Bauwelt

Standards, Steuern und die Rolle der Kommunen

Wie kommen wir aus dem Krisenmodus der Erstunterbringung zu einer sozialen Stadtentwicklung mit bezahlbarem Wohnraum – und was heißt das für Politiker, Stadt­planer und Architekten? Elf Anmerkungen

Text: Rettich, Stefan, Leipzig

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Standards, Steuern und die Rolle der Kommunen

Wie kommen wir aus dem Krisenmodus der Erstunterbringung zu einer sozialen Stadtentwicklung mit bezahlbarem Wohnraum – und was heißt das für Politiker, Stadt­planer und Architekten? Elf Anmerkungen

Text: Rettich, Stefan, Leipzig

Nach Prognosen des für den Wohnungsbau und die Städtebauförderung zuständigen Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) werden mindestens 350.000 neue Wohnungen pro Jahr benötigt. Das sind etwa 100.000 Wohnungen mehr, als derzeit pro Jahr in Deutschland fertiggestellt werden. Als erster Anreiz für die Branche wurde die Förderung des sozialen Wohnungsbaus für den Zeitraum bis 2019 von bislang 2 Milliarden Euro auf 4 Milliarden Euro angehoben. Zur weiteren Unterstützung des sozialen Wohnungsbaus und der Flüchtlingsunterbringung hat der Haushaltsauschuss des Bundestages in diesem Jahr die verbilligte Abgabe von Konversionsflächen an Kommunen gewährt1. Danach können Kommunen Konversionsflächen mit einem Abschlag von bis zu 80 Prozent auf den Verkehrswert erwerben. Das ist immens. Allerdings ist das gesamte Programm auf vier Jahre und auf ein Maximalvolumen von 100 Millionen Euro begrenzt. Bedenkt man, dass der Bund über 35.000 Hektar Konversionsflächen verfügt, wirkt die Maßnahme recht bescheiden, und es stellt sich die Frage, ob einer Politik der offenen Grenzen nicht auch eine Bereitstellung von Bundesimmobilien und -flächen ohne Obergrenzen folgen müsste.
Zumindest die Grundstücke in integrierter Lage müsste der Bund offenherziger zur Verfügung stellen. Geschieht dies nicht, werden viele Kommunen größere Flächen an den Stadträndern ausweisen müssen, wie dies in Teilen schon in Hamburg geschieht.
Das gefährdet zum einen das Primat der Innenentwicklung und damit die Ziele der Klimapolitik2, zum anderen bergen randstädtische Siedlungen in nicht integrierten Lagen das negative Potenzial der Ghettoisierung und die Gefahr des erneuten Scheiterns sozialer Integration und der Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Ein Grund, weshalb dies nicht erkannt wird, liegt an der Zuständigkeit. Die Liegenschaften des Bundes sind beim Finanzministerium angesiedelt und werden dort von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) verwaltet. Die Maßgabe: nicht benötigte Immobilien meistbietend veräußern. Diese rein monetäre Bewertung der Liegenschaften müsste dringend durch einen strategischen Blick auf deren planerische Bedeutung für die Kommunen ergänzt werden. Am Beispiel des Berliner Dragoner-Areals wird ein Umdenken bereits sichtbar3. Idealerweise sollte die BImA beim BMUB angesiedelt werden, wo entsprechende Fachkenntnis vorhanden ist.
Ein weiterer wesentlicher Punkt, der vom BMUB zur kurzfristigen Lösung des Wohnungsmangels eingebracht wurde, ist ein Programm für modulares Bauen mit einem Volumen von 120 Millionen Euro, das noch ausgeweitet werden soll. Offenbar führen gleiche Probleme auch zu gleichen Antworten und nebenbei zu einer neuen Sicht auf die Nachkriegsmoderne, die in ähnlicher Situation auf die selben Konstruktionsmethoden setzte. Angesichts der derzeitigen Situation können wir uns besser vergegenwärtigen, welche enormen Leistungen damals unter noch schwierigeren Bedingungen erbracht worden sind. Architekten können und sollten neue Typologien für die aktuelle Wohnungsfrage entwickeln und möglichst schnell modulare und pragmatische Vorschläge zur Reduzierung von Standards machen, was auf Bundesebene ebenfalls diskutiert wird. Ob sie aufgegriffen werden liegt an der Politik, ihren Förderprogrammen und besonders an den Banken, die diese co-finanzieren müssen. Die Wohnungsfrage bleibt, was sie immer war, eine politische.
12015 wurde vom Haushaltsausschuss des Bundestages einer Richtlinie der BImA zur verbilligten Abgabe von Konversionsgrundstücken (VerbRKonv) zugestimmt. Kommunen wird dadurch der Erstzugriff auf Konversionsflächen zugebilligt, mit einem Abschlag von bis zu 80% auf den Verkehrswert. Das Gesamtvolumen ist bis 2019 auf 100 Mio. Euro begrenzt und steht unter Haushaltsvorbehalt, d.h., der Haushaltsausschuss muss die Richtlinie jährlich neu bestätigen. Die Maßnahme ist ursächlich eine Umsetzung aus Kapitel 4.2 des Koalitionsvertrags der 18. Legislaturperiode und basiert nicht auf dem zusätzlichen Bedarf an Wohnraum durch Zuwanderung.
22010 betrug der Flächenverbrauch in Deutschland 77 ha pro Tag. Die Bundesregierung verfolgt das Ziel, die Flächeninanspruchnahme bis 2020 auf 30 ha je Tag zu reduzieren. Das sogenannte 30-ha-Ziel ist Bestandteil der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie, die 2002 von der Bundesregierung festgelegt wurde.
3Das Dragoner-Areal ist ein 4,7 ha großes, ehemaliges Kasernengelände in Berlin-Kreuzberg, dessen Gebäude seit 1923 als Finanzamt genutzt wird. Als Bundesliegenschaft wurde das Grundstück nach dem Prinzip des Maximalerlöses in einem Bieterverfahren zum Verkauf ausgeschrieben. Der Haushaltsauschuss des Bundestages hat dem Verkauf an einen österreichischen Investor für 36 Mio. Euro zugestimmt. Der Haushaltsauschuss des Bundesrates, der ab einem Preis von 15 Mio. Euro zustimmen muss, hat den Verkauf abgelehnt. Das Grundstück wird nun unter veränderten Verkaufsprämissen erneut ausgeschrieben.
Von der neoliberalen zur gerechten Stadt?
Ein Blick in die jüngere Vergangenheit zeigt, dass durch den Wohnungsmangel in den Großstädten und die neu gestellte Wohnungsfrage das marktliberale Modell der letzten beiden Dekaden in Teilen abgelöst wurde und sich eine stärkere staatliche Steuerung, hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit, abzeichnet. Unter dem Eindruck der Finanzmarktkrise haben die Städte beispielsweise den Verkauf kommunaler Wohnungen und Einrichtungen der Daseinsvorsorge ausgesetzt. Die Höchstgebotspraxis beim Verkauf kommunaler Grundstücke hat deutlich abgenommen und viele Großstädte wenden mittlerweile die Eckpunkte des Münchner SoBoN-Modells4 auf die Entwicklung neuer Flächen an. Hinzu kommen Milieuschutzsatzungen, Zweckentfremdungs- und Umwandlungsverbote die von vielen Kommunen angewendet werden. Mit dem Bestellerprinzip bei der Bezahlung von Maklern und mit der Mietpreisbremse hat der Bund ebenfalls Instrumente eingeführt, die in angespannten Wohnungsmärkten angewendet werden können, um den ungezügelten Mietpreissteigerungen entgegen zu wirken. Jetzt, im Krisenmodus der Flüchtlingsunterbringung, berufen sich die Stadtstaaten sogar auf ihr Polizeirecht und haben sich eine juristische Option für die Beschlagnahmung leerstehender Gebäude geschaffen. Die Erfordernisse aus der Zuwanderung könnten diese Tendenz weiter stützen und langfristig zu einer noch stärker gesteuerten und gerechteren Stadtentwicklung führen. Es kann aber auch ganz anders kommen: Die marktliberalen Akteure könnten von der großen Nachfrage, den in Aussicht gestellten Fördermitteln und von den geplanten Standardsenkungen profitieren und ihr Modell der Gewinnmaximierung weiter ausbauen.
4Das Modell einer sozial gerechten Bodennutzung (SoBoN) wurde in München 1994 mit dem Ziel eingeführt, Grundstückseigentümer an den Planungsfolgekosten zu beteiligen. Das Modell basiert inhaltlich auf der Münchner Mischung. Idealerweise soll ein Standort je zur Hälfte Wohnen und gewerbliche Nutzung vereinen. Das Wohnsegment folgt einem Drittelmix von Miet-, Eigentums- und Sozialwohnungen. Prämisse ist, dass den Planungsbegünstigten mindestens ein Drittel der durch die Überplanung erzielten Bodenwertsteigerung als Gewinn zugesichert wird.
Bauland- und Immobilienspekulation verhindern
Das deutsche Steuerrecht begünstigt Leerstände und Brachflächen. Eigentümer können Verluste abschreiben, die ihnen z.B. durch die Grundsteuer entstehen. Das fördert Spekulation und behindert die Innenentwicklung. Exemplarisch zeigt das der Büroflächenleerstand in deutschen Großstädten, der gerade in angespannten Wohnungsmärkten besonders hoch ist. Allein in Frankfurt sind es 1,8 Millionen Quadratmeter. Das entspricht dort rein rechnerisch einem Potenzial von ca. 20.000 Wohnungen in integrierten Lagen. Die Skelettbauweise der Bürobauten ist für eine einfache und preiswerte Umnutzung gut geeignet. Denkbar ist, Teile der Gebäude als Übergangsunterkunft zu nutzen, während die anderen Teile zeitgleich in dauerhaften und sozial gemischten Wohnraum umgewandelt werden. Um dies zu fördern und um der Spekulation entgegenzuwirken, müssen Verlustabschreibungen bei Leerstand zeitlich befristet und (Wohn-)Zwischennutzung gesetzlich erlaubt werden. Auch Bauland sollte mobilisiert und gegen den Willen der Eigentümer seinen Zwecken zugeführt werden können. In Österreich wurde dazu das Instrument der Vertragsraumordnung5 eingeführt, mit der Grundeigentümer zu einer widmungskonformen Bebauung innerhalb einer bestimmten Frist verpflichtet werden können.
5Die Vertragsraumordnung wurde 1992 im Bundesland Salzburg eingeführt, um dem Phänomen der Bodenhortung zu begegnen und um innerstädtische Flächen für die Bebauung zu mobilisieren. Nach planungsrechtlicher Anpassung auf Grund von Verfassungsklagen kommt die Vertragsraumordnung mittlerweile in allen österreichischen Bundesländern zum Einsatz.
Die Gefahren einer Sonder-AfA erkennen
Im BUMB wird die Auflage einer befristeten, degressiven Sonder-AfA als Anreizinstrument für den Neubau von preiswertem Wohnraum in Städten mit angespannter Wohnungslage diskutiert. Um privates Kapital für die Finanzierung des Aufbau-Ost zu mobilisieren, wurde Anfang der neunziger Jahre schon einmal eine Sonder-AfA6 eingeführt. Dabei kam es zu erheblichen Fehlallokationen mit negativen Auswirkungen auf die Stadtentwicklung. Investoren agierten in der Regel als Zwischenhändler. Wohnungsgrößen und Typologien wurden daher weniger am tatsächlichen Bedarf als an der Kaufkraft von Kleinanlegern ausgerichtet. Zudem wurde oft in nicht integrierten Lagen gebaut, da sich die meisten innerstädtischen Grundstücke noch in der Rückgabephase an die rechtmäßigen Eigentümer befanden. Gebaut wurde daher viel Falsches am falschen Ort. Die hohen Leerstände der neunziger Jahre sind auch ein Ergebnis davon. Will man aus dieser Fehlentwicklung lernen, dann darf es keine Sonder-AfA ohne funktionelle und lokale Steuerung durch die Kommunen geben. Die Sonder-AfA sollte auf gut integrierte, aber schwer entwickelbare Grundstücke beschränkt werden, um diese für den privaten Sektor attraktiver zu machen. Es gibt keinen Grund, weshalb auch Filetgrundstücke durch Steuergelder zusätzlich vergoldet werden sollten.
6AfA steht für Abschreibung durch Abnutzung. Die Sonder-AfA-Ost war ein zeitlich begrenztes Sonderabschreibungsprogramm für Immobilien in den neuen Bundesländern und Berlin, die nach dem 31.12.1990 und vor dem 1.1.1995 fertiggestellt wurden. Neben der normalen (linearen) 2%-igen AfA konnten innerhalb der ersten 5 Jahre zusätzlich 50% aller Herstellungs- oder Anschaffungskosten eines Gebäudes abgeschrieben werden. Dies führte in der Spitze zu Steuereinbußen bei der veranlagten Einkommenssteuer im zweistelligen Milliardenbereich pro Jahr.
Lowtech statt Hightech denken
Die aufgepumpten EnEV- und Passivhäuser sind keine Antwort auf die Wohnungsfrage. Einen Beitrag zum Klimaschutz kann man auch durch reduzierte Wohnflächen und eine Pufferzone leisten, die nur in wärmeren Jahreszeiten ein großzügiges Wohnzimmer bietet. Zudem bedürfen nicht alle Menschen derselben Standards, nicht alle benötigen barrierefreie Wohnungen, haben das gleiche Lärmempfinden oder die gleichen Heizgewohnheiten. Viele können auf einen Keller oder einen teuren Bodenbelag verzichten, aber immer mehr brauchen günstigen Wohnraum. Seit Jane Jacobs sind auch Gebäude verschiedenen Alters und Zustands Voraussetzung für die Mannigfaltigkeit eines Quartiers.7 Es ist also von Vorteil, wenn ein gewisser Anteil an Gebäuden mit geringeren Standards gebaut und ausgestattet wird, um über einen Mix an Mieten auch ein gemischtes Milieu zu gewährleisten. Auch das BUMB arbeitet an der Überprüfung von Baustandards und Normen, um das Bauen bezahlbarer zu machen, und hat dazu eine Baukostensenkungskommission eingesetzt. Beispielhaft wird auf den Umgang mit dem Stellplatznachweis bei Bauantragsverfahren hingewiesen. In Hamburg und Berlin ist dieser wegen veränderten Mobilitätsverhaltens gänzlich abgeschafft, in Bremen wird für intelligente Mobilitätskonzepte eine Reduzierung der Stellplatzverpflichtung auf bis zu 20 Prozent in Aussicht gestellt. Es ist sicher kein Zufall, dass es gerade die Stadtstaaten sind, die hier eine Vorreiterrolle spielen. Hier decken sich Landeskompetenz und kommunale Erfordernis. Die Prüfung unserer Überregulierung darf aber nicht zu einer Deregulierung und zu Substandards führen, um Wohnungen schnell und als möglichst billige Ware herzustellen.
   Jane Jacobs: Tod und Leben großer amerikanischer Städte, S. 114, Bauwelt Fundamente 4, Bertelsmann Fachverlag, Berlin 1963
Einen neuen Bauwirtschaftsfunktionalismus verhindern
Für den Bau von kostengünstigem Wohnraum ist die Frage des Standards von zentraler Bedeutung. Es gibt eine Reihe von Architekten, die seit Jahren an der Standardschraube drehen und dabei neue Wohnmodelle und soziale Mischung im Auge haben, allen voran Lacaton & Vassal und ihre Maison Latapie. Die vom BMUB eingesetzte Kommission zur Baukostensenkung könnte mit ihren Vorschlägen nicht nur das Bauen günstiger machen, sondern auch neue Spielräume für Experimente sozialer Innovation schaffen. Andererseits könnte die Reduzierung von Standards auch einen neuen, wiederum staatlich geförderten Bauwirtschaftsfunktionalismus hervorbringen, der bessere Barackenbauten produziert. Besonders aufmerksam sind die großen börsennotierten Wohnungskonsortien zu beobachten, deren Geschäftsmodell schon heute aus einer einträglichen Kombination besteht. Sie bieten stark nachgefragte Sozialwohnungen mit höchst fragwürdigen Substandards an und beziehen dafür sichere Transfermittel der Sozialämter. Es besteht die Gefahr, dass diese nichtgemeinnützigen Unternehmen ihr Geschäftsmodell auf den Neubau von Sozial- und Flüchtlingswohnungen ausdehnen werden.
Reduzierte Standards kontrollieren
Die Top-down-Verordnung von Baustandards, auch deren vereinheitlichte Reduzierung, ist eine Sackgasse. Wohnungsmärkte sind divers und regional sehr verschieden. Standards können daher besser von kommunalen Instanzen gesetzt und von diesen flexibel und ganzheitlich bewertet werden. Es gilt, auf der einen Seite den billigen Substandard windiger Investoren zu verhindern und auf der anderen Seite preiswerten Wohnraum mit spezifischen räumlichen Qualitäten zu ermöglichen. Dabei könnte eine organisierte Qualitätskontrolle helfen. Vergleichbar mit Gestaltungsbeiräten, die sich um eine Verbesserung der Baukultur bemühen, könnten unabhängige „Kommunale-Standard-Räte“ Bebauungskonzepte hinsichtlich ihres spezifischen Ansatzes, einen bedarfsgerechten Low-Standard und mit Blick auf soziale Innovation zu bauen, beurteilen.
Neue Stadtviertel und größere Quartiere bauen
Das sozialräumliche Gefüge in unseren Städten hat sich umgestülpt, und mit der Mittelschicht kam auch die Spekulation zurück in die Mitte der Stadt. Gerade in angespannten Wohnungsmärkten ist kostengünstiger Wohnungsbau in zentralen Lagen kaum mehr möglich. Der Bau von 350.000 Wohnungen pro Jahr allein auf innerstädtischen Flächen oder durch Nachverdichtung ist nicht realistisch, insbesondere wenn vergünstigte Konversionsflächen des Bundes nur limitiert zur Verfügung stehen. In der Summe deutet vieles auf die Entwicklung von neuen, größeren Quartieren auf kommunalen Flächen hin, wie das Beispiel Hamburg zeigt. Dies geschieht auch dort nicht freiwillig und birgt große Risiken der Ghettoisierung. Der Hamburger Senat hat im Oktober dieses Jahres alle sieben Bezirke der Stadt zum Ausweis von 8 Hektar großen Flächen verpflichtet, um darauf Sozialwohnungen zu errichten, die bis Dezember 2016 bezugsfertig sein sollen.8 Viele dieser Flächen liegen in Stadtrandlagen. In den Fokus rücken auch die Großwohnsiedlungen und ihre Flächen mit dem Potenzial zur Nachverdichtung.
8   Auf jeder 8 ha großen Fläche wird der Bau von ca. 800 Sozialwohnungen angestrebt, die zunächst in enger Belegung 4000 Flüchtlinge aufnehmen sollen. Die Sozialbindung ist auf 15 Jahre angelegt. Danach wird mit einem Rückgang der Bewohnerdichte auf ca. 2000 Bewohner gerechnet. (Quelle: Pressemitteilung BSW Hamburg vom 6.10.2015)
Großwohnsiedlungen urbanisieren
Erfolgreiche Ankunftsquartiere zeichnen sich durch preiswerten Wohnraum und Aneignungspotenzial aus, durch Stadt- und Gebäudestrukturen, die den Aufbau von Mikroökonomien ermöglichen. Vor der Phase der Reurbanisierung war diese „zone in transition“ in erster Linie in den ehemaligen gründerzeitlichen Arbeitervierteln angesiedelt, die nach ihrer Gentrifizierung keinen kostengünstigen Wohnraum mehr bieten. Die neuen Ankunftsorte sind jetzt die monostrukturellen Großwohnsiedlungen der Spätmoderne, weil anerkannte Flüchtlinge zunächst nur dort freie und erschwingliche Wohnungen finden werden. Die Siedlungen müssen umgebaut und urbanisiert werden, ihre Strukturen bieten keine adäquaten Räume für Integration und Selbstorganisation. Insbesondere in den Erdgeschosszonen muss Raum für Aneignung, Begegnung und informelle Mikroökonomien geschaffen werden. Für die Großwohnsiedlungen ist das eine enorme Chance, denn ihre Flächen bieten auch das Potenzial zur Nachverdichtung mit ergänzenden Typologien und damit zur stärkeren sozialen Durchmischung. Gelingt dies nicht, sind auch die Aufstiegschancen der Neuankömmlinge minimiert. Es besteht die Gefahr der Ghettobildung und der weiteren Stigmatisierung der Siedlungen.
Alte Fehler in neuen Quartieren vermeiden
Bei der Neuanlage von Quartieren in Stadtrandlage sind alte Fehler zu vermeiden. Vernetzung und Anschluss an den Siedlungskörper und auch eine Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr sollten Voraussetzung sein. Die ideale Korngröße dieser Quartiere muss definiert werden. Sie sollten so klein als möglich, aber so groß wie nötig sein, damit sich eine Mindestausstattung mit KiTa, Grundschule und Nahversorgung lohnt. Die Analyse von stadtspezifischen Altersgruppen kann einen Anhalt dafür geben, wie viele Wohnungen in welcher Stadt erforderlich sind. Die Quartiere sollten Eigenschaften der Autarkie und neue integrationsfördernde Bautypologien besitzen. Schule, KiTa und andere Bildungseinrichtungen sowie Räume zur Religionsausübung könnten in einem Integrationshaus in der Quartiersmitte aufgehen. Nutzungsmischung sollte ebenso selbstverständlich sein wie die Produktion von erneuerbaren Energien zur dezentralen Selbstversorgung. Manche Städte, wie z.B. Freiburg, wachsen seit längerem in größeren Baufeldern an den Rändern. Sicher sind das Rieselfeld und Vauban Mittelstandsmodelle, aber sie zeigen auch, dass der Erfolg von der Korngröße abhängt und von der Frage, wer investiert. Sind es viele kleine Baugruppen, die sich zur Zuwanderung bekennen und alternative Wohnmodelle ausprobieren wollen, sind Mischung, Integration und Identifizierung mit dem Stadtteil im Fundament bereits verankert, ohne dass der Staat viel dazutun muss.
Gasträume: Willkommens-Systeme der Flüchtlingsunterbringung fördern
Viele Ursachen für Migration stehen in zeitlich versetzter Wechselwirkung mit Handlungen der westlichen Welt. Dazu gehören neben den Irakkriegen auch der Nachhall der Kolonialzeit oder etwa CO2-Emissionen der Industrienationen, die Klima bedingte Umweltverschlechterungen in Drittweltstaaten hervorrufen. Europa steht in der Verantwortung und wird sich auf Migrationsereignisse dieser neuen Art einstellen müssen. Die aktuelle Überforderung in den Städten zeigt, dass wir darauf nicht vorbereitet waren und keine geeigneten Systeme entwickelt haben, auf die wir jetzt zurückgreifen können. Die unerwartet herzliche Willkommenskultur der Deutschen bietet einen Ansatz für die Entwicklung ein resilienten Systems. Staatlich geförderte Gästehäuser und -zimmer könnten die Spitzen künftiger Migrationswellen kappen. Auch Geringverdienende könnten in ihren Wohnungen enger zusammenrücken, Zuwanderer aufnehmen und dabei von staatlicher Förderung profitieren. Zeltstädte wären verzichtbar.Die dezentrale Unterbringung bei hilfsbereiten Bürgern böte sprachliche und kulturelle Integration von der ersten Minute an.
Die Kommune als Kommandozentrale ausstatten
Asyl- und Flüchtlingspolitik sind Bundessache. Der Bund ist aber auf Amtshilfe der Kommunen und auf das lokale Ehrenamt angewiesen. Zudem müssen die langfristigen Auswirkungen auf kommunaler Ebene gelöst werden: Wohnungsbau, Erstintegration, Ausbau der sozialen Infrastruktur und der Bildungseinrichtungen wie auch die Folgekosten gescheiterter Integration. Die Kommunen sind die Kommandozentralen dieser Krisenbewältigung. Sie benötigen dafür deutlich mehr und flexiblere Handlungskompetenzen und ein stärkeres Mitspracherecht bei der Ausgestaltung und Implementierung von Förderprogrammen für den Wohnungsbau oder bei der Überlassung von Grundstücken durch die BImA. Auch werden investive Mittel allein nicht ausreichen. Bund und Länder werden zusätzliche kommunale Personalressourcen für Steuerung, Stadtentwicklung und soziale Aufgaben finanzieren müssen, die sich aus der Zuwanderung ergeben.
Fakten
Architekten KARO* Architekten, Leipzig/Hamburg
aus Bauwelt 48.2015
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