Vier gewinnen in Salzgitter
Text: Crone, Benedikt, Berlin
Vier gewinnen in Salzgitter
Text: Crone, Benedikt, Berlin
Salzgitter war einst als weiträumige Bandstadt für 250.000 Menschen geplant. Doch aus der Großstadtvision wurden 31 Ortsteile, die lose zusammenhängen und an Einwohnern verlieren. Auf Wegzug und Leerstand antwortet die Stadt nun mit einer Zentralisierung – einer vierfachen.
Viel Publikum hat der Hochzeitswagen nicht, als er laut hupend durch die Stille der Wohnsiedlung rast. Ihm folgt keine Autoparade, gefüllt mit ebenso energisch hupenden Verwandten und Freunden. Auch stehen keine Passanten am Wegesrand und winken dem Brautpaar zu. Nur in der Ferne schreitet ein älterer Herr behäbig mit seiner Gehhilfe voran, ohne zum vorbeirauschenden Wagen aufzublicken.
In Steterburg ist es ruhig an diesem sonnigen Frühlingstag. Die Siedlung im Westen von Thiede, einem Ortsteil der Stadt Salzgitter, hat mit einem wachsenden Wohnungsleerstand zu kämpfen. Menschen ziehen weg, die Kaufkraft sinkt, Geschäfte schließen. In der Quartiersmitte, in deren Richtung der Wagen mit den frisch Vermählten verschwindet, sucht ein Frisörladen einen Nachmieter, und auf der Tür einer einstigen Bankfiliale verweist ein Schild auf die Niederlassung im benachbarten Lebenstedt. Hier, in Steterburg, sehen die Planer von Salzgitter noch Arbeit vor sich.
Thiede, und damit auch die dazugehörige Siedlung Steterburg, ist eines der vier zukünftigen Zentren der niedersächsischen Großstadt. Bis 2007 galt in Salzgitter das Leitbild einer Bandstadt, die sich über 20 Kilometer vom südlichen Ortsteil Bad über Gebhardshagen bis Lebenstedt im Nordosten erstrecken sollte. Das Leitbild stammte noch aus den fünfziger Jahren und war wiederum eine Weiterentwicklung der im Dritten Reich entworfenen Pläne, das Dorf Lebenstedt zur „Hermann-Göring-Stadt“ auszuweiten.
Auf niedersächsischer Rübensteppe sollte unter der Leitung des Industriearchitekten Herbert Rimpl (1902–1978) eine nationalsozialistische Musterstadt für 250.000 Menschen entstehen, um die 1937 errichteten Hermann-Göring-Werke mit ausreichend Arbeitskräften zu versorgen. Durch den Abbau des Erzes in der Region und seiner Verarbeitung in den Werken erhoffte sich Nazi-Deutschland eine Unabhängigkeit von Rohstofflieferungen aus dem Ausland.
Rimpl plante für das neue Salzgitter eine Gartenstadt, in der eineinhalb- bis zweigeschossige Wohnhäuser eine Achse säumten. Die Siedlungsschwerpunkte lagen südwestlich der Werke, damit der Westwind den Industriequalm nicht durch die Gärten wehte.
Für das Großprojekt zwangsvermählten die Nazis 1942 21 Dörfer aus dem Landkreis Wolfenbüttel und 7 Gemeinden aus dem Landkreis Goslar mit dem historischen Ort Salzgitter, dem heutigen Salzgitter-Bad. Geboren war eine Stadt, die bis heute mehr Land als Stadt ist: ein 210 Quadratkilometer großer Teppich, zusammengeflickt aus Dörfern, Kleinstädten und bäuerlichen Ortschaften. Aus der erträumten Bandstadt wurde ein loses Siedlungsnetz, und auch die kalkulierte Viertelmillion Einwohner hat Salzgitter nie gesehen. Der Höchststand waren 120.000 Menschen im Jahr 1975. Heute zittert Salzgitter knapp über der magischen Bevölkerungsgrenze von 100.000.
Eine klassische Großstadt kann das polyzentrische Salzgitter mit seinen 31 Ortsteilen ohnehin nicht mehr werden. Das neue Vier-Zentren-Konzept soll für die Vorzüge des urbanen Lebens nun zumindest in den vier größten Ortsteilen sorgen: Lebenstedt, Bad, Thiede und Gebhardshagen.
„Es ist wichtig, dass eine städtische Siedlung auch ein Zentrum hat, mit Angeboten für den täglichen Bedarf“, begründet Stadtbaurat Michael Tacke die Neuausrichtung und erzählt von einem großen Einkaufszentrum in Lebenstedt, dem „Oberzentrum“ mit 40.000 Einwohnern. Da die Ortsteile in Salzgitter bis zu 30 Kilometer auseinander liegen, sollen die vier Zentren im Sinne einer Stadt der kurzen Wege unabhängig funktionieren und den Menschen vor Ort alles bieten, was sie zum Leben brauchen. Das neue Leitprinzip lautet daher: Innen- vor Außenentwicklung, weniger Neubau auf der grünen Wiese, mehr Nachverdichtung in den Ortskernen. In Zukunft fließen Städtebauförderungen in Salzgitter gezielt in die vier Ortsteile, um ein Wachstum der Zentren zu stärken, kündigt der Stadtbaurat an. „Einen ausufernden Siedlungsbrei wollen wir nicht mehr.“
Ein solches Ausfransen hätte das bis 2007 gültige Leitbild der Bandstadt bewirkt: „Eine Zwischenstadt zwischen den Zen-tren, die keine großartige Qualität hat.“ Die Abkehr von der Bandstadt bedeutet für Tacke aber keinen Angriff auf die Gartenstadt. Der offene und durchgrünte Städtebau aus den ersten Jahrzehnten der Stadt hätte durchaus seine Vorteile, nur die Grundrisse der alten Wohnhäuser seien oft nicht mehr „marktgerecht“.
Die neuen Zentren stärken
Auch Steterburg hat es offenbar schwer am Wohnungsmarkt. Die Arbeitersiedlung wurde 1938 in nur zehn Monaten auf einem Acker am Dorfrand von Thiede hochgezogen. Schlichte, zweigeschossige Häuser mit insgesamt 1100 Wohnungen ordneten die Planer zu einem Dreieck an, leicht versetzt und aus 19 unterschiedlichen Haustypen, um die eigene diktatorische Strenge wieder aufzulockern. Durch den Schwung der Straßen wirken die Wohnhäuser in einer Reihe wie eine geschlossene und gekrümmte Mauer. Hinter den Häusern liegt eine verborgene Welt, mit Garagen, Gemüsebeeten und Gartenhäuschen, von der die Fahrer, die sich mit ihren Autos durch die Siedlung schlängeln, nichts mitbekommen.
„Früher hatte hier jedes Haus einen Hausmeister, und auf der Straße haben wir Fußball gespielt“, schwärmt von seiner Kindheit ein Passant, der über den Pappeldamm spaziert. Bereits 1938, da war er vier Jahre alt, war seine Familie in die Siedlung gezogen. „Heute stehen viele Wohnungen leer“, sagt der Mann und zeigt auf das Obergeschoss eines Hauses mit Jalousien vor den Fenstern.
Warum die Dreißiger- und Vierziger-Jahre-Bauten in Salzgitter geschmäht werden, weiß Michael Tacke: „Keine vierköpfige Familie zieht mehr in eine 60-Quadratmeter-Wohnung.“ Neben veralteten Grundrissen hätten zahlreiche Häuser eine Modernisierung dringend nötig. So auch die Bauten der Ost- und Westsiedlung im Norden von Salzgitter-Bad.
Das Quartier stammt aus den ersten Jahren der Stadtneugründung, 2004 wurde es in das Förderprogramm Soziale Stadt aufgenommen. Aus der kleinteilig bebauten Siedlung, die in den letzten zehn Jahren 20 Prozent ihrer Einwohner verloren hat, soll ein Wohnort mit viel Freiraum und geringen Mieten werden. Platz für die anvisierte Zielgruppe – Familien, Studenten und Senioren – gibt es zur Genüge: In Teilen der Siedlung steht fast jede zweite Wohnung leer. Zwar findet man im Umfeld Schulen, Kindergärten und Läden für die Nahversorgung, doch nach einem aktuellen Gutachten fehlt es an Spielbereichen für Kinder, Rückzugsräumen für Ältere und Treffpunkten für Jugendliche. Gerade junge Erwachsene verlassen die Siedlung und kommen nicht wieder.
Das geplante Wohnparadies im Grünen wird in den Augen der Stadt nicht ohne die Modernisierung der teilweise über 70 Jahre alten Arbeiterhäuser gelingen. Dafür braucht es zahlungswillige Eigentümer, doch der größte Besitzer, eine Wohnungsgesellschaft, ist insolvent gegangen. „Wir stoßen immer wieder auf Grenzen, weil uns Kooperationspartner fehlen“, sagt Stadtbaurat Tacke. Was der Stadt bleibt: in Straßen, Sozialprojekte, Grünanlagen und öffentliche Plätze investieren; ein attraktives Umfeld schaffen und damit Bewohnern und Eigentümern signalisieren, hier passiert was.
In Fredenberg, einer Großwohnsiedlung der sechziger und siebziger Jahre, lief die Zusammenarbeit von Stadt und Wohnungswirtschaft besser. 9600 Menschen leben in dem luftig-grünen Viertel am südwestlichen Rand von Lebenstedt. Bis 2013 haben Bund, Land, Stadt und EU zusammen 7 Millionen Euro öffentliche Mittel in die Siedlung gesteckt – das 7- bis 8-Fache wurde von privater Seite investiert. Eigentümer und Stadt ließen Häuser sanieren, mit dem Ergebnis, dass in einem Gebäudekomplex am Kurt-Schumacher-Ring der Leerstand von 40 Prozent auf null sank. Auch Kitas, ein Jugendtreff und ein kulturelles Stadtteilzentrum entstanden, außerdem wurde die örtliche Bibliothek erweitert und ein Einkaufszentrum erneuert. Vor zwanzig Jahren hätte ein Besucher hier noch die Hände vors Gesicht geschlagen, sagt Michael Tacke. „Heute ist es ein lebenswerter Stadtteil.“
Nach wie vor ziehen zwar Menschen weg, seit 2007 hat sich der Rückgang aber deutlich verlangsamt. In der angrenzenden Neubausiedlung Neu-Fredenberg steigt die Einwohnerzahl sogar wieder.
Für Michael Tacke ist der größte Vorteil, den der aufgelockerte und gegliederte Städtebau Salzgitter beschert hat, direkt vor der Haustür der Fredenberger zu sehen: eine grüne Umgebung, ruhige Wohnlage und kurze Wege in die Natur.
So auch im Seeviertel von Lebenstedt. Wer das Glück hat, hier in den vorderen Reihen zu wohnen, kann vom Balkon über den in den sechziger Jahren angelegten Salzgittersee blicken und hat gleichzeitig die City im Rücken. In dem wild zusammengewürfelten Quartier aus Zeilenbauten und Punkthochhäusern sieht die Stadt daher gerade für junge Familien die Alternative zum Leben auf dem Land – und will weiter in die Siedlung investieren.
Das alte Dorf überplanen
Doch: keine Zentren ohne Peripherie, keine Bevorzugung ohne Vernachlässigung. Die ländlichen Gebiete überlässt Stadtbaurat Tacke einem „organischen Wachstum“, hier und da sind Abrundungen an den Ortsrändern vorgesehen. Das Dorf Watenstadt soll bis 2020 sogar ganz von der Landkarte verschwinden.
Auf dem Areal des Ortes, von dessen langer Geschichte heute noch der rund 1000 Jahre alte Wehrturm der Dorfkirche zeugt, plant die Stadt ein Industriegebiet für Logistikunternehmen. Die 464 Bewohner von Watenstedt müssten dafür ihre Häuser verlassen. Der Grund für die Umwandlung zeigt sich qualmend hinter den Gartenzäunen: Die Schornsteine der Salzgitter AG spucken schwerfällig dicke Rauchwolken in den Himmel. Das Dorf ist umzingelt von dem Stahlhersteller und anderen Wirtschaftsriesen der Region, dem LKW-Produzenten MAN und dem Eisenbahnhersteller Alstom. Die Imissionen und die abgeschirmte Lage führten schließlich dazu, dass der Stadtrat von Salzgitter im Januar 2012 beschloss, das Dorf als Wohngebiet aufzugeben.
Es sei ein Geburtsfehler gewesen, dass Watenstadt bei der Gründung von Salzgitter von den Nazis stehen gelassen wurde, meint Norbert Uhde, Pressesprecher der Stadt. „Die Leute hätten schon viel früher umziehen und vernünftig entschädigt werden sollen.“ Seit 1998 darf in Watenstedt kein Wohnhaus mehr gebaut werden. 2008 besuchten der damalige Umweltminister Sigmar Gabriel und der Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee das Dorf. Ihre Visite sorgte für Aufmerksamkeit in den Medien – und für Bewegung im Rathaus. Im Februar dieses Jahres hat die Stadt in Kooperation mit der Salzgitter AG die Entwicklungs GmbH gegründet, die sich um den Wandel Watenstedts zum Industriegebiet kümmern soll. Für 19 Millionen Euro will die Gesellschaft bis 2020 den Bewohnern ihre Häuser und Grundstücke abgekauft haben. Die Gesamtkosten der Umwandlung schätzt ein Gutachten auf 39 bis 42 Millionen.
Wenn die Stadt ihr ein gutes Angebot mache, sei sie bereit zu verkaufen, sagt die Besitzerin eines Fachwerkhauses in Watenstedt. Sie ist gerade auf dem Weg zum Nachbarn, lehnt sich kurz an den Jägerzaun ihres Gartens in der Ortsmitte. „Seit Jahren beobachte ich, wie um mich herum die Menschen wegziehen und Häuser abgerissen werden – da will ich hier auch nicht mehr leben.“ Zwar fühle sie sich ihrer Heimat verbunden, vermisse aber jüngere Menschen in der Umgebung. Wohin sie zieht, wenn es ihr Dorf nicht mehr gibt, weiß sie nicht. Am besten an einen Ort, an dem man auch im Alter gut leben könne. „In die Stadt – vielleicht nach Lebenstedt. Ich glaube daran: Es ist nie zu spät, neu anzufangen.“
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