Was trägt der Neumarkt drunter?
Eine Künstlerin öffnet Dresdner Fassaden
Text: Scheffler, Tanja, Dresden
Was trägt der Neumarkt drunter?
Eine Künstlerin öffnet Dresdner Fassaden
Text: Scheffler, Tanja, Dresden
Der Dresdner Neumarkt ist heiß umkämpftes Terrain. Seit Jahren streiten hier die Anhänger historisierender Rekonstruktion mit den Befürwortern von zeitgenössischem Weiterbau über die angemessene Wiederherstellung des Platzes.
Die Künstlerin Anke Binnewerg hat mit ihrer Arbeit „Neumarktfenster“, für die sie die Fassaden einiger Alt- und Neubauten am Neumarkt partiell öffnete, die Gemüter erneut heftig in Wallung gebracht.
Ende 2012 gewann Anke Binnewerg den von der Kunstkommission der Landeshauptstadt ausgeschriebenen Wettbewerb „Die alltäglich erlebte Stadt – Künstlerische Eingriffe in den Dresdner Stadtraum“. Das Konzept, mit dem die an der HfBK Dresden ausgebildete Künstlerin überzeugte: Sie wollte die in der Bauforschung übliche Methode archäologischer Befundfenster an den Häusern rund um den Neumarkt anwenden, um damit die Zeitschichten des Ensembles, die durch den historisierenden Wiederaufbau der letzten Jahre stark verwischt wurden, temporär wieder sichtbar zu machen.
Seit einem Studienaufenthalt in Vilnius interessiert sich Binnewerg für die Technik des partiellen Freilegens von überdeckten älteren Bauteilen und -schichten. In Litauen ist diese Praxis historischer Selbstvergewisserung weit verbreitet, sie ist Teil der Suche des baltischen Landes nach einer post-sowjetischen, neuen nationalen Identität. Längst sind die beliebten „Blicke hinter die Fassaden“ dort auch eine Art Gütesiegel für historische (d.h. aus vor-sowjetischer Zeit stammende) Bausubstanz.
Anke Binnewerg gelang es, viele der unterschiedlichen Akteure am Neumarkt für ihr Vorhaben zu gewinnen. Als sie das Projekt vor der Kunstkommission präsentierte, konnte sie ein gutes Dutzend größtenteils wichtiger Bauten vorweisen, deren Eigentümer Befundfenstern zugestimmt hatten. Eine beeindruckende architektonische Bandbreite kam dabei zusammen, die fast die komplette Baugeschichte des Areals abdeckte – vom Schloss über das in der späten DDR-Zeit errichtete heutige Hilton-Hotel bis hin zum umstrittenen „Quartier an der Frauenkirche (QF)“ aus der ersten Nachwende-Rekonstruktionsphase.
Der Künstlerin geht es mit den „Neumarktfenstern“ nicht darum, irgendein Gebäude oder einen Bauherrn bloßzustellen. Das Projekt nimmt nicht explizit Stellung zum Geschehen am Neumarkt; Binnewerg seziert einfach die verschiedenen Schichten der Fassaden – schließlich hat jede Zeit ihre eigenen baukonstruktiven Möglichkeiten und Gewohnheiten – und überlässt dem Betrachter die Wertung.
Und gewertet wurde in Dresden gleich von Anfang an sehr heftig. Nachdem das Projekt öffentlich wurde, brach in der Lokalpresse und in den üblichen von Altstadtfans frequentierten Internet-Foren ein regelrechter Shit-Storm aus: Wie es sein könne, dass man mit „Steuergeldern“ (dem Preisgeld von 20.000 Euro) mutwillig Neubauten zerstöre und das „Herz des Neumarkts“ herausreiße. Auch in der Stadtverwaltung fühlte sich offenbar manch einer provoziert. Da die Gestaltungssatzung jedoch nicht griff, um die Kunst-Aktion zu unterbinden, verlagerten sich die Angriffe auf deren vermeintlich „bautechnische Risiken“. Daraufhin stiegen u.a. das Sächsische Immobilien- und Baumanagement (SIB) und das Hilton-Hotel aus dem Projekt aus.
Letzten Endes konnte Anke Binnewerg mit dem Restaurator Eric Stenzel sechs neue Befundfenster realisieren. Die Künstlerin sieht diese als Ergänzung zu den bereits offen liegenden historischen Spuren am Neumarkt: die mittelalterliche Festungsmauer in der Tiefgarage, der Sandsteinbogen im Landhaus und die noch erkennbaren Originalteile der Frauenkirche. Um nach dem Ende des Projekts (am 20. September), die Öffnungen möglichst unauffällig wieder verschließen zu können, wählte sie meist erhabene Putzspiegel oder Teile der Rustizierung aus. Die Neumarktfenster enthüllen am Kurländer Palais und am Landhaus den bauzeitlichen Sandstein aus dem 18. Jahrhundert, bei den Bauten der Heinrich-Schütz-
Residenz und an der Rampischen Straße 29 – in den vergangenen Jahren nach historischem Vorbild errichtet – Schichtungen aus Hochlochziegeln und mehrlagigen Wärmedämmputzen mit kleinen Styroporkügelchen und hinter einer herausgenommenen Fassadenplatte am zeitgenössisch gestalteten „Innside Hotel“ die stählerne Tragkonstruktion der Außenhaut.
Ein Befundfenster, das die Schichtung von tragender Stahlbetonwand mit barockverzierter Thermohaut zeigt, sucht man leider vergeblich. Denn mit ihrer multimedialen Empörung ist es den Freunden historisierender Kulissenarchitektur wieder einmal gelungen, einen kritischen Blick auf wirklich alle – guten wie schlechten – Facetten des Neumarkts zu verhindern.
0 Kommentare