Bauwelt

Segregation und Mischung in Europa

Segregation

Text: Harlander, Tilman, Stuttgart; Kuhn, Gerd, Stuttgart

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Segregation und Mischung in Europa

Segregation

Text: Harlander, Tilman, Stuttgart; Kuhn, Gerd, Stuttgart

Die gemischte Europäische Stadt – nur ein Leitbild, oder europäische Realität? Die Antworten sind vielfältig. In der Türkei gilt sozial gemischtes Wohnen als negativ. In England wird es von der Politik gefördert. In Frankreich teilt sich die Gesellschaft zwischen „Banlieues“ und „Ghettos pour riches“. In Dänemark und Schweden sind Sozialwohnungen für alle offen. In Russland finden sich Gated Communities in fast jeder Stadt – in den Niederlanden in gar keiner. Streifzug durch ein gespaltenes Europa
Weltweit wachsen Slums und Hüttensiedlungen der Armen auf der einen Seite und unterschiedlich ausgeprägte „Zitadellen des Reichtums“ (wie es Peter Marcuse einmal formulierte) auf der anderen. Verglichen mit solchen teils dramatischen Polarisierungen haben soziale Verwerfungen und sozialräum­liche Segregationsprozesse in Europa nur geringes Gewicht. Doch angesichts der Auswirkungen der anhaltenden Globalisierung der Märkte unter neoliberalen Vorzeichen und der Finanz- und Staatsschuldenkrise stellt sich auch hier die Frage, ob „der Kontinent des Wohlfahrtsstaats, des sozialen Ausgleichs und der kulturellen Vielfalt“ weiterhin in der Lage ist, „sich als Laboratorium lebbarer Differenzen unter den Bedingungen interner Disparitäten und externer Rivalitäten“ zu behaupten, wie Heinz Bude in der „Zeit“ schrieb. Die Ausschreitungen in den französischen Banlieues 2005/06, die Riots in England 2011 oder auch brennende Autos in Berlin haben als Menetekel gewirkt. Sie verweisen darauf, wie fragil, aber auch wie schützenswert der mit dieser Sozialstaatstradition einhergehende soziale Ausgleich ist.
Europäische Vereinbarungen wie der Maastrichter (1992) und der Lissaboner Vertrag (2009) haben den Schutz vor Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung zum Grundsatz erklärt. Die Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts in den Städten ist seither zu einem Kernthema geworden. Eine zentrale Herausforderung ist die Integration der komplexen Migrationsströme. Besonders tiefgreifende strukturelle Probleme wirft dabei die wachsende Kluft von Arm und Reich auf. Ende 2011 stellte eine Studie der OECD fest, dass, gemessen an den verfügbaren Haushaltseinkommen, soziale Ungleichheit zwischen 1985 und 2008 in fast allen OECD-Ländern (mit Ausnahme von Frankreich, der Türkei und Griechenland) massiv zugenommen hat.
Auch wenn die sozialräumliche Polarisierung größer wird, finden sich in Europa bislang noch vergleichsweise we-nig geschlossene, bewachte Wohnkomplexe bzw. Gated Communities. Allerdings sind geschlossene Siedlungen auch hier kein gänzlich neues Phänomen: Die exklusiven Villenvororte Berlins, die vornehmen, abgeschlossenen Wohnbereiche des Londoner Westends oder die Pariser „Villas“ haben die Urbanisierung bereits im 19. Jahrhundert begleitet.
Seit den neunziger Jahren sind europäische Varianten von Gated Communities vor allem in Südeuropa, in osteuropäischen Staaten und der Türkei, aber auch in Frankreich und England auf dem Vormarsch. In den Wohlfahrtsstaaten Nord- und Mitteleuropas spielen sie hingegen so gut wie keine Rolle. Wie stark sich das inzwischen global verfügbare Immobilienangebot „Gated Community“ ausbreitet, hängt – jenseits aller nationalen Spezifika – in hohem Maß davon ab, wieviel Raum die jeweilige Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik neoliberalen, marktkonformen Deregulierungsmustern gibt bzw. ob sie regulative Instrumentarien sozialräumlichen Ausgleichs fortentwickelt.
Abgeschlossen wohnen in Südeuropa
In Italien machen veritable Gated Communities wie „Borgo di Vione“ in der Nähe von Mailand erst seit wenigen Jahren von sich reden. Teilweise geschlossene Wohnkomplexe, wie die Tessiner „Residenca La Rocca“ am Ostufer des Lago Maggiore, wurden vor allem als Ferienwohnanlagen und Zweitwohnungen entwickelt. Auf der Iberischen Halbinsel hingegen sind geschlossene Siedlungen vor allem im Umfeld der Hauptstädte Madrid und Lissabon, aber auch in den Küstengebieten bereits seit den 80er (Spanien) und 90er Jahren (Portugal) verbreitet. In Portugal zählte man im Großraum Lissabon kurz nach der Jahrtausendwende 97 Gated Communities. Bei der Entscheidung, dort einzuziehen, spielt Sicherheit eine gewisse Rolle – vor allem aber der Wunsch, in einer privat finanzierten Siedlung zu leben, die mit Einrichtungen wie etwa Golf- und Tennisplätzen gut ausgestattet ist.
In Spanien werden großflächige Gated Communities bereits seit der ausgehenden Franco-Ära und der anschließenden Transitionsphase angelegt. Sie dienten zunächst als Zweitwohnsitze für privilegierte Gruppen; in den 90er Jahren wurden sie häufig in Dauerwohnsitze umgewandelt. Auf dem Hö­hepunkt des spekulativen Immobilienbooms der vergangenen Jahre sind insbesondere in den Küstenregionen um Murcia und Alicante zahlreiche Gated Communities entstanden, teilweise als Zweitwohnsitze für wohlhabende Ausländer. Besonders stark expandieren in Spanien geschlossene „Condominiums“ – für Fremde nicht zugängliche Apartmentkomplexe mit Freizeit­infrastruktur und privatem Wachdienst – sowie so­genannte „Pseudo-Gated Communities“, d.h. nur symbolisch durch Tore, Verbotsschilder u.ä. gesicherte Einfamilienhaus- und Reihenhaussiedlungen der Mittel- und oberen Unterschicht. Mit dem „portero“, einem der französischen „con­cierge“ vergleichbaren Hausmeisterdienst, der zugleich den Eingangsbereich kontrolliert, hat Abgrenzung im Wohnen in Spanien eine lange Tradition. Deswegen wird es in der Öffentlichkeit wenig kritisiert.
Neoliberal im Postsozialismus
Über die Maßen rasch wachsen Gated Communities seit den 90er Jahren in den postsozialistischen Transformationsstaaten Osteuropas. Wo einst Staatsintervention und Plattenbauten dominierten, ist im Zeichen neoliberaler Doktrinen der Wohnungsbau für zahlungskräftige Schichten fast gänzlich privaten Entwicklern und zunehmend internationalen Inves­toren überlassen.
In Russland finden sich geschlossene Siedlungen inzwischen in fast jeder Stadt – Ausdruck einer forcierten Segregation, die in scharfem Kontrast zu den egalitären Bestrebungen der vorangegangenen sozialistischen Phase steht. Die Befürworter dieser Entwicklung sehen darin ein erfolgreiches Marktmodell, in dem sich die größere Wahlfreiheit in wachsender Differenzierung ausdrücke. Für die Kritiker hingegen verlängert sich damit die tiefe Spaltung der Sowjetgesellschaft in die Gegenwart hinein – in neuen räumlichen Erscheinungsformen und mit teilweise neuem Personal.
Absolute Marktdominanz und schwache Stadtplanung prägen auch die Entwicklung in Polen. Auf der einen Seite herrscht ständiger Wohnungsmangel, die (Platten-)Wohnungsbaubestände werden nicht instand gehalten, und der Mieterschutz ist unzureichend. Auf der anderen Seite boomen umzäunte und überwachte Wohnsiedlungen. Soziale Mischung im Wohnungsbau ist in einem solchen Kontext kein erklärtes Ziel der Politik, und es fehlen dafür auch wirksame Instrumente. So gibt es trotz des gravierenden Mangels an Wohnungen insbesondere für untere Einkommensgruppen kein Massenprogramm für Sozialwohnungsbau. Stattdessen breiten sich Gated Communities immer weiter aus – allein im Großraum Warschau (siehe S. 40) sollen seit der Wende rund 400 geschlossene Siedlungen entstanden sein.
Türkei – Segregation als Zeichen des Aufstiegs
Stärker als in jedem anderen europäischen Land boomen gegenwärtig Gated Communities in der Türkei und dort in Ankara und Izmir, vor allem in Istanbul. Allein in den letzten fünf Jahren sollen 250.000 Wohnungen in geschlossenen Wohnanlagen, zumeist Hochhaus-Apartmentkomplexen, entstanden sein. Auf dem Immobilienmarkt agieren große, zum Teil international vernetzte Bauunternehmen, die die schier endlose Nachfrage ohne viel Rücksicht auf Natur- und Denkmalschutz mit immer neuen Großprojekten bedienen. Geschlossene Wohnanlagen avancierten über alle Schichten und Lifestyle-Gruppen hinweg zu einem Statussymbol; Sicherheitsfragen spielen angesichts einer vergleichsweise geringen Kriminalität eine untergeordnete Rolle.
Im Hintergrund dieser Entwicklung stand der Zustrom eines Millionenheeres von Migranten aus den östlichen Landesteilen nach Istanbul, wo noch Ende der 50er Jahre nur etwa eine Million Menschen lebten. Binnen weniger Jahrzehnte mutierte die Stadt zu einer planerisch unkontrolliert wuchernden Mega-City mit ca. 15 Millionen Einwohnern. Die Wohnungsversorgung der Migranten erfolgte überwiegend durch illegale Landbesetzung und den Bau von „über Nacht“ errichteten Selbsthilfebauten („Gecekondus“). Über die nachträgliche Legalisierung dieser Landnahme seit den 80er Jahren, die Verbesserung der Infrastruktur dieser Siedlungen und die bauliche Aufwertung der Häuser konnten Hunderttausende Migranten ihre „Ankunft“ in der Stadt und ihren sozialen Aufstieg erfolgreich organisieren. Mit der Ausdehnung der Stadt und dem überbordenden Wachstum der Bodenpreise wurden aus vielen ehemaligen Gecekondu-Arealen kleinräumig segregierte und gesicherte Hochhausquartiere für die neu entstandene Mittelschicht. Alte und neue Mittelschichten, die kemalistischen und die globalisierten Eliten und nachrückende Migranten, denen der „Verlierer-Status“ droht – sie alle leben in streng voneinander geschiedenen Welten und zeigen kein Interesse mehr an der alten osmanischen Tradition eines religiös und ethnisch gemischten Stadtwohnens.
Sicherheitsbedürftiges England
England, wo bereits vor einigen Jahren über 1000 Gated Communities gezählt wurden, gehört heute zu den europäischen Ländern, die die größten Anteile an geschlossenen Wohnkomplexen haben. Die Ausbreitung dieser Wohnform wird, trotz einer anders intendierten nationalen Politik und zahlreicher kritischer Stimmen, von einer verbreiteten Zustimmung nicht zuletzt auch unter Mietern, einkommensschwächeren Gruppen und jüngeren Leuten begleitet – eine Zustimmung, die die Gated-Communities-Forscher Sarah Blandy und David Parsons als typischen Ausdruck eines wachsenden Sicherheitsbedürfnisses interpretieren.
Groß- und kleinräumige Segregationsmuster haben in England eine weit zurückreichende Tradition. Die Herrenhäuser des Adels und die städtebaulichen Figuren der „Terraces“ und „Crescents“ für das städtische Bürgertum im georgianischen Städtebau auf der einen Seite und die dicht gedrängten Reihenhaussiedlungen und „back-to-back-houses“ für die Arbeiterschaft auf der anderen Seite spiegelten die ausgeprägten Standes- und Klassengegensätze der britischen Gesellschaft präzise wider.
Das wichtigste Instrument zur Verbesserung der Wohnungsversorgung der Arbeiterschaft und – vor allem in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg – auch von Teilen der Mittelschicht wurde der mit den Housing and Town Planning Acts von 1909 und 1919 institutionalisierte, öffentlich geförderte Wohnungsbau. Da die vergleichsweise niedrigen Mieten auch für die Mittelschicht attraktiv waren, kam es in den ersten Nachkriegsjahrzehnten tatsächlich zu einer gewissen sozialen Durchmischung.
Im Rahmen der neoliberalen Wende unter Margaret Thatcher erfolgte mit dem Housing Act von 1980 ein radikaler Umbau der sozialen Wohnungspolitik. Das damit etablierte „Right to Buy“ führte dazu, dass zwischen 1980 und 2000 ca. zwei Millionen Sozialwohnungen an die früheren Mieter verkauft wurden. Die Bewohner konnten ihre Wohnungen zu einem er­mäßigten Preis erwerben, der abhängig von ihrer Wohndauer war. Beabsichtigt war, die Eigentümerquote zu erhöhen und durch die Privatisierungen die soziale Durchmischung in Gebieten mit überwiegendem Gemeindewohnungsbestand zu verbessern. Tatsächlich stieg die Eigentümerquote zwischen 1971 und 2003 von 50 auf 71 Prozent. Dieser Erfolg wurde aber in sozialer und sozialräumlicher Hinsicht teuer erkauft: Es waren vor allem die Haushalte mit höherem und mittlerem Einkommen, die die Kaufoption wahrnahmen, und es waren insbesondere die am besten ausgestatteten und gut gelegenen Wohnungen, die privatisiert wurden. Zurück blieben jene, in denen sich eine Klientel konzentrierte, die durch unterdurchschnittliche Einkommen, Arbeitslosigkeit und sozialen Pro­bleme belastet war.
Obwohl mit großen Erwartungen konfrontiert, unternahm die 1997 folgende Labour-Regierung unter Tony Blair erstaunlich wenig zur Stärkung des sozialen Wohnungsbaus. Inzwischen ist das Bewusstsein über die Bedeutung einer ausreichend großen Zahl bezahlbarer Wohnungen („affordable housing“) aber gewachsen. Hinzu kommt insbesondere bei Pilotprojekten, wie etwa dem „Greenwich Millennium Village“, das einen Anteil von 20 Prozent an gefördertem Wohnraum besitzt, die Forderung nach einem „ausgewogenen“ Wohnungsmix. Dass eine wirksame Integrationspolitik darüber hinaus auch eine effektive Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Jugend-, Familien- und Sozialpolitik braucht, wurde der britischen Öffentlichkeit angesichts der Bilder beispielloser Gewaltausbrüche mit fünf Toten, zahlreichen Verletzten, geschätzten 250 Mio. Euro Sachschäden und 3100 Verhafteten bei den „Riots“ im August 2011 (siehe Stadtbauwelt 194) deutlich.
Mehr Miteinander in Frankreich?
Frankreich ist wie nur wenige europäische Staaten von einer starken sozialräumlichen Polarisierung in den Städten geprägt – hier die zahlreichen Gated Communities, dort die „Banlieues“. Beide, die geschlossenen Wohngebiete und die Vorstädte mit ihren „Armutstaschen“, lassen sich, so Wolfgang Neumann vom Deutsch-Französischen Institut, als „der betonierte Ausdruck einer zweigeteilten Gesellschaft“ interpretieren.
Der Rückzug in geschlossene Siedlungen hat eine lange Tradition. Die französischen Geographen Renaud Le Goix und Delphine Callen nennen den 1832 entwickelten und bis heute umzäunten „Parc de Montretout“ in Saint-Cloud bei Paris als die früheste, durch eine private Eigentümergemeinschaft verwaltete, geschlossene Wohnanlage in Frankreich. Die Tradition solcher abgeschlossenen Komplexe setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg fort, etwa mit dem Bau des Wohnhochhauses „Résidence de la Muette“ für junge, wohlhabende Paare und Junggesellen im 16. Pariser Arrondissement (1953) oder mit der Anlage bewachter Wohnkomplexe an der Côte d’Azur seit den 60er Jahren.
Vor allem im Süden Frankreichs, aber auch in den Großräumen um Paris und Lyon setzt ab Ende der 80er Jahre ein Bauboom für Gated Communities ein. Viele Siedlungen entstehen als Ferien-, Alters- und Zweitwohnsitze, bei denen Sicherheits-aspekte eine erhebliche Rolle spielen. Anders als in den USA zielen die „résidences fermées“ in ihren Marketingstrategien aber weniger auf die eigentlichen Eliten, die nach wie vor urbane Wohnformen bevorzugen, sondern eher auf eine mobile Mittelschicht, die sich von den Lebensbedingungen und dem sozialen Umfeld derjenigen abgrenzen will, die ein geringeres Einkommen haben und in Sozialwohnungen der „unsicheren“ „Grands ensembles“ leben. In Presse und Öffentlichkeit allerdings werden die „Ghettos pour riches“ überwiegend kritisch gesehen.
Nicht die „Ensembles résidentiels clos“ waren jedoch der Auslöser der vielen Programme und Gesetzesinitiativen für eine neue Stadtpolitik, sondern die Probleme der „Banlieues“, die seit den 80er Jahren in wiederkehrenden Abständen von gewalttätigen Unruhen begleitet werden. Mehr noch als in Deutschland korrespondieren in den französischen Großsiedlungen der 60er und 70er Jahre städtebauliche und architektonische Monostrukturen und ein hoher Sozialwohnungsanteil mit einer nur schwer aufzubrechenden Anhäufung von „Arbeitslosigkeit, ethnischer Konzentration bis hin zur Ghettobildung, Schulversagen, Delinquenz, Gewalt, familiärer Instabi­lität, Armut, Drogenhandel und -konsum“, so Wolfgang Neumann. Die meisten der „Grands ensembles“ sind Teil der seit den 90er Jahren ausgewiesenen 751 „Zones urbaines sensibles“, zu denen Quartiere mit heruntergekommener Bausub­stanz oder hoher Arbeitslosigkeit gehören.
Die neue „Politique de la Ville“ beinhalte den Abschied vom „goldenen Zeitalter der Großwohnsiedlungen“, so der Stadtsoziologe Jacques Donzelot. Inzwischen sind für alle Kommunen mit mehr als 50.000 Einwohnern 20 Prozent Sozialwohnungen in ihren Wohnungsbauprogrammen gesetzlich verpflichtend. „Mixité sociale“ ist in Frankreich zu einem ausschlaggebenden Kriterium der Stadtpolitik geworden. Sie wird mit einer Vielzahl von Maßnahmen umgesetzt: gezielte Anreize, die Mittelschichten zum Zuzug in benachteiligte Quartiere bewegen; Abbruch und Neubau in den Großsiedlungen; Eigentumsbildung und endogene Aufwertung; Kombination von bildungs- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in den Problemquartieren u.v.m. Kritische Soziologen wie Donzelot stellen allerdings gegenwärtig eher ein „Zerbröckeln der sozialen Schichten als eine plötzliche Bereitschaft derselben zu mehr Miteinander“ fest. Es bleibe die Frage, ob die gewonnene größere räumliche Nähe „wirklich sozial ist“.
Sozialwohnungsprimus Niederlande
Die Niederlande haben seit Ende der 80er Jahre eine Welle von Privatisierungen und damit einhergehende Umbrüche in der Wohnungspolitik erlebt (mehr Selbstverantwortung für Gemeinden und lokale Wohnungsbauvereinigungen, mehr Marktautonomie). Ungeachtet dessen haben sie im Vergleich aller europäischen Länder weiterhin die mit Abstand höchste Quote an Sozialwohnungen: etwa 32 Prozent des Wohnungsbestands (2008).
Fast der gesamte Sozialwohnungsbestand ist mittlerweile im Besitz der etwa 500 lokalen „woningcorporaties“, unabhängiger gemeinnütziger Wohnungsbauvereinigungen, die damit die Aufgabe sozialer Wohnraumversorgung nahezu gänzlich übernommen haben. Obwohl diese Wohnungsbauvereinigungen seit den 90er Jahren auch zahlreiche Wohnungen priva­tisiert haben, konnte das hohe Bestandsniveau an Sozialwohnungen aufgrund großer Neubauraten gehalten werden. Besonders in den großen Städten ist der Sozialwohnraumbestand beispiellos hoch (Rotterdam: 59 Prozent, Amsterdam: 57 Prozent, Utrecht: 45 Prozent, Den Haag: 39 Prozent). Hier entsteht soziale Mischung allein schon durch die schiere Größe des Sozialwohnungssektors. Hinzu kommt, dass die meisten Sozialwohnungsgebiete über die Stadt verteilt sind und einen Mix an Wohnungstypen aufweisen, der sie auch als Wohn­standorte für höhere Einkommensgruppen attraktiv macht. Selbst in den Amsterdamer Innenstadtbezirken mit hohem Sozialstatus wie „Oud-Zuid“ liegt der Anteil von Sozialwohnungen noch über 30 Prozent. Mehr als die Hälfte der Bezieher mittlerer Einkommen und immer noch ca. 25 Prozent der Bezieher höherer Einkommen leben in Amsterdam in Sozialwohnungen.
Gerade die großen Städte haben allerdings mit einzelnen heruntergekommenen Altstadtquartieren und monostrukturierten Großsiedlungen aus den 60er und 70er Jahren wie Bijlmermeer in Amsterdam auch massive Probleme. Hier sammeln sich die ethnischen Minderheiten, und es kommt zu brisanten Überlagerungen von sozialer und ethnischer Segregation. Deren soziale Sprengkraft wurde der niederländischen Öffentlichkeit vor allem nach den tödlichen Anschlägen auf Pim Fortuyn (2002) und Theo van Gogh (2004) deutlich. Die bisherige Integrationspolitik schien gescheitert. Die räumliche Konzentration von nicht-westlichen Ausländern wurde nun sehr kritisch gesehen und „Mischung“ im Umgang mit den benachteiligten Quartieren zu einem zentralen Thema. In einer Aufsehen erregenden Steuerungsmaßnahme legte Rotterdam zunächst in einer Testphase 2004/05 ein Mindesteinkommen (120 Prozent des Minimumlohns) für neu zuziehende Mieter in bestimmten benachteiligten Stadtgebieten fest, um dadurch nach und nach eine bessere soziale Durchmischung mit verschiedenen Einkommensschichten zu erreichen. Dieses Vorgehen ist seit dem „Rotterdamgesetz“ („Rotterdamwet“) von 2006 allen niederländischen Gemeinden möglich – bleibt aber wegen seiner stigmatisierenden Wirkung umstritten und wird nur von wenigen Gemeinden angewandt.
Segregationstendenzen im Konsensland Dänemark
Wie die Niederlande kennt auch Dänemark keine Gated Communities oder scharfe sozialräumliche Gegensätze. Die politische Kultur beruht traditionell auf gesellschaftlichem Konsens, sozialem Ausgleich und der Integration unterschiedlicher sozialer Gruppen. Trotz der vergleichsweise geringen sozialen Unterschiede verstärken sich gegenwärtig Segregationstendenzen – besonders in den Großsiedlungen der Nachkriegszeit, in denen überproportional viele Migranten leben. 29 dieser Gebiete wurden gar als „Ghettos“ eingestuft, für deren Aufwertung „Strategien gegen die Ghettoisierung“ verabschiedet wurden. Die wichtigsten Instrumente hierbei sind eine „flexible Vermietung“, Privatisierungen von Wohnungen, beides allerdings kaum angenommen, und die gezielte Förderung von Mi­granten durch die Bildungs- und Beschäftigungspolitik.

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