Niedersächsische Sensationen
Archäologisches in Hannover und Braunschweig
Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig
Niedersächsische Sensationen
Archäologisches in Hannover und Braunschweig
Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig
Niedersachsen scheint ein Land archäologischer Sensationsfunde: Erst Ende Juni wurden die 300.000 Jahre alten Schöninger Speere nebst Erlebniszentrum Paläon der Öffentlichkeit übergeben (Bauwelt 27.2013).
In Braunschweig rankt sich derzeit die große Landesausstellung um ein in den Annalen bislang verkanntes römisch-germanisches Schlachtfeld aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert. Und in Hannover steht der bronzezeitliche „Goldschatz aus Gessel“ im Zentrum einer Präsentation zu den Grabungen entlang der Nordeuropäischen Erdgas-Leitung NEL.
Natürlich sei auch Glück dabei, wenn solche bedeutenden Funde in dieser Konzentration zutage treten, sagt Stefan Winghart, Präsident des niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege. Allerdings fallen archäologische Sensationen nicht vom Himmel, sie sind das Ergebnis akribischer und geduldiger wissenschaftlicher Arbeit. Und, nur großflächige Untersuchungen führten zu neuen Erkenntnissen. Ein Anstoß archäologischer Forschung seien deshalb Maßnahmen der Infrastruktur und Energie, wie beispielweise der Tagebau seit den 70er Jahren.
Eine der umfangreichsten Grabungskampagnen in Europa fand seit 2010 auf der Trasse der NEL durch Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen statt. Die Rohrleitung ist die terrestrische Fortsetzung der Ostsee-Pipeline, die sibirisches Erdgas in einen Speicher im Landkreis Diepholz pumpt. Im niedersächsischen Teilstück wurde auf 204 Kilometer Länge und 36 Meter Breite Erdboden ausgehoben. Dieser Schnitt durch die Landschaft hat eine Fläche von gut 7,2 Quadratkilometern und war eine Kombination aus linearem Bodenaufschluss – er deckt eher unterschiedliche Funde auf – und flächigem – er lässt zusammenhängende Strukturen erkennen. Neben der klassischen „harten“ Prospektion, der Grabung, kamen neuere geophysikalische Verfahren und die Luftbildarchäologie zum Einsatz.
In der niedersächsischen Grabungskampagne stießen 120 Mitarbeiter in bis zu 17 Teams auf mehr als 150 Fundstellen, von denen die wenigsten wissenschaftlich prognostiziert waren. Ihre Bestandsaufnahmen spiegeln 11.000 Jahre Menschheitsgeschichte wider: So kamen etwa Artefakte figürlicher Darstellung aus dem neunten Jahrtausend v.Chr. zutage, jungsteinzeitliche Gräber, germanische Siedlungen oder frühmittelalterliche Wüstungen. Das Highlight aber ist der 2011 gefundene „Goldschatz aus Gessel“ bei Syke, einer archäologischen Verdachtsfläche.
Er datiert um 1400 v.Chr., etwa zur gleichen Zeit lebte der ägyptische Pharao Tutanchamun. Der Hortfund wurde als Block geborgen und computertomographisch als Ganzes aufgenommen. Vor der Zerlegung wurde ein Modell als 3D-Druck erstellt. Der Schatz hat ein Gewicht von 1,7 Kilogramm, besteht aus 117 Einzelobjekten, die, sorgfältig in ein textiles Behältnis gepackt, vergraben wurden. Ob es sich um eine kultische Deponierung handelte, ist derzeit noch ebenso Spekulation wie die geographische Herkunft des Rohmaterials. Lagerstättentypische Elementprofile lassen auf Gold aus Afghanistan schließen, das nach einer Verarbeitung, beispielsweise in Ägypten, über mykenische Handelswege nach Europa gelangt sein könnte. Die wenigsten Objekte sind Schmuckwerk, sondern einfache, eng gewickelte Spiralen aus Golddraht unterschiedlicher Dicke. Sie sind normierte Wertäquivalente, also eine prämonetäre Form „globaler Währung“ für offensichtlich schon weitreichende Handelsbeziehungen, die unsere Vorfahren mit ihrer Sesshaftigkeit entfalteten.
Ganz anders wurde das römisch-germanische Schlachtfeld am Harzhorn, einem Höhenzug in der Nähe von Seesen, entdeckt. Im Braunschweiger Landesmuseum bildet es den Kern einer großen Präsentation auf 1000 Quadratmeter Fläche – um Leihgaben aus 80 Museen ergänzt. Es waren illegale Schatzsucher, die im Jahr 2000 mit Metalldetektoren unter anderem auf eine eiserne Hipposandale (einen Hufschutz für römische Trosstiere) stießen. Sie legten das fälschlich als mittelalterlichen Kerzenhalter eingeschätzte und mit Rotschutzfarbe dilettantisch konservierte Stück 2008 der Kreisarchäologie vor, die es sofort zu identifizieren wusste. Die systematische Prospektion begann. Der jungen Disziplin der Schlachtfeldarchäologie gelang die Rekonstruktion eines Ereignisses asymmetrischer Kriegsführung: In unberührter Landschaft und kalkigem Boden hatten römische Speerspitzen, Katapultbolzen aus Torsionsgeschützen, Reste eines Kettenhemdes, Sandalennägel, Münzen aber auch germanische Lanzenspitzen und anderes ohne große Erosionen und lokale Verschiebungen überdauert.
Mit der auf das Jahr 235/36 n.Chr. datierbaren Schlacht, offenbar während eines Rückmarsches römischer Truppen von der Elbe, ändert sich die Sicht auf das Nachbarschaftsverhältnis: Selbst das zerfallende römische Reich unternahm Invasionen nach Germanien und konnte kraft seiner militärischen Überlegenheit Auseinandersetzungen in Hinterhalten durchaus für sich entscheiden. Nach der für die Germanen erfolgreichen Varusschlacht im Jahr 9 n.Chr. hatten sich territoriale Übergriffe mitnichten erschöpft. Der ohnehin siegreichen römischen Kultur widmet sich eine Begleitausstellung im Herzog-Anton-Ulrich-Museum; sie untersucht die Bildrückgriffe auf Caesaren und wehrhafte antike Helden in der idealisierenden Selbstdarstellung neuzeitlicher Herrschergeschlechter.
Wie aber wird, nach den aktuellen Präsentationen in Hannover und Braunschweig, längerfristig mit den archäologischen Funden verfahren? Sie sind Besitz der öffentlichen Hand und sollen der Allgemeinheit zugänglich sein. In Niedersachsen sind sie dazu dem „Schatzregal“ des Landes administrativ unterstellt und stehen seinen öffentlichen Museen zur Verfügung. Eigene Erlebniszentren, ähnlich dem Paläon sind, allen lokalen Ambitionen zum Trotz, bislang nicht beabsichtigt. Wahrscheinlich bekommt das Kreismuseum Syke eine thematische wie bauliche Erweiterung für eine Kopie des Gesseler Goldschatzes. Am Harzhorn ist im Oktober ein Parcours aus fünf hölzernen Infostelen mit ergänzenden Erläuterungen über QR-Codes fertiggestellt, ein 50 Quadratmeter großes Infogebäude wird im Frühjahr eingeweiht. Die Originale verbleiben so den Landesmuseen und der archäologischen Forschung.
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