit jedem Projekt die verbindlichen Prinzipien anwendet, sie prüft, sie wiederholt und aktualisiert.
LS | In dieser Hinsicht ist er wirklich ein Forscher. Manchmal sogar ein Erfinder. Sein Mittel ist die Technologie. Er hat eine Methode zu entwerfen, die sich von meiner ganz und gar unterscheidet. Er verbietet die Skizze. Stattdessen schreibt er sich Fragen auf, die er prüft, deren Anzahl er immer wei­ter reduziert, bis ein, zwei, drei Fragen übrig bleiben – letztlich ist es dann nur eine einzige.
Das Verhalten der Struktur bestimmt den Ausdruck. Vacchini konstruierte, in dem er Kräfte baute. So entwarf er spannungsgeladene, zum Teil groteske Konstruktionen.
LS | Ich frage jetzt Sie: Was hat Vacchini bei seinem letzten Werk, dem Sportausbildungszentrum Mülimatt, erforscht? Was ist für Sie neu an diesem Bau?
Der Wettbewerb sah die Planung zweier Dreifachsporthallen auf dem Areal zwischen Bahndamm und dem Fluss Aare vor. Er hat versucht, seinen Prinzipien eine weitere Erscheinungs­form abzugewinnen. Vor allem der Denkansatz „dreigeteilter Bau“ dürfte ihm wichtig gewesen sein. Damit sind die drei Elemente eines Bauwerks gemeint: seine Gründung, die Erhebung und der Abschluss.
LS | „Wie sich die Erdkruste verändert, wie sie sich erhebt und zum Himmel hin abschließt“, so ungefähr hat es Vacchini ausgedrückt. Natürlich hat er es poetischer gesagt, um klar­zumachen, was bauen zwischen Himmel und Erde bedeutet.
Bei dem Wettbewerbsprojekt Mülimatt hat er diese dreiteilige Ordnung wie folgt konstruiert: Im ersten Akt wird eine längliche Grube ausgehoben, die als Gründung der zwei Sporthallen fungiert. Im zweiten Akt werden Wände errichtet, die an den Längsseiten der scharfkantigen Böschung stehen und als Auflager für den dritten Akt dienen. Und in diesem dritten Akt wird die Grube mittels gefalteter Rahmen­tragwerke überdacht. Aushub und Erhebung heben sich im Grunde auf. Aus der Ferne sieht man nur den „dritten Akt“: zwei Faltwerke, die abstrakt in der Landschaft stehen.
LS | Die dreiteilige Ordnung wird einteilig. Sie wird zu einem Stück aus einem Guss – das ist vacchinisch. Er wollte die drei­teilige Ordnung stets reduzieren. Er suchte die Abstraktion. Sein Wunsch, Himmel und Erde mit einer Geste zu verbinden, ist zum bestimmenden Merkmal seiner Architektur geworden. Trotzdem kann man sich bei Mülimatt fragen: Der Rahmen taucht erstmalig in seinem Werk auf. Wieso? Wieso verlässt Vacchini die klassische Ausdrucksweise?
Vacchini verglich die Faltwerke der Sporthalle Mülimatt mit den Kronen zweier Könige.
LS | Anhand der Krone erklärte er die öffentliche, die repräsentative Wirkung seiner „radialen“ Konstruktionen.
Zu berücksichtigen ist, dass der Bau anders realisiert wurde, als dies der Wettbewerbsentwurf vorsah.
LS | Die zwei Sporthallen wurden im Laufe der Realisierung zu einem einzigen Bauwerk, einer Sechsfachsporthalle, zusammengeschlossen. Als Folge spannt die Konstruktion über die kürzere Distanz.
Das Ganze ist weniger absurd – weniger vacchinisch. Ein weiteres Prinzip von ihm lautet: Es gibt keine Details.
LS | Es gibt jedenfalls keine Teile, die nicht auf das Ganze bezogen sind.
Sein Verständnis der Technologie hat es Vacchini ermöglicht, die Klassik umzubauen, zu „zerstören“. Seine Bauten strapazieren das klassisch geschulte tektonische Empfin­den. Die Teile des Faltwerkes sind abstrakte Flächen, die aus der Wiederholung eines einzigen Elements bestehen.
LS | Und dabei alles andere als monoton sind.
Vacchini realisiert eine Gliederung, die vom Ganzen ausgeht und sich zu den Teilen hin entfaltet. Das ist das Gegenteil der klassischen Gliederung mit ihrer Addition von Bauteilen.
LS | Man kann sich bei Vacchini eben nie ganz sicher sein. Es gibt das Erkennen einzelner Teile, und gleichzeitig gibt es die Unteilbarkeit des Ganzen.
Die gerichtete Konstruktion hat auch Auswirkungen auf die Lichtführung: Zum einen ist da das Tageslicht, das wegen der großen Spannweite über die gesamte Länge des Raumes eindringt...
LS | ...und entsprechend zu Boden fällt. Als Antwort auf das einfallende Sonnenlicht sind die Böden bei Vacchini in der Re­gel gelb. Wichtig ist ein zweiter Punkt: Die Öffnungen sind in seinen Bauten nie transparent, sie zeigen nicht das Innere. Es herrscht eine dunkle Transparenz, so wie wir sie von Mies kennen. Würde man durchsichtiges Glas einbauen und eine völlige Transparenz herstellen – wie sie mit der Moderne gemeinhin assoziiert wird –, so würde man Vacchinis Bauten zerstören, sie wären kaputt. Das genau austarierte Verhältnis zwischen Licht und Struktur hat sein Denken und Konstruieren immer bestimmt.
Fakten
Architekten Livio Vacchini (1933–2007); Snozzi, Luigi, Lausanne
aus Bauwelt 10.2011
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