Studieren, analysieren, interpretieren
Bibliotheca Hertziana
Text: Schulz, Gunnar, Braunschweig; Bülau, Anna, Mendrisio; Follmann, Christine, Rom; Beese, Christine, Berlin
Studieren, analysieren, interpretieren
Bibliotheca Hertziana
Text: Schulz, Gunnar, Braunschweig; Bülau, Anna, Mendrisio; Follmann, Christine, Rom; Beese, Christine, Berlin
Hunderte von Doktoranden mit Themen aus der italienischen Kunstgeschichte der Nachantike haben – oft mit einem Stipendium – mehrere Jahre oder nur kurz als Gast in der Bibliotheca Hertziana in Rom gearbeitet. Vier Beispiele aktueller Forschungen im Bereich der Architekturgeschichte
Rethink Michelangelo | Der Entwurfsprozess der Biblioteca Laurenziana in Florenz
Es mag auf den ersten Blick überraschen, sich in einer Dissertation mit einem derart bekannten Werk Michelangelos wie die Biblioteca Laurenziana auseinanderzusetzen. Allzu groß scheint die Herausforderung, dem immer wieder bearbeiteten Forschungsgegenstand Neues hinzuzufügen. Doch haben Untersuchungen der letzten Jahre gezeigt, dass gerade bei den Bauten Michelangelos mit interdisziplinären Ansätzen und Fragestellungen bisher nicht erkannte Zusammenhänge herausgearbeitet werden konnten. Den kreativen Gedanken Michelangelos zu folgen und die Genese seiner Werke zu verstehen, ist eines der ergiebigsten Themen der Kunst- und Architekturgeschichte. Welche Entwurfsparameter dem Entstehungsprozess zugrunde lagen und welche Ideen Michelangelo in der Entwurfsphase leiteten sind die Fragen meines Projekts.
Schon vor der Beauftragung für den Bau der Bibliothek durch Papst Clemens VII. Ende 1523 war Michelangelo an San Lorenzo mit der Neuen Sakristei und den Entwürfen für eine Fassade beschäftigt. Aus der Bauzeit sind zahlreiche Quellen – Briefe, Aufzeichnungen, Rechnungen, Skizzen, Entwurfs- und Präsentationszeichnungen – erhalten, die einen Einblick in die gedankliche und praktische Auseinandersetzung mit dem Bauprozess ermöglichen. Besonders die Zeichnungen werden aufgrund ihrer „Schönheit“ und ihres expressiven Ausdrucks häufig als Ergebnis oder als Zwischenstand interpretiert. Dass aber jeder Entwurfszeichnung ein produktiver Prozess inhärent ist und mit ihr eine gedankliche Fortentwicklung festgehalten wird, wurde bisher nicht erschöpfend untersucht.
Da sich Michelangelo beim Entwurf der Biblioteca Laurenziana erstmals mit der Aneinanderreihung mehrerer Räume und dem Zusammenhang zwischen Innen- und Außengestalt einer Architektur konfrontiert sah, werden die wechselseitige Beeinflussung der Gliederungselemente und die Übergangsteilarchitekturen unter diesen besonderen Bedingungen zu untersuchen sein.
Als Michelangelo 1534 seine Heimatstadt Florenz endgültig verlassen musste, um in Rom die zahlreichen päpstlichen Aufträge der Nachfolger von Clemens auszuführen, blieb die Biblioteca Laurenziana unvollendet liegen. Sie wird von seiner Werkstatt, später unter Niccolò Tribolo, Bartolomeo Ammannati und Giorgio Vasari, weitergeführt und 1571 eröffnet. Der heutige Zustand ist durch den Anbau einer Rotunde im 19. Jahrhundert und die Fertigstellung des Ricetto zu Beginn des 20. Jahrhunderts verändert. Mit Blick auf den Entwurfsprozess wird die Autorschaft Michelangelos für die nach 1534 hinzugefügten Teile kritisch überprüft. Schwerpunkt der Dissertation ist die Analyse der Entwurfssysteme und des Entstehungsprozesses. Dabei wird herausgearbeitet, wie Michelangelo gezeichnete Entwürfe Schritt für Schritt in den realisierten Bau überführt hat. Dazu ist eine präzise Dokumentation des bestehenden Bauwerks notwendig, denn bisherige Aufmaßpublikationen weichen zum Teil erheblich von dem Zustand vor Ort ab. Entwurfseinheiten und deren Verhältnisse zueinander werden anhand maßlicher Zusammenhänge nachgewiesen. Gunnar Schulz
Inszenierungen | Funktion und Bedeutung des Lichts im barocken Sakralbau Italiens
In der barocken Sakralarchitektur wird das natürliche Licht stärker als in den Epochen davor und danach gezielt als Gestaltungsmittel eingesetzt. Dabei gehen Architekten wie Gian Lorenzo Bernini (1598–1680) und Francesco Borromini (1599–1667) weit über den zuvor gebräuchlichen Einsatz von Tambour-, Laternen-, Obergaden-, Rund- und Lunettenfenstern in Kuppeln, Langhäusern und Kapellen hinaus und entwickeln indirekte Beleuchtungsquellen, die einzelne Ausstattungsgegenstände szenisch hervorheben. Bernini zum Beispiel beleuchtet in der römischen Cappella Cornaro die Skulpturengruppe der Transverberation der heiligen Theresa von Avila mit dem Engel in einer konvexen, hervortretenden Altarädikula durch einen verdeckten Lichtschacht indirekt mit „himmlischem“ Licht. Er unterstreicht die Konnotation des Lichts zugleich durch vergoldete, quasi materialisierte Strahlen, die von diesem Fenster ausgehen.
Aber auch räumlich-architektonische bzw. strukturelle Aspekte der zunehmend komplex kurvierten barocken Bauten werden mittels Lichtschächten, Lichtkammern, zweischaligen Kuppeln usw. hervorgehoben. Beispielhaft lässt sich dies an der Grabkapelle für die Familie Avila betrachten, die der vornehmlich als Maler tätige Antonio Gherardi in der Kirche Santa Maria in Trastevere in Rom schuf. Hier werden gleich vier innovative Lichtquellen kombiniert, wie in einem zeitgenössischen Kupferstich Giovanni Giacomo de Rossis zu sehen ist, der den Querschnitt der Kapelle zeigt. Gherardis Lichtspiele täuschen den Betrachter über die tatsächliche räumliche Ausdehnung der Kapelle. Zugleich wird ihm aber auch die reizvolle Möglichkeit gegeben, den Raum zu begehen und so die Ursachen der Täuschung zu ergründen. Die illusionistische Nutzung des indirekten Lichts erinnert an lichtinszenatorische und perspektivische Effekte aus der barocken Bühnenkunst, bei der verdeckte Lichtquellen wie Fackeln und Kerzen eine wichtige Rolle spielten. Gherardi hatte wie viele barocke Künstler sowohl in der illusionistischen Quadraturmalerei als auch der ephemeren Bühnenkunst Erfahrungen gesammelt, weshalb ein Transfer beleuchtungstech-nischer Ideen vom einen Medium in das andere naheliegt.
Anhand exemplarischer Fälle werden die Ausgangspunkte, die Formen und die Entwicklung barocker Lichtinszenierung untersucht. Dabei ist ein zentrales Anliegen, die Anregungen für die genannte Entwicklung durch Architektur-, Perspektiv-, Kunst- und naturwissenschaftliche Traktate sowie die Vorbilder in der Architektur vorangegangener Epochen und der zeitgenössischen Bühnen- und Theaterarchi-tektur herauszuarbeiten. Die Architektur Berninis, Borrominis und Pietro da Cortonas (1596–1669) werden als Ausgangspunkt der lichtinszenatorischen Entwicklungen des späteren 17. Jahrhunderts eingehend betrachtet. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Ausbreitung des „Phänomens“ außerhalb Roms, im Piemont, am Beispiel der spätbarocken Architektur von Guarino Guarini (1624–1683), Filippo Juvarra (1678–1736) und Bernardo Vittone (1704–1770). Alle drei Architekten zeigen in ihrem Werk deutliche Bezüge zu den zuvor genannten, nutzten die von ihnen entwickelten Formen aber noch komplexer als strukturgebende, die Raumschale öffnende bzw. auflösende architektonische Elemente, wie etwa in der mit sieben verschiedene Formen indirekter und direkter Beleuchtung durchbrochenen Kuppel der Kirche von San Lorenzo in Turin von Guarini anschaulich wird. Anna Bülau
Die Villa Bellavista der Marchesi Feroni | Selbstinszenierung einer toskanischen Aufsteigerfamilie des späten 17. Jahrhunderts
Die Villa Bellavista in Borgo a Buggiano, 60 Kilometer westlich von Florenz, bei Montecatini Terme, ist nicht nur ein in architektur- und ausstattungsgeschichtlicher Hinsicht außergewöhnliches Ensemble, sondern stellt eines der ambitioniertesten Bauvorhaben des späten 17. Jahrhunderts im Großherzogtum Toskana dar. Umso mehr erstaunt es, dass sie bislang noch nicht Gegenstand einer grundlegenden und umfassenden wissenschaftlichen Arbeit war.
Die Anlage, bestehend aus Villa, Kapelle und Garten, wurde zwischen 1696 und 1702 von Marchese Fabio Feroni (1652–1702) in Auftrag gegeben. Dieser stammte aus sehr einfachen Verhältnissen; noch sein Vater Francesco (1614–1696) verdingte sich als Tuchfärber, bevor er um 1640 für die folgenden 30 Jahre nach Amsterdam übersiedelte und dort schnell durch Handel zu einem sehr wohlhabenden und einflussreichen Kaufmann wurde. Darüber hinaus war er für die Medici und Papst Alexander VII. als Diplomat und Berichterstatter sowie als Kunstagent tätig. Nach seiner Thronbesteigung im Jahr 1670 forderte Cosimo III. de’ Medici Francesco Feroni dazu auf, als sein Schatzmeister in die Toskana zurückzukehren. Diesem Wunsch entsprach der Kaufmann nur unter der Bedingung, dass man ihm das Medici-Landgut Bellavista verkaufen und es mit diversen Privilegien ausstatten würde, insbesondere forderte er einen Adelstitel. In zähen Verhandlungen, die sich über vier Jahre hinzogen, gelang es ihm schließlich, seine Forderungen durchzusetzen: Der Kauf des Landguts wurde mit der Verleihung des Titels eines Marchese verknüpft, und 1673 kehrten die Feroni in ihre Heimat zurück.
Vor diesem Hintergrund betrachtet, kann die Errichtung der Villenanlage durch Francesco Feronis Sohn Fabio zunächst als eine Anpassung an höfische Konventionen gewertet werden. Darüber hinaus stellt das Ensemble aber auch eine Positionierung und die Selbstinszenierung einer Aufsteigerfamilie am Hofe der Medici dar. Diese Ambitionen äußert sich zum einen darin, dass der Auftraggeber den Architekten Antonio Ferri, den Maler Pietro Dandini und weitere namhafte Künstler verpflichtete. Zum anderen verstand es Fabio Feroni, hinsichtlich der architektonischen Gestaltung sowie der malerischen und plastischen Ausstattung von Villa und Kapelle eigene Akzente zu setzen, mit denen er einerseits an bedeutende Projekte der Medici anknüpfte und sich andererseits von der Kunstpatronage mächtiger Adelsfamilien wie den Corsini oder den Riccardi bewusst absetzte.
Bei der Villa und der Kapelle handelt es sich um zwei seltene Bauwerke der Zeit, an denen eine dezidierte Verschmelzung von florentinischen und römischen Motiven, von traditionellen und modernen Elementen studiert werden kann. So lassen sich etwa Rückgriffe auf die Formensprache des Villenbaus der Medici im 16. Jahrhundert feststellen. Dagegen verweist der Konkavschwung, der die Türme an die Haupt- beziehungsweise Gartenfassade anbindet auf eine Rezeption römischer Architekturlösungen. Christine Follmann
Neue Horizonte im Städtebau | Die Form der Stadt bei Marcello Piacentini
Der römische Architekt Marcello Piacentini (1881–1960) ist in Deutschland fast nur in Architektenkreisen bekannt. Seine Hauptwerke, die Piazza della Vittoria in Brescia, die Via Roma in Turin, die Via della Conciliazione in Rom, die römische Universitätsstadt oder das Stadtviertel EUR werden wahlweise zitiert, um auf die rigorosen Abrisse zur Zeit des Faschismus oder auf die Qualität der entstandenen Stadträume zu verweisen. Dass sie aber lediglich die Höhepunkte eines breiten städtebaulichen Schaffens darstellen, ist nur wenigen bekannt.
Die Dissertation stellt Piacentinis städtebauliches Gesamtwerk vor und schafft somit eine neue Bewertungsgrundlage für sein umfangreiches Œuvre, das, von seinem Eintritt in den Architektenverband 1905 bis zu seinem Tod, im Kontext zeitgenössischer Stadtplanung und Architektur untersucht wird. Piacentinis fachliche Entwicklung wird durch die formale Analyse seiner Skizzen, Pläne und gebauten Ensembles, durch eine quellenkritische Bearbeitung seiner Korrespondenz, behördlicher und institutioneller Akten und auch durch eine Auswertung seiner eigenen Schriften sowie des Bestands seiner Bibliothek nachvollzogen. Anhand der konkreten Projekte wird der Einfluss internationaler Leitbilder ebenso dargestellt, wie die Übertragung und Umsetzung dieser Ideen in realisierte Stadträume.
Die Darstellung von Piacentinis Entwicklung von der Denkmalpflege zum Städtebau zeigt, welche Bedeutung dem Städtebau eines Charles Buls oder eines Camillo Sitte, dem Handbuch Josef Stübbens sowie zugleich der amerikanischen Bewegung City-Beautiful in dieser Entwicklungsphase zukommt. Die Arbeit widmet sich darüber hinaus Piacentinis Plänen für Rom und seiner Haltung zum Thema Dezentralisierung. Durch die Ernennung zur Hauptstadt kommt Rom 1871 eine neue politische sowie gesellschaftliche Rolle zu. Die Stadt benötigt politische Repräsentationsräume, neue Verkehrswege und neue Wohnungen. Im Hinblick auf diese Bedürfnisse entwickelt Piacentini 1925 seine Pläne für ein „Groß-Rom“, bei denen das moderne Stadtzentrum mittels eines sogenannten „Foro Littorio“, also einer faschistischen Forumsanlage, an die Stelle des heutigen Hauptbahnhofs verlagert werden soll. Besonders diese Pläne geben, trotz nationalistischer Parolen, Aufschluss über Piacentinis Inte-resse am internationalen Städtebau, wie beispielsweise der Ringstraßenplanung Wiens oder Kölns. Anfangs besteht Piacentinis Ziel zunächst darin, mit der Verlagerung weitere Eingriffe in die historische Altstadt zu verhindern. Das Beispiel der Via della Conciliazione zeigt, dass er diese bewahrende Haltung in den dreißiger Jahren aufgibt. Ein typologischer Zugriff wird schließlich bei der Analyse der von Piacentini ab 1924 in ganz Italien geplanten Projekte gewählt. Anhand der Kategorien Straße, Monument und Platz wird die Genese dieser Stadträume vorgestellt. Ausgehend von diesen Projektstudien werden für seine Arbeit grundlegende formale Lösungen und Handlungsmuster herausgearbeitet.
Indem Piacentinis städtebauliche Praxis von der Architekturgeschichtsschreibung als einflussreicher Beitrag zur Städtebaudebatte des frühen 20. Jahrhunderts anerkannt wird, erfährt der konventionelle Städtebau, der auf Elementen wie Straße, Platz, Block und Haus beruht, im Kontext der städtebaulichen Leitbilder der Moderne eine neue Bedeutung. War Italien in der nordeuropäischen Debatte über den internationalen Städtebau des frühen 20. Jahrhunderts bisher kaum vertreten, trägt die Arbeit dazu bei, die Ideen der italienischen Städtebauer besser bekannt zu machen und zu weiteren internationalen Vergleichen anzuregen. Christine Beese
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