Bauwelt

Nieder­­sächsische 60er- und 70er-Jahre-Bauten

Die Ungeliebten verstehen lernen

Text: Scheffler, Tanja, Dresden

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Kunsthalle Wilhelmshaven (1964–1968) von Frank Sommerfeld und Hans Günter Harms
Foto: Olaf Mahlstedt

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Kunsthalle Wilhelmshaven (1964–1968) von Frank Sommerfeld und Hans Günter Harms

Foto: Olaf Mahlstedt


Nieder­­sächsische 60er- und 70er-Jahre-Bauten

Die Ungeliebten verstehen lernen

Text: Scheffler, Tanja, Dresden

Mit einer Wanderausstellung versucht die Architektenkammer Niedersachsen, einer breiteren Öffentlich­keit die Qualitäten von Architektur der 60er und 70er Jahre zu vermitteln. Eine Initiative, die andernorts durchaus zum Nachmachen anregen sollte.
Seit der Errichtung von Alvar Aaltos Kulturzentrum ist Architektur ein wichtiger Imageträger für Wolfsburg. Natürlich steht das zwischen 1958 und 1962 geplante und erbaute Haus wie auch die anderen „Meisterbauten“ dort – Aaltos Kirchen, Scharouns Theater und das Rathaus von Titus Taeschner – seit langem unter Denkmalschutz. Wolfsburg ist bundesweit Vorreiter, was die Wertschätzung und Pflege der Bauten dieser Zeit betrifft. So wie der VW Käfer heute als Symbol für das deutsche Wirtschaftswunder steht, so prägt die Architektur jener Jahre des enormen städtebaulichen Wachstums die Stadt Wolfsburg und ihre Identität. Das Zentrum der Stadt wird vor allem vom Rathaus (1958) bestimmt, das dem Kulturzentrum gegenüberliegt. Drei verschiedene kubische Baukörper symbolisieren die unterschiedlichen Nutzungen durch Verwaltung, Rat und Bürgerschaft. Das Verwaltungshochhaus dominiert neben den Schlo­ten des VW-Werkes nach wie vor die Stadtsilhouette. Der flache, zum Rathausplatz hin rundum verglaste Baukörper der Bürgerhalle soll – ganz im Geist der Erbauungszeit – die Transparenz der kommunalen Strukturen versinnbildlichen.
Im Rathaus macht derzeit die von der Architektenkammer Niedersachsen konzipierte Wanderausstellung „Wiedersehen. Architektur in Niedersachsen zwischen Nierentisch und Postmoderne“ Station. 35 Bauten der 60er und frühen 70er Jahre werden mit aktuellen Fotografien und Objektdaten, teilweise auch mit zusätzlichen Erläuterungen sowie histori­schem Bild- und Planmaterial vorgestellt.
Die unbeschwerten Jahre
Bereits die Wendung „zwischen Nierentisch und Post­moderne“ im Titel der Schau verdeutlicht ein Dilemma der Architektur dieser Zeit: Sie hat bis heute nicht einmal einen griffigen Namen. Sie liegt irgendwo „dazwischen“, ist weder neu (und damit nicht auf dem aktuellen Stand der Bautechnik), noch alt genug, um wieder allgemein interessant zu sein. Die Ausstellung zeigt keine von bekannten Namen ge­schaffenen Klassiker und auch keine visionären Kapselhäuser der Raumfahrt­ära, sondern alltagserprobte Gebäude: Schulen, Kirchen, Büro-  und Wohnbauten – meist von einem eher ruppigen Charme. Die große Bandbreite der Ketten-, Reihen- und Atriumhäuser zeigt das Engagement der Architekten jener Zeit,
flächensparende Alternativen zum Eigenheim anzubieten. In der Gestaltung der Kirchenbauten – vom spiri­tuellen Andachtsraum mit sorgsam gestalteten Beton-Glas-Elementen bis hin zum Gemeindezentrum mit komplexer Nutzungsmischung – wird nicht zuletzt die gewandelte Rolle der Kirche in der Gesellschaft sichtbar.
Viele der vorgestellten Bauten sind bis heute umstritten. Die Hochschule für Musik (1970–73) in Hannover etwa wird von der Architekturkritik nach wie vor gelobt – sie habe „das Niveau der Philharmonie Scharouns und der Olympia-Architektur von Behnisch“, schreibt Gerhard Matzig in der Süddeutschen Zeitung –, von Seiten der Nutzer wird sie dage­gen meist als bizarre, abweisende Sichtbetonstruk­tur wahrgenommen.
Das Highlight der Ausstellung: der überaus aufschlussreiche einleitende Text von Wolfgang Kil. Un­ter dem Titel „Die unbeschwerten Jahre“ schildert er die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die Zukunftseuphorie dieser Zeit, die Freude an neuen Baustrukturen und Materialexperimenten sowie ihre „Störanfälligkeit“. Nicht erst die Diskussion um den Abriss des Landtags in Hannover (Bauwelt 4.09) oder die katastrophale Sanierung des Okerhochhau­ses der TU Braunschweig (Bauwelt 33.10) haben deutlich gemacht, dass es (nicht nur) in Niedersachsen vielerorts im Umgang mit Baudenkmalen dieser Zeit an Sensibilität und Professionalität fehlt. Ein Vorschlag: Die Architektenkammer sollte den Kil-Text als Download auf ihrer Website anbieten, für all diejenigen, die diese Zeit des Aufbruchs nicht mehr miterlebt (oder bereits wieder vergessen) haben. Das könnte durchaus dazu beitragen, dass aus dem einen oder anderen „Auf Wiedersehen!“ tatsächlich ein „Wieder(hin)sehen“ wird.

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