Kategorie 4_Öffentliche Bauten
Teilhabe für alle. Klinik oder Kino
Text: Parent, Claude, Paris; Roche, François, Paris
Kategorie 4_Öffentliche Bauten
Teilhabe für alle. Klinik oder Kino
Text: Parent, Claude, Paris; Roche, François, Paris
Oder Kirche. Claude Parent und Paul Virilio führt der Entwurf von Sainte-Bernadette du Banlay in Nevers 1963 zu der beunruhigenden Frage, ob uns das Leben unabwendbar auf die schiefe Bahn führt.
Claude Parent, 2009 | Interessant an diesem Fall ist, dass diese Architektur das gemeinschaftliche Werk von zwei Männern ist, die dank ihrer Freundschaft zu einem dritten – dem Maler Michel Carrade – zusammengekommen waren. Virilio und ich haben hinsichtlich Charakter oder Beruf nichts gemeinsam – nichts, außer der Leidenschaft für Architektur. In unseren ersten Skizzen, die jeder für sich anfertigte, tauchen zwei Elemente auf, die die Kirche prägen: die schrägen Ebenen und eine Bauform, die zwar die Breite, aber nicht die Länge eines traditionellen Kirchenbaus hat. Der junge Priester Bourgoin half uns, hierfür die Zustimmung der Kirchengremien zu erreichen.Als wir uns so nebeneinander über unsere Zeichenblöcke beugten, erwies sich die Idee der Schrägen erstaunlicherweise als theoretische Grundsatzfrage an das Leben, die Architektur und die Menschheit im Allgemeinen.
UND WENN??!! Was, wenn die schrägen Bodenflächen dieser Kirche auch im Alltag eingeführt würden? Was, wenn wir alle auf abschüssigen Ebenen lebten?
Ich bat um 24 Stunden Bedenkzeit, da mir das gewaltige Wagnis, auf das ich mich mit dieser abenteuerlichen Unternehmung einließ, durchaus klar war. Jeder würde uns schlichtweg für VERRÜCKT halten, auch die Architekten. Und wenn? Die Entscheidung war gefallen, und von dem Moment an nahm unsere theoretische Arbeit („La fonction oblique“ und „Architecture Principe“) jeden verfügbaren Augenblick in Anspruch. Das war unser gemeinsames Leben bis 1968 und danach, für mich bis heute. Eben deswegen ist die Kirche von Nevers so wichtig für mich: Sie ist ein Sandkorn im mächtigen Getriebe von Gewohnheit, gutem Geschmack und Selbstgewissheit in den sechziger Jahren, als gewisse Architekten kurz davor standen, gegen das System aufzubegehren. Aber jenseits von einem Einspruch gegen die gängige Architektur war die Kirche von Nevers der Bruch mit Dogmen und sprengte die Selbstgefälligkeit von Architektur. Für mich ist Nevers ein Zünder, wo-bei die sanften Oberflächen im Innenraum sogar der unerhörten Brutalität des Äußeren (dem BUNKER) etwas entgegenzusetzen haben.
Sainte-Bernadette eindeutig zu beschreiben ist sehr schwierig, zumindest aber besteht die Gefahr, die Identität des Baus aufgrund von zweifelhaften, da rein auf Analogien basierenden, Interpretationen gründlich zu verkennen. Dies zwingt uns dazu, die Kirche ex negativo – als das, was sie nicht ist – zu definieren. Die Logik einer Identifizierung – eine Logik, die damit operiert, dass etwas einer als „identifizierbar“ eingestuften Einheit zuzurechnen ist, und die es daher im Allgemeinen ermöglicht, die Natur eines Objektes zu bestimmen – wird zu einer Falle, wenn man sie auf Sainte-Bernadette anwendet. Claude Parents „Bloc“ (mit Virilios anfänglicher Komplizenschaft entworfen) ist nicht über die Bezeichnung dafür zu erfassen. Der Bau ist eine Falle – aufgestellt für diejenigen, die ihre subjektive Wahrnehmung mit der „expliziten“, also: als Wort geprägten, Erkenntnis des Objektes selbst verwechseln. Diese Besonderheit des Gebäudes liegt an der Diskrepanz zwischen perzeptuellen und andererseits funktionalen Eigenschaften, deren Beziehung zueinander konflikthaft oder sogar paradox ist.
Anstelle einer Logik der Eindeutigkeit (also einer deterministischen Boole’schen Logik, die in die Irre führt) könnten wir versuchen, Sainte-Bernadette mit mathematischen Hilfsmitteln zu beschreiben. Wir könnten ein Protokoll der Fuz-zylogik anwenden, das unterschiedliche Grade an Unbestimmtheit zulässt. Damit wäre das Problem in den Griff zu bekommen, dass wir mögliche Wahrheitswerte auf nur zwei Optionen reduzieren müssen, nämlich auf die beiden Werte von ist gleich/ist ungleich dem, was es scheint.
Anders ausgedrückt lassen sich mit einem Algorithmus, der auf Operatoren der Fuzzy-Set-Theorie nach L. A. Zadeh basiert, auch widersprüchliche Hypothesen hinsichtlich einer Identifikation abbilden. Die Funktion (fzAnschein ) erlaubt beides – Sein bzw. Nichtsein dessen, was der Bau zu sein scheint (also Boole’- sche Werte von 0 und/oder 1).
Dann ist:
– er (der Bau) laut offizieller Erklärung das, was er zu sein scheint / fzErklärung (das „offizielle“ Prinzip greift auf die Sphäre des Militärs zurück)
Oder:
– er wurde von einem militärischen Bautrupp errichtet / fzBautrupp (Belegbeispiel: die Kasbah und die Schlacht um Algier)
– er wurde als Element einer militärischen Strategie genutzt oder sollte als
solches genutzt werden fzStrategie (Belegbeispiel: Ken Adams’ Monolith in James Bond – Der Mann mit dem goldenen Colt, Phang Gna, Thailand)
solches genutzt werden fzStrategie (Belegbeispiel: Ken Adams’ Monolith in James Bond – Der Mann mit dem goldenen Colt, Phang Gna, Thailand)
– er besteht aus fugenlos gegossenem Stahlbeton fzMimikryStruktur (Belegbeispiel: Edisons Haus aus Gussbeton von 1907)
– er ähnelt dem, was er zu sein scheint / fzChamäleon (Belegbeispiel: Schweizer Bunker, eine Nachbildung der Landschaft statt einer Befestigungsanlage)
Wir können die Formel so notieren, dass:
FzAussehen = Zadeh_OR(fzErklärung, Multipliziert_AND(fzBautrupp, fzStrategie, fzMimikryStruktur, fzChamäleon))
Ergibt:
– fzAussehen = max(fzErklärung, min(fzBautrupp, fzStrategie, fzMimikryStruktur, fzChamäleon))
Für Sainte-Bernadette lauten die Werte wie folgt:
FzErklärung = 0 (falsch), fzBautrupp = 0, fzStrategie = 0
FzMimikryStruktur = 1, fzChamäleon = 1
Ergibt:
– fzAussehen = max(o, min(0,0,1,1)) / fzAussehen = 0
Wir können daher festhalten, dass entsprechend den Bedingungen einer Zugehörigkeit, die für die Menge‚ was er (der Bau) zu sein scheint, definiert wurden, das fragliche Gebäude nicht zu dieser Menge hinzugezählt werden kann (da Wert Null) und es daher etwas anderes ist, als es zu sein scheint.
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