Staatliche Befriedung: Mit Militärpolizei in die Zivilgesellschaft?
Text: Taufer, Lutz, Berlin
Staatliche Befriedung: Mit Militärpolizei in die Zivilgesellschaft?
Text: Taufer, Lutz, Berlin
Rechtzeitig zu den Großereignissen der Fußball-WM und der Olympischen Spiele soll an den neuralgischen Punkten von Rio de Janeiro Ordnung herrschen. Um in einigen Favelas die Drogenmafia und die damit verbundene Kriminalität in den Griff zu bekommen, setzt der Staat schon seit einigen Jahren auf die Befriedungspolizei UPP.
Zu kurz gedacht, meint unser Autor, der jahrelang in Projekten der Armutsbekämpfung gearbeitet und dabei das Know-how der Favelados kennengelernt hat. Ihnen wäre mehr geholfen, wenn ihre Kompetenz zur Selbsthilfe endlich anerkannt und gefördert würde.
Nach Zählung von UN-Habitat gab es 2012 in Brasilien 16.433 Favelas, dort wohnen und leben 28 Prozent der Bevölkerung. Die Statistikbehörde der brasilianischen Regierung (IBGE), kam im Zensus 2010 zu einer erheblich geringeren Ergebnis: 6329. Wie auch immer, die Zahl der Favelas steigt und das nicht nur in Brasilien. Weltweit leben derzeit ca. eine Milliarde Menschen in Slums, 2030 werden es nach UN-Schätzungen zwei Milliarden sein. Die Verstädterung wird ein gewaltiges Problem der Zukunft sein. Ich werde hier auf die Situation in brasilianischen Favelas eingehen, die keineswegs mit der in den Slums von Nairobi oder Johannesburg vergleichbar ist, wo gegenwärtig noch ein deutlich schlimmeres Elend herrscht.
Nach Zählung von UN-Habitat gab es 2012 in Brasilien 16.433 Favelas, dort wohnen und leben 28 Prozent der Bevölkerung. Die Statistikbehörde der brasilianischen Regierung (IBGE), kam im Zensus 2010 zu einer erheblich geringeren Ergebnis: 6329. Wie auch immer, die Zahl der Favelas steigt und das nicht nur in Brasilien. Weltweit leben derzeit ca. eine Milliarde Menschen in Slums, 2030 werden es nach UN-Schätzungen zwei Milliarden sein. Die Verstädterung wird ein gewaltiges Problem der Zukunft sein. Ich werde hier auf die Situation in brasilianischen Favelas eingehen, die keineswegs mit der in den Slums von Nairobi oder Johannesburg vergleichbar ist, wo gegenwärtig noch ein deutlich schlimmeres Elend herrscht.
Woher kommt die Favela?
Die brasilianischen Favelas entwickelten sich in Etappen. Auslöser war die Sklavenbefreiung im Jahr 1888, die sich als eine Befreiung der Menschen ins Elend und somit ins Armenviertel abspielte. Ab 1940 beschleunigte sich die Landflucht aus dem Nordosten wegen jahrelanger Dürre. Während der Zeit der Militärdiktatur (1964–1985) lockte die Erschließung des Amazonas Millionen Brasilianer vom Land in die Stadt. Noch heute leben in Belém, einer der beiden Metropolen im Amazonasgebiet, über 50 Prozent Favelados – in São Paulo sind es 11 Prozent, in Rio 22 Prozent. EU-Zuckerexportsubventionen und der damit einhergehende Absturz der Zuckerpreise auf dem Weltmarkt führten zu im wortwörtlichen Sinn oft mörderischen Arbeitsbedingungen bei den Zuckerrohrschneidern und damit oft zu ihrer Flucht in die Megametropolen im Süden. Die Zuckerbarone hatten den Preisdruck der Europäer an ihre Arbeiter weitergegeben. Die katholische Landpastorale hat beschrieben, wie Arbeiter vor Erschöpfung tot umfielen. Heute wird die familiäre Landwirtschaft, die 60 Prozent der in Brasilien konsumierten Nahrungsmittel liefert, durch das Land-and-Watergrabbing des nationalen und internationalen Agrobusiness vertrieben. São Gonçalo, eine Nachbarstadt von Rio, Armutsstadt mit 91 Favelas und mit einer Million Einwohnern zweitgrößte Verwaltungseinheit im Bundesstaat, ist zu 50 Prozent von „Nordestinos“ bewohnt. Erst die vor zehn Jahren unter Präsident Luiz Inácio Lula da Silva einsetzenden Sozialhilfeprogramme haben die Lage etwas entspannt. Programme zur Förderung der familiären Landwirtschaft führten zu einer Verbesserung – während der große Devisenbringer, das Agrobusiness, weiterhin massiv gefördert wird.
Zwangsumsiedlungen
In Rio de Janeiro befindet sich die größte Ansammlung von Favelas in Lateinamerika. Nach dem Zensus von 2010 leben mehrere Hunderttausend Menschen in 1071 Favelas, die über das ganze Stadtgebiet verstreut liegen. Auch dort, wo 2014 die Fußball-WM und 2016 die Olympischen Spiele stattfinden, wo große Tourismusinvestitionen getätigt oder Rios heruntergekommenes Hafengebiet nach Londoner Vorbild in eine Lifestyle-Zone umgewandelt werden soll.
Das berühmte Maracanã-Stadion, der Ort für das WM-Finale, liegt mittendrin. Repräsentanten der Favelas befürchten eine Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich. Allein zugunsten der Infrastrukturprojekte, die anlässlich der Mega-Events geplant sind, sollen 119 Favelas aufgelöst werden. Ein Widerstandsnetzwerk hat sich gebildet: „Movimento Favela Não se Cala“, die Bewegung „Die Favela hält nicht die Klappe“. In einem von 200 Familien besetzten Gebäudekomplex im Zentrum von Rio, dem Quilombo de Guerreiro, erlebe ich ein „Süd-Süd“-Treffen. Eine südafrikanische Protestbewegung, die sich erfolgreich gegen den Abriss von Slums gewehrt hatte, zeigt einen Film über ihren Widerstand. Zwei Vertreterinnen der Bewegung sind angereist, der Erfahrungsaustausch mit den Aktivisten aus Rio dauert fast zwei Stunden. Der Film „Dear Mandela“ wurde eigens ins Portugiesische übertragen und ist ein Offener Brief im Filmformat. Er rich-tete sich an den Führer der Anti-Apartheidsbewegung. Die Gegner sind nun nicht mehr weiße Rassisten, sondern – unabhängig von der Hautfarbe – die neue Mittelklasse. Die Brasilianer in der Runde wissen nur zu gut, wovon die Rede ist. Auch hierzulande haben die Armen ihre im Widerstand gegen die Diktatur hervorgetretenen Hoffnungsträger verloren: die brasilianische Arbeiterpartei PT und ihre führenden Funktionäre.
Amnesty International Deutschland und die UN-Sonderberichterstatterin für angemessenes Wohnen, Raquel Rolnik, kritisieren die Zwangsumsiedlungen. Ein neues Wort geht um: Privataria – der Mix aus Piraterie und Privatisierung.
Noch immer Diktatur
Favelas werden meist beherrscht von einer der großen Mafia-Organisationen. Teils brutal, teils paternalistisch setzen sie ihre Herrschaft durch. Sie sind die real existierende Regierung. Der brasilianische Staat taucht zwei oder drei Mal jährlich in Gestalt polizeilicher Stoßtrupps auf und hinterlässt ein Dutzend Tote. Jährlich erschießt die Polizei rund 1000 Menschen wegen „Widerstands gegen die Staatsgewalt“. Der UN-Sonderberichterstatter Philip Alston weist in seinem im Mai 2010 der UN-Vollversammlung vorgelegten Bericht auf „summarische Exekutionen in großem Umfang“ hin. Nach einer jüngsten Untersuchung der staatlichen Universität von Rio de Janeiro tötet die Polizei jeden Tag etwa fünf Bürger. Die Demokratisierung, die 1985 in Brasilien nach Ende der Diktatur einsetzte, steht in den Favelas noch aus. Als unsere brasilianische Partnerorganisation vor ein paar Jahren in der Favela Salgueiro ein Berufsbildungszentrum aufbaute, befolgte sie zwar die bra-silianischen Bauvorschriften, die „Abnahme“ indes holte man sich nicht bei der Präfektur, sondern beim Chef des lokalen „Narcotrafico“, der Drogenmafia. Der saß gerade im Gefäng-nis, aber über sein Mobiltelefon wollte er zahllose Fragen beantwortet wissen. Erst danach erteilte er die Betriebsgenehmigung.
Zum Narcotrafico und zu einer Polizei, die scheinbar alles darf, kommt seit ein paar Jahren noch eine dritte Kraft: die Milizen. Bestehend aus ehemaligen Polizisten, Feuerwehrleuten und Kriminellen, gibt sie vor, die Favela-Bewohner vor der organisierten Kriminalität zu schützen. Tatsächlich sind sie nur eine weitere Fraktion der illegalen und gewalttätigen Geschäftemacherei, die in der Favela blüht. In der Favela Morro do Barão erlaubte die dortige Miliz dem Narcotrafico gegen eine Gebühr von umgerechnet 100.000 Euro weiter ihrem Drogengeschäft nachzugehen. Nach Eingang dieser „Mietzahlung“, wie die Zeitung „O Dia“ schrieb, verpfiff die Miliz den Drogenhandel bei der Militärpolizei. Der Rachefeldzug des Narcotrafico dauert an. Bislang gab es 16 Tote.
D-Day
Seit Anfang 2009 werden in der Südzone von Rio de Janeiro, dort, wo die Mega-Events und Investitionen realisiert werden sollen, drei Dutzend Favelas von der Unidade de Polícia Pacificadora (UPP), der Befriedungspolizei, mit 30 dauerhaften Polizeiwachen gehalten. Weil die Erstürmungen vorher in den Medien angekündigt wurden, verliefen die Einsätze relativ unblutig. Der lokale Narcotrafico war zunächst ausgewichen, zum Beispiel in die oben genannte Favela Salgueiro, wo es heute statt einer Mafiaorganisation zwei gibt. Als wir in einer benachbarten Favela ein Seminar durchführten, mussten die Teilnehmer an drei Jungs mit Gummischlappen, Shorts und mit umgehängten Maschinenpistolen vorbei. So etwas habe ich in den acht Jahren meiner Tätigkeit in brasilianischen Favelas noch nie erlebt. In Brasilien gibt es 16 Millionen Waffen, davon sind 14 Millionen in Privathand. Jüngsten Statistiken zufolge ist die Mordrate in meiner früheren Projektregion São Gonçalo zwischen Juli und August 2013 um 190 Prozent gestiegen.
Eine der spektakulärsten Okkupationen erfolgte am 25. November 2010. 800 Fallschirmjäger des brasilianischen Heeres, 300 Bundespolizisten, 1300 Militär- und Kriminalpolizisten drangen mit Panzern und Hubschraubern der Marine in den riesigen Favela-Komplex Morro do Alemão ein, wo etwa 85.000 Menschen leben. Die größte Tageszeitung „O Globo“ titelte in acht Zentimeter hohen Lettern „O Dia D“ – und vergleich die Aktion mit dem D-Day, der Landung der Westalliierten an der französischen Küste im Juni 1944. In einer 12-seitigen Sonderbeilage wurde die Besetzung gefeiert. Die Kriegsmetaphorik gibt Auskunft über das Selbstverständnis der Befriedungsakteure: Sie sind eher Besatzungstruppen als Bürgerpolizei. Wer ein Fete steigen lassen will, muss beim lokalen UPP-Stützpunkt um Erlaubnis fragen.
Zweifelsohne brachte die Entwaffnung des Narcotrafico großen Zugewinn an Sicherheit und Lebensqualität für die Menschen in den betreffenden Favelas – und für die, die in der Umgebung wohnen. Die Bewohner müssen nicht ständig Angst vor Schießereien haben, die Kinder können in der Gasse spielen, auch nach Einbruch der Dunkelheit kann man sich vor die Tür trauen. Wer auf Job-Suche ist, kann die Favela nun als Wohnort angeben, was etwas weniger Stigmatisierung bedeutet. Welche nachhaltige Wirkung wird diese vorwiegend militärische Strategie haben? Die Zweifel nehmen zu.
Der gravierendste Vorfall ereignete sich in der größten Favela Lateinamerikas, in der Rocinha. Der Hilfsarbeiter Amarildo war im Juli dieses Jahres von der Befriedungspolizei entführt, gefoltert und ermordet worden. Das wäre eigentlich nichts Neues, in der Favela eher Alltag. Neu ist, dass zum ersten Mal in der Favela selbst ein breiter zivilgesellschaftlicher Protest entsteht: „Cadé o Amarildo?“ (Wo ist Amarildo?) Er wird unterstützt von der Protestbewegung der Mittelklasse. Inzwischen sitzen der zuständige UPP-Kommandant und eine Reihe anderer Polizisten in Untersuchungshaft. 70 von 700 UPP-Polizisten in der Rocinha sind seither auf eigenes Gesuch versetzt worden. Sie hielten die Feindseligkeiten, die ihnen von den Favela-Berwohnern entgegenschlugen, nicht mehr aus. Besatzungstruppen werden keine nachhaltige Lösung bringen.
Legaler oder illegaler Kapitalismus – zwei Karrieren
In etlichen der befriedeten Favelas hat sich der Narcotrafico zurückgemeldet. Aus der Rocinha werden inzwischen wieder Schießereien gemeldet. Die Bewohner sind schockiert. Im Morro do Alemão wird ein Polizist getötet – der elfte seit Beginn der Befriedungen. So haben die Bewohner einiger befriedeter Favelas mittlerweile unter zwei „Herren“ zu leiden, der UPP und dem Narcotrafico, die sich nicht selten zuarbeiten. Die Polizei von Rio gilt als die korrupteste in Brasilien. Solange die Befriedungspolizei immer wieder als gewalttätige Besatzungstruppe jenseits von Recht und Gesetz agiert und solange der Narcotrafico mit dem schnell verdienten Geld seine Attraktivität, vor allem für männliche Jugendliche, nicht einbüßt, wird er auch nicht endgültig vertrieben werden. Wo Jugendliche keine Chancen haben, sich durch Schul- und Berufsausbildung, Studium oder Einstieg in den Arbeitsmarkt ein normales Leben aufzubauen, wird die Befriedung nicht nachhaltig sein. Wo die Kompetenzen, die im informellen Überleben und Wirtschaften erworben wurden, nicht aufgegriffen und gefördert und die Bewohner nicht in reale Befriedungs- und Demokratisierungsprozesse einbezogen werden, können drei Dutzend Posten der UPP keine wirkliche Lösung bringen.
Thiago, 18, wohnt in der Favela Morro dos Urubus, dem Aasgeierhügel. Er schuftet von Montagfrüh bis Samstagnachmittag in einer Imbissbude in Copacabana, wo er monatlich ca. 250 Euro verdient. Damit kann er sich keine Freundin, kein Moped, kein Kino und keine Disko leisten. Seinem Vater hat er schon abgeguckt, wie man mit einer Maurerkelle umgeht und Elektrokabel verlegt. Ein drei- oder viermonatiger Maurer- oder Elektrikerkurs würde aus ihm einen echten Besserverdiener machen. Er hätte Aufträge ohne Ende. Im Großraum Rio de Janeiro fehlen 6000 Maurer und Poliere. Aber in seiner Favela gibt es keine Berufsbildungskurse, unten, im Asfalto, wie die besseren Viertel nach ihren asphaltierten Straßen genannt werden, sind sie unerschwinglich teuer. Sonntags kickt Thiago mit seinen Kumpels auf dem Bolzplatz. Er träumt davon, Fußballstar zu werden.
Fernando, mit dem zusammen er vier Jahre die Schulbank gedrückt hat, wo beide kaum mehr gelernt haben, als ihre Namen zu schreiben, verfolgt einen anderen Traum. Schon jetzt hat er mindestens fünf Mal so viel Geld in der Tasche wie Thiago. Er hat sich dem Comando Vermelho, dem Roten Kommando, einer der drei großen, in blutigen Schießereien miteinander konkurrierenden Drogenmafias von Rio angeschlossen. Überall in der Stadt, nicht nur in der Favela, sieht man die Initialen CV an die Mauern gesprüht. Das Comando Vermelho hat viele Bewunderer unter den armen Jugendlichen. Fernando ist jetzt Jemand in seiner Favela, hat Geld, kann für seine Kumpels eine Runde schmeißen, und sonntags lädt er seine Freundin Renata in ein Taxi und fährt mit ihr an den Strand. Seine statistische Lebenserwartung liegt bei 23 Jahren.
Soziale Befriedungspolizei
Die polizeilich-militärische Aktion der UPP wird durch Aktionen der UPP Social, der „Sozialen Befriedungspolizei“, flankiert. Ein Blick auf die Homepage der UPP Social lässt indes schon ahnen, welche Schieflage hier eingerichtet ist. Auf der Webseite ist zu lesen, welche Projekte sie anbietet: „Jede UPP hat spezifische Projekte für ihre Gemeinde in den Bereichen Bildung, Kultur, Sport, Berufsausbildung und Unternehmertum; Alphabetisierung für Erwachsene; Gymnastik und Theaterkurse für Senioren; Kampfsportarten wie Jiu Jitsu, Capoeira, Karate, Boxen und Thai-Boxen; Training für Fußball, Volley, Model-Kurs, PC-Techniker und mehr.“
Neun Kurse sind es in der Kategorie „Kultur und Sport“, allenfalls drei im Bereich „Schule und Berufsausbildung“. Das Drama, das ich bei meiner Arbeit in den Elendsvierteln immer wieder erlebt habe, ist weniger die materielle Armut oder das kulturelle Vakuum, sondern die Tatsache, dass es in jeder Favela intelligente, tüchtige, gewiefte und lebensfrohe Jugendliche gibt, die keine Chance bekommen, aus ihrem Leben etwas zu machen, weil es in ihrem Einzugsbereich keine Schule gibt, in der sie einen Mittelstufenabschluss machen können. Der aber ist Voraussetzung für einen Berufsbildungskurs.
In einigen der besetzten Favelas, etwa in der Cidade de Deus, hierzulande bekannt als City of God, oder in der erstbefriedeten Santa Marta, scheinen soziale Programme zu greifen. In Vidigal, einer Favela mit Panoramablick auf den Atlantik, schreitet die Gentrifizierung voran. Ausländer kaufen sich ein, die Immobilienpreise steigen, einige Favelados sind wohlhabend geworden, andere müssen weichen.
Die öffentliche Hand verfolgt in Rio fast immer eine Top-Down-Strategie. Die Favela-Gemeinde ist ein unbeschriebenes Blatt, auf das eine vorgefertigte Entwicklungserzählung geschrieben wird. Und so werden nicht nur die elementaren Bedürfnisse der Bewohner ignoriert, sondern auch die Kompetenz und die Kenntnisse, die sie im informellen Erwerbsleben und im Überlebenskampf erworben haben.
Aussteigen – wenn man Traute hat
Im Morro do Alemão wird buchstäblich über die Köpfe der Bewohner hinweg „investiert“. Für 82 Millionen Euro wurde eine Seilbahn gebaut, in der die Touristen über Wellblechhütten, Wassertanks und Satellitenschüsseln schweben und einen Blick in Gassen und Schluchten werfen können, in denen sich die Kinder nach wie vor an den offenen Abwassergräben mit Hepatitis infizieren. An der Endstation heißt es aussteigen – wenn man die Traute hat. Im Gegensatz zur Verbesserung der Grundversorgung der Favela ist die Seilbahn spektakulär, und der Gouverneur Sergio Cabral kann sich damit schmücken. Vorbild für das Seilbahnprojekt war einer der gefährlichsten Slums Lateinamerikas, Santo Domingo in der kolumbianischen Stadt Medellin, der erfolgreich in die Stadt integriert wurde – nicht zuletzt durch eine Seilbahn. „Es war wichtig, dass wir die Vorschläge der Bewohner anhörten“, so der federführende Architekt und Stadtplaner Francesco Orsini. „Sie sollten verstehen, dass unser Vorhaben auch ihres war.“ Davon ist man in Rio weit entfernt. UN-Sonderberichterstatter Philip Alston lobt die UPP-Stationen, kritisiert aber zunehmende Willkür und das Fehlen sozialer Dienste.
Im Rahmen des Programms Morar Carioca, Wohnen in Rio, wurden in Manguinhos, einer anderen Favela, Wohnblocks hochgezogen – auch hier erfolgte die Planung über die Köpfe der Bewohner hinweg. Die Regeln des informellen Wirtschaftens wurden großzügig übergangen und so der dafür erforderliche Platzbedarf gar nicht erst vorgesehen. Viele Bewohner haben sich ihr Kleinstunternehmen trotz Verbots in die Wohnwabe gepfropft – die alte Trockenhaube, die klapprige Nähmaschine, die Autoreparaturwerkstatt. An jeder Wohnblockfassade prangen ein Dutzend Transparente mit dem Konterfei des Gouverneurs.
Solidarökonomie
Als wir in einer der bitterarmen Favelas, Jardim Bom Retiro, eine Schneiderinnen-Kooperative auf den Weg bringen wollen, bitten wir den SENAI, den Serviço Nacional de Aprendizagem Industrial, die renommierteste und landesweit tätige Ausbildungseinrichtung für Industrieberufe, einen Schneiderkurs für Favela-Bewohnerinnen durchzuführen. Wir hielten eine Versammlung mit Interessentinnen ab; es kamen zwei Herren vom SENAI, präsentierten ein anspruchsvolles und nicht gerade preiswertes Curriculum, um am Ende mitzuteilen, dass der Mittelstufenabschluss Teilnahmevoraussetzung ist. Von den anwesenden Frauen hatte den keine. In der Favela dauert die Bildungskarriere im Durchschnitt vier Grundschuljahre, zumeist in einer miserablen Schule.
Mit Vania, Wilma und Isamara entwickelten wir darauf-hin den Berufsbildungskurs „Industrielles Nähen und Schneidern“, barfuß sozusagen. Bald schon gab es dafür Wartelisten. Die Schneiderinnenkooperative Salgueiro, die sich in einem gemeinsam eingerichteten Berufsbildungszentrum etabliert hat, ist bis heute ein Erfolgsmodell. Sie hat ein eigenes Modelabel „Mulheres de Salgueiro“ kreiert, sie hat sich mit einer anderen Kooperative vernetzt, die Tilapia züchtet, einen Speisefisch. Aus der Fischhaut, die zuvor weggeworfen wurde, werden nun Modeartikel produziert. Favela-Bewohner kennen sich aus mit Wiederverwertung und Improvisation. Seit zwei Jahren verkauft die Kooperative ihre Produkte online und zwei Dutzend Frauen erwirtschaften ein Einkommen.
Ausgang aus der Unmündigkeit
Die Intervention der öffentlichen Hand ist und agiert zentralisiert, vertikal, von außen nach innen. Zu diesem Ergebenis kommt eine Studie der staatlichen Universität von Rio de Ja-neiro (LAV-UERJ) im Jahr 2012. Es fehlen formelle Instanzen für den Dialog mit der Bevölkerung, vorhandene Regeln und Prioritäten werden nicht berücksichtigt.
In Brasilien wird den Armen seit jeher eingebimst, dass sie ignorant, inkompetent und kriminell seien, sodass sie im-mer einen Gouverneur, Präfekten oder Pastor über sich benötigten, der ihnen erkläre, was sie zu tun und zu lassen hätten. Die wohlhabende Mittelklasse braucht dieses Repertoire an Vorurteilen, um die soziale Segregation zu rechtfertigen. Nicht nur physisch, auch mental-kulturell sind Armut und Favela ein No-go-Area.
Am Beispiel der Schneiderinnen-Kooperative Salgueiro können Grundmuster für eine Befriedung, für Entwicklung und Integration, Demokratisierung und Bürgergesellschaft abgelesen werden. Das Erfolgserlebnis, gemeinsam und aus eigener Kraft diese Herausforderung der Kooperative zu meistern, nähert das Selbstbewusstsein dieser Frauen zum ersten Mal in ihrem Leben ihrer realen Alltagsleistung an. Sie schmeißen den Laden. Das gibt Kraft und macht Mut zu mehr. Sie erinnern sich an ihre eigenen Wurzeln. Sie vernetzen sich mit anderen Gruppen und Kooperativen. Mit einer Fachabteilung der PUC, der renommierten Katholischen Universität von Rio de Janeiro, die sich mit Kleinunternehmen und Kooperativen beschäftigt, haben sie eine Partnerschaft geschlossen. Sie werden in der Favela bewundert und nachgeahmt. Selbstbewusst verhandeln sie mit der korrupten Stadtverwaltung. Sie identifizieren sich mit ihrer Community und ihrer Kooperative.
Auf der Tagesordnung steht nicht die Befriedung von ein paar Favelas vor der Fußball-WM. Auf der Tagesordnung steht, die Einführung der Demokratie. Die geschilderten Emanzipationsprozesse der Selbstermächtigung sind hierfür essenziell. Vor allem aber bedürfte es eines grundlegenden kulturellen Wandels in der brasilianischen Elite und in großen Teilen der Mittelklasse. Sie müssten endlich akzeptieren, dass die Werte der französischen Revolution von 1789 auch in der Favela Gültigkeit haben. Solange ich beim Abendessen in „gutem Hause“, in dem man offen ist für viele fortschrittliche Ideen, geschnitten werde, weil ich die Hausangestellte mit dem allgemein üblichen Beijinho, dem Wangenküsschen, begrüße, ist es noch ein langer Weg.
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