Flüchtigkeit der Architektur
Wandzeichnungen von Junya Ishigami
Text: Stahlbohm, Philip,
Flüchtigkeit der Architektur
Wandzeichnungen von Junya Ishigami
Text: Stahlbohm, Philip,
Der japanische Architekt Junya Ishigami benutzt bei seinen Installationen häufig auch die Wände als Ausstellungsraum – unter anderem auf der Biennale in Venedig 2008 und 2010. Die Wandzeichnungen mit extrem dünnem Strich lassen sich als zeitweise fixierte Dokumente eines in Bewegung befindlichen Entwurfsprozesses verstehen.
Der folgende Text entstand unter schwierigen Bedingungen. Erdbeben, Tsunami und die Folgen von Fukushima haben die Aufmerksamkeit der beteiligten Autoren plötzlich auf ganze andere Themen und Sorgen gelenkt. Grundlage für den Text war ein Interview, das Philip Stalbohm und Henrike Rabe einige Tage vor der Katastrophe mit Junya Ishigami in Tokio geführt haben. Dessen Auseinandersetzung mit einer fragilen Bauweise kann auch als Beispiel für den Umgang mit der Unbeherrschbarkeit natürlicher Lebensbedingungen gelesen werden. KG
Junya Ishigami erhielt auf der letzten Architekturbiennale in Veneding den Goldenen Löwen für seine im Arsenale aufgebaute Installation „Architecture as Air: Study for Château La Coste“ (Bauwelt 25.2010). Es handelte sich um eine kaum sichtbare Konstruktion mit den Maßen 13 mal 4 mal 4 Meter, in der ersten Fassung bestehend aus vier Reihen mit jeweils elf 0,9 Millimeter starken Kohlefaserstützen, am oberen Ende verbunden durch einen umlaufenden Dachbalken gleichen Querschnitts. Die Vertikalen waren jeweils nach vier Seiten abgespannt, als Zugseile wurden 0,02 Millimeter starke Polyacrylatfasern verwendet, die mit bloßem Auge nicht mehr sichtbar waren. Eine Art griechischer Tempel war hier aufgebaut, ausgedünnt bis an die Grenzen der Wahrnehmbarkeit und Tragfähigkeit. Der Ausstellungsraum im Arsenale schien auf den ersten Blick leer zu sein, erst bei genauerem Hinsehen konnte man die Installation „Architecture as Air“ erkennen. Die Struktur war in ihrer Gesamtheit so gut wie nicht zu sehen, das gerade Wahrgenommene löste sich beim Vorbeilaufen bereits wieder im leeren Raum auf. Die extrem dünnen „Zugseile“ ließen sich aufgrund der Lichtbrechung sowieso nur dort erkennen, wo unter einem bestimmten Winkel Licht auf sie fiel. Es war mehr wie eine Ahnung für die Besucher, dass sich in dem Raum, den das Arsenale scheinbar leer gelassen hatte, eine Struktur befinden müsse.
Die Zeichnung überdauert die Konstruktion
Im selben Raum waren 1:1 große Wandzeichnungen der Konstruktion zu sehen. Außerdem waren nummerierte Markierungen an die Wand geklebt. Es handelte sich dabei um den Grundriss zu Ishigamis Workshop für das Kanagawa Institute of Technology (Bauwelt 42.2008).
Wenige Stunden nachdem „Architecture as Air“ aufgestellt worden war, brach die Konstruktion zusammen. Im Verlauf der Biennale stürzte die Arbeit mehrmals ein und wurde wieder aufgebaut. Zuerst war eine Katze in die Zugseile gelaufen, dann wurde ein Reinigungsbesen zum Verhängnis. In einer späteren Fassung verzichtete Ishigami auf die Querträger. Zwischenzeitlich ließ sich die Arbeit nur anhand der am Boden liegenden, verbogenen Stützen und der Konstruktionszeichnungen an der Wand erschließen. Der Juryentscheid zugunsten Ishigamis wurde begleitet von einer Diskussion darüber, ob der Goldene Löwe für eine kaputte, also nach allgemeinem Dafürhalten nicht existente Arbeit vergeben werden könnte. Und ob es sich bei der Installation tatsächlich um Architektur handelte oder doch eher um ein Kunstwerk. Von Vitruvs Forderungen an die Architektur war jedenfalls die Mehrzahl nicht erfüllt worden.
Wandzeichnungen mit einer 50 Jahre alten Vorlage
Bereits zwei Jahre vorher hatte Ishigami in Venedig mit dem von ihm gestalteten japanischen Biennale-Beitrag für Aufsehen gesorgt. „Extreme Nature: Landscape of Ambiguous Spaces“ zeigte einen leeren Pavillon, im Garten waren mehrere filigrane Gewächshäuser samt Pflanzen aufgestellt. Dazwischen waren in loser Ordnung Stühle und Sessel verteilt, in Schränke und Vitrinen waren weitere Pflanzen gestellt, die im Klima von Venedig sonst nicht vorkommen. Der eigentliche Pavillon, ein 1956 realisierter Bau von Takamasa Yoshizaka 1, war allerdings nicht komplett leer. Direkt auf die Wände des Bestandsbaus aufgetragen, fanden sich zahlreiche großflächige Bleistiftzeichnungen 2. Mit großem Detailreichtum und zartem Strich waren Szenen aus einer utopischen Stadtlandschaft dargestellt. Gebäude und Pflanzen vermischten sich in wechselnden Hierarchien und markierten einen besonderen Lebensraum. Von weitem hatten die Wandzeichnungen eine schemenhafte Präsenz, manche Besucher durchquerten den Pavillon, ohne von ihnen Notiz genommen zu haben.
Ausgelegt war außerdem ein winziges Buch in Klammerbindung mit den Maßen 7,5 auf 7,5 Zentimeter mit dem Titel „Plants and Architecture“. Es enthielt farbige Zeichungen des Architekten, die im gleichen Stil wie die Wandzeichnungen Gebäude, Pflanzen und Städte zeigten. Den Pflanzen war offenbar die größte Aufmerksamkeit gewidmet worden, auch waren sie als einzige Elemente in Farbe gezeichnet. Dargestellt waren tatsächliche Projekte, laufende Studien und Architekturphantasien Ishigamis. Wenn eine Zeichnung zu einem bereits gebauten Projekt gehörte, war das oft nur am Titel zu erkennen. Gegenüber der realisierten Architektur wirkte die jeweilige Zeichnung sehr eigenständig. Sie schien die ihr zugrunde liegende Idee nochmals klarer darzustellen. Ishigami schrieb zu diesen Zeichnungen: „Yet even such imaginary plans may be developed from actual projects or serve as transitional steps toward thinking about different projects in similar fields ... some new vision might come clearer into focus by laying out various different ,realities‘ across the board.“3
Bei den Wandzeichnungen im japanischen Pavillon 2008 ging es Ishigami darum, auch die entwerferischen Zusammenhänge deutlich zu machen, die Grundlage für Yoshizakas Originalentwurf waren. In diesen Plänen sind einzelne Elemente wie Bäume oder Trittsteine in unglaublicher Präzision dargestellt. Ihnen wird damit augenscheinlich eine ähnliche oder sogar größere Bedeutung beigemessen als dem Baukörper selbst. Das Projekt als Ganzes entfaltet auf den Plänen eine solche Kohärenz, dass es kaum möglich scheint, eine Grenze zwischen Innen und Außen zu ziehen.
Ishigami entwickelte sein eigenes Ausstellungskonzept, indem er damit anfing, die ursprüngliche Zeichnung von Yoshizaka mit seinem eigenen Entwurf zu überlagern. Als Basis für seinen Entwurf diente also nicht etwa ein Aufmaß des Bestandsbaus – stattdesssen baute Ishigami die Modelle direkt auf den Grundriss des Originalplans. Mit seinem Ausstellungskonzept wollte Ishigami die Vorstellung einer „abstrakten Architektur“ deutlich machen. Die Grundlagen des Architektonischen sieht er in einer weitgehend abstrakten Idee. Diese erschließt sich auch später weder aus dem gebauten Projekt noch aus Zeichnungen oder Modellen allein, sondern aus dem Zusammenspiel und der Überlagerung unterschiedlicher Medien und dem gleichzeitigen Betrachten in verschiedenen Maßstäben.
Familienähnlichkeiten im Entwurfsprozess
Zeitlich zur 12. Biennale zeigte Junya Ishigami im Herbst vergangenen Jahres die Ausstellung „How small? How vast? How architecture grows“ in der Shiseido Gallery in Tokio. Präsentiert wurden 56 Modelle in verschiedenen Maßstäben und Materialien, die zu bereits realisierten Projekten, Studien und utopischen Architekturen gehörten. Die Modelle waren auf langen, schmalen Tischreihen aufgebaut, wobei die Tische auf etwa 8o Prozent einer üblichen Tischgröße reduziert waren und entsprechend zerbrechlich wirkten. Ähnlich wie in einer naturkundlichen Sammlung schritt man die Reihen der Tische ab und konnte sich so einen Überblick über den „Artenreichtum“ von Ishigamis Architektur verschaffen. Einige Modelle bildeten Familien. Es gab Vorgänger und Nachfolger dieser Modelle, so dass die Besucher eine ganze Reihe von Entwicklungsstadien vor Augen hatten.
Jeder Entwurf stellte ein spezifisches räumliches Phänomen dar, ein architektonisches Gedankenexperiment. Meist wurde die jeweilige Idee im Modell nur ausschnitthaft dargestellt – sie erschloss sich erst in Zusammenhang mit den kurzen Begleittexten. Einige Projekte wirkten wie komplette Träumereien, ohne Chance auf eine künftige Realisierung. Das Projekt „Big House“ beispielsweise schlug eine Architekturform vor, die nicht als Schutz vor der Natur gedacht war, sondern als ein Mittel, selbst wiederum neue Natur zu schaffen. Wenn die Struktur dieses „Big House“ ausreichend groß sein würde – so das Entwurfskonzept – würde sie in ihrem Inneren auch Wolken, Regen, Schnee, Flüsse und Wälder generieren können. Allein durch die extreme Vergrößerung des Maßstabs wird, selbst wenn das Gebäude wie üblich aus Wänden und Decken besteht, der umbaute Innenraum zum Außenraum.
0 Kommentare