Utopie und Wirklichkeit
Ein Rückblick auf 50 Jahre Brasília
Text: Redecke, Sebastian, Berlin
Utopie und Wirklichkeit
Ein Rückblick auf 50 Jahre Brasília
Text: Redecke, Sebastian, Berlin
Die Wanderausstellung, die nach sechs Stationen in der ganzen Welt nun in der brasilianischen Botschaft in Berlin zu sehen ist, entstand im April 2010 anlässlich des 50. Jahrestags der Einweihung von Brasília.
Die Kuratorin Danielle Athayde wählte einen ganz eigenen Weg der Präsentation: Nicht die bestens bekannten Bilder der breiten Achsen von Lúcio Costa und der Staats- und Kulturbauten von Oscar Niemeyer, die seinem Credo „je schöner die Form, desto besser die Funktion“ folgten, stehen im Vordergrund; stattdessen dominiert ein beeindruckendes Stadtmodel, das sich auf 30 Quadratmetern ausbreitet, den Ausstellungsraum. Grundlage dieses Modells ist ein gestochen scharfes Satellitenfoto aus dem Jahr 2010 im Maßstab 1:3500, auf das in akribischer Arbeit die wichtigsten Gebäude entlang der zentralen Achse und der beiden „Flügel“ von Costas „Plano Piloto“ als kleine weiße Blöcke geklebt wurden. Damit gelingt es, sich nicht nur einen guten Eindruck von der Stadtsilhouette zu verschaffen, sondern auch vom räumlichen Konzept der „Superquadras“, der aus Gebäuderiegeln zusammengesetzten Wohnquartiere entlang der Flügel. Der Besucher erfährt eine Menge über die zahlreichen Ergänzungen der ursprünglichen Planung, vor allem durch Bürotürme, die die Klarheit des Entwurfs in den letzten drei Jahrzehnten an einigen Stellen deutlich verwässert haben. Auf dem Satellitenfoto entdeckt er zudem viele unbekannte Bereiche der Stadt: neu angelegte Wohngebiete, auch kleine, verschachtelte Siedlungen der armen Bevölkerung, Favelas, wie man sie aus anderen Städten Brasiliens kennt, dazu Gewerbegebiete und Straßen, die sich deutlich von der ersten Planung lösen und in eine stadtplanerisch unstrukturierte Umgebung hinausführen. In der Ende der 50er Jahre für 400.000 Einwohner geplanten Stadt leben heute 1,8 Millionen.
Mehrere Fotografen liefern Impressionen von der Stadt. Dabei stehen Fotos aus der Entstehungszeit im Vordergrund. Besonders ergreifend: die Bilder der Candangos, der rund 40.000 Bauarbeiter, die im armen Nordosten des Landes angeworben wurden, auf dem Steppenboden der unwirtlichen Einöde die neue Hauptstadt zu bauen. Auch Marcel Gautherots berühmte Bilder von den Gerippen der noch unfertigen Gebäude entlang der Hauptachse sind zu sehen. Jeder Fotograf wird ausführlich vorgestellt mit seiner eigenen Geschichte, wie er zum Auftrag gelangte und nach Brasília reisen konnte, darunter auch die ursprünglich aus Deutschland stammenden Peter Scheier und Jesco von Puttkamer. Sie zeigen die Baustelle und die damalige Lebenswirklichkeit um die Baustelle herum. João Facós Luftbilder runden den Gesamteindruck ab. Leider fehlen in der Schau aktuelle Fotos von städtischen Räumen mit im Laufe der Zeit vorgenommenen Veränderungen. Der Besucher erfährt daher nichts vom heutigen Leben in Brasília.
Ergänzt wird die Ausstellung von Exponaten wie historischen Karten, Bannern, Münzen, Briefmarken und verschiedenen Kunst- und Dekorationsgegenständen aus der Entstehungszeit. Die vier wichtigsten Protagonisten der neuen Hauptstadt werden mit persönlichen zeitgenössischen Fotos und Zeichnungen vorgestellt: der damalige Staatspräsident Juscelino Kubitschek, Oscar Niemeyer, Lúcio Costa und der Künstler Athos Bulcão.
Ein Foto sorgt für Erstaunen. Es zeigt den Grundstein der neuen Hauptstadt aus dem Jahr 1922! Schon damals, anlässlich der 100-Jahr-Feier der Unabhängigkeit Brasiliens, hatte man sich für eine neue Hauptstadt im Landesinneren entschieden. Der kleine Obelisk befindet sich nur wenige Kilometer von der Stelle entfernt, wo Brasília später tatsächlich errichtet wurde. Die Diktatur von 1930 bis 1946 hatte das Vorhaben stoppen lassen.
0 Kommentare