Moholy-Nagy-Retrospektive in Berlin
Hochästhetische Sozialstudien
Text: Spix, Sebastian, Berlin
Moholy-Nagy-Retrospektive in Berlin
Hochästhetische Sozialstudien
Text: Spix, Sebastian, Berlin
Der Martin-Gropius-Bau zeigt eine Retrospektive auf das Werk des Bauhauslehrers, den der Besucher bis dato eher mit abstrakten, von Konstruktivisten wie El Lissitzky oder dem Dadaisten Kurt Schwitters beeinflussten Sujets denn mit filmischen Sozialreportagen in Verbindung gebracht hatte.
„Einem wankenden Clochard läuft Speichel aus dem Mund; ein kniendes Kind pinkelt an den Straßenrand; ein Katze stapft durch eine verbeulte Mülltonne“, notiere ich über den Kurzfilm „impressionen vom alten marseiller hafen (vieux port); 1929“, für den Láslzó Moholy-Nagy Sequenzen vom Treiben in den dunklen Gassen der französischen Hafenstadt zusammenschnitt, in mein Notizbuch. Bereits zum zweiten Mal binnen eines Jahres besuche ich eine Moholy-Nagy-Ausstellung. Nach der Frankfurter Kunsthalle Schirn (Bauwelt 45.09) zeigt nun der Berliner Martin-Gropius-Bau eine Retrospektive auf das Werk des Bauhauslehrers, den ich bis dato eher mit abstrakten, von Konstruktivisten wie El Lissitzky oder dem Dadaisten Kurt Schwitters beeinflussten Sujets denn mit filmischen Sozialreportagen in Verbindung gebracht habe. Also gleich eine Überraschung im ersten Ausstellungsraum der Berliner Schau „Kunst des Lichts“, die im folgenden den künstlerischen Autodidakten als experimentellen Maler, Designer und Fotografen porträtiert, vor allem aber als umsichtigen Beobachter urbaner Alltagszenerien vorstellt.
In einer Reihe von Fotografien fokussiert Moholy-Nagy innerstädtische, oftmals industriell geprägte Orte. Sie zeigen Blicke von Balkonen, Dächern, Funktürmen oder Verladekränen auf lange Schatten werfende Hafenarbeiter, spielende Kinder oder verzweifelte Bettler; Moholy-Nagy sucht nach neuen Blickwinkeln – mittels stark geneigter Perspektiven. „Blick aus dem Atelierfenster“ (1928), die Gegenüberstellung eines Positiv- mit einem Negativabzug, dokumentiert seine Experimente mit Helligkeit und Kontrast. Aus der Vogelperspektive abgelichtet, erscheinen die an einer Straße aufgestapelten Pflastersteine im Positiv wie hell aufleuchtende Goldbarren, im Negativ mutieren sie zu einem dunklen Kohlenstapel; aus einer am unteren Bildrand emporragenden Bogenlampe wird im Negativ ein Spazierstock mit zylindrischem Knauf, das spitze Geäst eines Baumes ein schillernder Stern.
Im Dokumentarfilm „Großstadtzigeuner“ über den Alltag der Roma in den Außenbezirken Berlins (1932) scheinen Moholy-Nagys fotografische Experimente und Technikstudien gleichsam zu synthetisieren: Die schnurgeraden Linien, die der Pflug auf den frisch beackerten Lehmböden hinterlassen hat, überlagern sich mit den Wölkchen der vor Eiseskälte sichtbaren Atemluft aus Kindermündern und einer zu quietschender Geigenmusik kreisend tanzenden Bauerngruppe – alles mit wackliger, geneigt gehaltener Kamera gedreht. In der Verbindung von abstrakter Schönheit und scheinbar belangloser Realität zeichnet Moholy-Nagy ein gefühlvolles Bild vom kargen Leben am Rande der Metropole.
0 Kommentare