Bauwelt

Werkzeug, Revolution und Evolution

Interview mit Norbert Palz und Matthias Castorph

Text: Schade-Bünsow, Boris, Berlin

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Matthias Castorph, Norbert Palz (v. l. n. r.)
Foto: Katja Renner

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Taichung Metropolitan Opera
Abb.: Toyo Ito & Associates

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Taichung Metropolitan Opera

Abb.: Toyo Ito & Associates


Werkzeug, Revolution und Evolution

Interview mit Norbert Palz und Matthias Castorph

Text: Schade-Bünsow, Boris, Berlin

Norbert Palz vom Lehrstuhl für Digitales und Experimentelles Entwerfen an der Universität der Künste Berlin und Matthias Castorph vom Lehrstuhl Stadtbaukunst und Entwerfen an der TU Kaiserslautern im Gespräch.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurden die Möglichkeiten des Computers in immer stärkerem Maße in den Berufsalltag des Architekten eingebunden. Anfänglich fungierten die neuen digitalen Architekturwerkzeuge mit den CAD-Programmen als prinzipielle Verlängerung des klassischen analogen Zeichnens und orientierten sich dabei an den Möglichkeiten der darstellenden Geometrie. Mittlerweile präsen­tieren sie sich als eigenständigere, entwurfsunterstützende und generative Medien. Die Entwicklungskurve, die man nun über die letzte Dekade zeichnen kann, bewegt sich von einer ersten Untersuchung der Formensprache animierter Geometrien hin zu einer immer stärker werdenden Verwendung als vernetztes Informations-, Entwurfs- und Fabrikationswerkzeug. Die frühen Jahre waren geprägt von einer theo­retisch konzeptionellen Untersuchung der neuen räumlichen Inhalte und ihrer Entsteh­ungs­prozesse, die erstmalig disziplinübergreifende Analogien und entwerferische Übertragungen von biologischen, physikalischen und evolutionären Prozessen erlaubten. Die Anwendungen dieser Fortschritte bewegen sich auf eine klassischere Baupraxis zu. Gleichwohl treten sie als eigenständige Architektursprache mit neuer formaler Expressivität auf. Aktuelle Beispiele stellen diese Entwicklung von digitalem Inhalt zu gebauter Umwelt dar. Durch die Vernetzung digitaler Entwurfsprozesse mit einer Vielzahl von wissenschaftlichen Disziplinen wie z.B. Informatik, Geometrie, Material­kunde, Kybernetik ist eine Konsolidierung des „digitalen Entwerfens“ nicht absehbar. Das lässt den Schluss zu, dass wir uns noch für eine lange Zeit in einer Früh­phase des Verständnisses und der Anwendung digitaler Methoden in der Architektur befinden werden.  Norbert Palz
Norbert Palz, Sie leiten den Lehrstuhl „Digitales und Experimentelles Entwerfen“ an der UdK Berlin. Seit wann gibt es diesen Lehrstuhl und warum wurde er eingerichtet?
Norbert Palz | Der Lehrstuhl wurde 2010 thematisch neu kalibriert. Mit dem experimentellen Entwurfsansatz steht er in der Nachfolge von Zamp Kelp. Neu ist das Thema der digitalen Möglichkeiten, dies gab es so spezifiziert an der UdK noch nicht. Für mich ist die Tradition, die Kelp an diesem Lehr­stuhl begründet hat, ausschlaggebend: das Experimentelle in zwei Richtungen zu betrachten, wissenschaftlich und mit einer entwerferischen Ausrichtung.
Matthias Castorph, wofür steht Ihr Büro Goetz Hootz und Castorph?
Matthias Castorph | Unsere Architektur bezieht sich auf Architekturen. Architektur ist für uns ein evolutorischer Prozess. Wir wollen nicht immer das Rad neu erfinden, sondern schrittweise den aktuellen Gegebenheiten, dem Ort, eine passende Antwort gegenüberstellen. Das führt dazu, dass unsere Bauten immer verschieden aussehen. Eine Entwicklung von Architektur aus Architekturen, so wie es Aldo Rossi gesagt hat.
Welche Rolle spielen bei Ihnen die digitalen Medien, das digitale Entwerfen?
MC | CAD und Visualisierungen sind selbstverständlich, es geht nicht mehr ohne. Eine programmatische Rolle spielen sie bei uns nicht. Uns geht es nicht darum, mit was man es macht, sondern was man draus macht. Wir sind sicher keine Vorreiter des digitalen Entwerfens. Ich glaube, dass die Fragen, die die Architektur stellt, sich nicht über Werkzeuge beantworten lassen.

Ist das digitale Werkzeug nicht doch mehr als nur ein Werkzeug?
MC | Wir müssen zwischen dem Werkzeug der Herstellung und dem Entwurfswerkzeug unterscheiden, das sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Ich glaube, dass man im Digitalen große Potenziale hat, wenn man sie methodisch zur Entwurfsgenese und nicht nur zur Formgenese nutzt.
NP | Das ist eine Beschreibung, die schon in den 60er Jahren bei Thomas S. Kuhn, bei der Erarbeitung der „Struktur der wissenschaftlichen Revolution“, entstanden ist: Was passiert, wenn etwas Neues entsteht? Einer der ersten Akte ist immer eine thematische Einkapselung von den Menschen, die diese Innovation für sich beanspruchen. Dies führt zu einer Beschneidung die Perspektive. Das sehe ich im Moment in den Ergebnissen des digitalen Entwerfens, die sich sehr stark an bionischen oder auch nur biomorphen Prozessen und Formen orientieren, deren wahre, natürliche  Komplexität jedoch radikal vereinfacht wird. Die Vernetzung mit architektur­geschichtlichen oder theoretischen Themen, die schon vor der Einführung digitaler Werkzeuge behandelt wurden, bleibt da natürlich oft im Hintergrund. Wir versuchen Themen, die traditionell die Architektur bestimmt haben, Fügung, Herstellung, Nutzen, im Grunde neu zu erfinden. Letztendlich befinden wir uns jedoch in einem länger andauernden Prozess der architektonischen Wissensbildung, in dem Innovationen entstehen und auch wieder verschwinden. Von den interessanten Analogien, beispielsweise in der Renaissance durch den Wechsel von einer euklidischen Geometrie zu einer Projektivgeometrie, die schon fast protoparametrische Entwicklungen vorwegnehmen und gleichzeitig Werkzeug für Steinschnitt waren, haben wir heute noch nicht gelernt.
An welchem Punkt der Entwicklung stehen wir heute? Sind wir noch im Stadium des Experiments oder sind wir schon darüber hinaus?
NP | Die Ergebnisse und Prozesse sind relativ monothematisch und marionettenartig. In der Zukunft werden wir lernen, verschiedene gleichzeitig operierende Parameter in einem Entwurf zu synthetisieren. Eine Tätigkeit, die seit jeher zum Beruf gehört, nur verändern sich die vernetzten Inhalte radikal. Wenn man als Definition von Handwerk davon ausgeht, dass ein künstlerischer Inhalt entsteht – jenseits einer Fertigkeit, mit einem Werkzeug umzugehen – also das, was eine Stradivari von einer normalen Geige unterscheidet, dann sind wir längst noch nicht so weit.
Es entsteht der Eindruck, dass das digitale Entwerfen stil­bildend ist. Das, was dabei herauskommt, sieht immer ähnlich aus.
MC | Eine Henne-Ei-Problematik. Was veröffentlicht wird, sind immer Blasen, Schirme, Pilze und freie Formen. Aber die Schwierigkeit zeigt sich doch darin, dass man es selten schafft, mit diesen Gebilden in einen relevanten Maßstab zu kommen. Und es ist natürlich auch architektonisch schwierig, in eine Blase eine Türe einzubauen.
NP | Ich finde Arbeiten von Büros interessant, die aus einer analogen Tradition kommen und eine starke digitale Ausrichtung haben. Beim Kunsthaus für Rémy Zaugg in Aarau von Herzog & de Meuron merkt man, dass die Geometrie nur aus einer digitalen Quelle herrühren kann. Aber gleichzeitig gibt es eine Verankerung in der Architekturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts, wo die phantastische Architektur von Wenzel Hablik zu spüren ist.
Diese Schirme und Pilze sind nicht sofort dagewesen. Eines der ersten digital entworfenen Gebäude, das sehr bekannt geworden ist, war das Mercedes-Benz Museum von Ben van Berkel.
MC | Man muss zwischen echten Highlights wie dem Mercedes Museum und Experimenten, wie wir sie an vielen Hochschulen finden, unterscheiden. Dort werden irgendwelche Pavillons irgendwie gebaut, nur weil sie parametrisch entworfen sind.
So wie jetzt beim BUGA-Pavillon in Koblenz?
MC | Ja. Das führt dazu, dass man sich fragt, wird etwas gemacht, nur weil man’s machen kann und nicht warum man’s tut. Wenn ein Werkzeug nur der Formgenese dient – und das unterstelle ich bei vielen dieser digital entworfenen Projekte – geht viel verloren; die sozialpolitischen Komponenten, der Kontext, die Lesbarkeit von Stadtgeschichte usw. Es sind dann eben meistens diese Solitäre, die einen gewissen Autismus ausstrahlen. Ich glaube, dass dieses Pavillon-Generieren sein Ende finden wird, weil es nicht gelingt, in einen relevanten Maßstab zu kommen. (Anm. d. Redaktion: mehr über den BUGA-Pavillon im Debüt ab Seite 38)
Wann wird das digitale Entwerfen Ihrer Meinung nach ein normales Werkzeug? Wenn es so eingesetzt wird, wie beim Entwurf und der Konstruktion des Rolex Learning Center von Sanaa?
MC | In dem Moment, wo man das Werkzeug für Ideen nutzt, die man nicht ohne das Werkzeug denken kann. Das ist der Unterschied. Das Gebäude von Sanaa ist eine Architektur, die mit Architekturen arbeitet. Wie verhalten sich der Boden, die Decke und die Wand zueinander. Das kann man sich ohne Computer noch mehr oder weniger vorstellen und denken. Man kann es nur nicht ohne Computer bauen.
NP | Ich möchte das noch erweitern. Es gibt natürlich Prozesse in denen wir das, was uns als Repertoire zur Verfügung steht, nur mit Computern nutzen können. Wir untersuchen mit digitalen Algorithmen Materialoptimierungen, um Trag­struk­turen zu entwickeln, die einen minimalen Material­verbrauch bei maximaler Tragfähigkeit haben. Das geht oft mit einer eigenen Formensprache einher, die jenseits einer „Spielerei“ zwischen Simulation und Generation liegt.
MC | Dieses „plus X“ des Digitalen ist absolut notwendig und wird auch dazu führen, dass sich Dinge weiterentwickeln, genau wie neue Kunststoffe, neue Verarbeitungstechnologien und vieles mehr. Da ist offensichtlich sehr viel Potenzial, aber wahrscheinlich wird es länger dauern als wir glauben.
NP | Man ist, glaube ich, gut beraten, wenn man in Zeiträumen von 30 Jahren denkt. 2040 werden wir radikal anders mit Computern interagieren. Die Herstellung wird sich genau­so radikal verändern.
MC | Ja, der Moment, wo der ganz große 3D-Plotter kommt, der das ganze Haus hinstellt, wird tatsächlich etwas ändern. (Anm. d. Red.: Beitrag zum Großformatdrucker auf Seite 36).
Ist das digitale Entwerfen, sind seine Protagonisten in den ästhetischen Ergebnissen der Zeit nicht schon weit voraus? Haben sie den Rest der Architekturwelt abgehängt?
NP | Dieser spürbare Aufwand, den man auch beim Guggen­heim Museum sieht, unter dieser Haut, wo dreidimensional Stahl verknotet wird, ist sicher noch nicht der Weg. Aber wir sind letztendlich an einem Punkt, wo wir die ganze Entwicklung durchlaufen müssen und uns in einem langsamen Reifungsprozess an die Ästhetik gewöhnen. Das passiert immer, wenn neue Möglichkeiten entstehen, dass es erst das Faszi­nosum gibt und dann fängt das an, sich zu konsolidieren und abzuschleifen. Ästhetisch, würde ich sagen, stehen wir erst am Anfang.
Wann kommen wir aus der Experimentalphase heraus? Wann werden solche Gebäude wie die Metropolitan Opera in Taiwan von Toyo Ito baubar sein?
NP | Das ist ja baubar, aber mit großem Aufwand. Aber letztlich ist es ein Zitat von Friedrich Kiesler (1890–1965). Ich möchte den behaupteten „Paradigmenshift“ etwas aufweichen, den haben wir in seiner Komplexität noch gar nicht, da wir programatische und ökonomische Punkte bewusst ausblenden. Wir haben viele Quellen, die wir verleugnen oder nicht nutzen, um die Architektur konzeptionell fortzuführen.
MC | Wenn man sich Toyo Itos Entwurf ansieht, kann man sagen, das Werkzeug ist ja ganz was Neues! Oder man sagt, das ist die Weiterentwicklung von Kiesler. Genauso kann man beim Dach des Centre Pompidou in Metz sagen, dass es sich auf Frei Otto und die Kollegen Behnisch und seine damaligen Mitarbeiter Auer und Weber mit ihrem Dach des Olympiastadions in München bezieht. Das Interessante am Olympiadach sind für mich aber nicht die Produktion und die Werkzeuge des Entwurfs, sondern ist die Idee, die damals für die Olympiade entstand. Aber wenn ich für ein Opernhaus oder ein Museum eine bestimmte Vorstellung habe, dann sollte ich auch alle Mittel verwenden, die zur Verfügung stehen, um das beste Ergebnis zu erreichen.
Wann wird das parametrische Bauen und digitale Entwerfen ein allgemeines Entwurfswerkzeug sein, nicht nur bei Toyo Ito, Sanaa und in den Hochschulen? 2040 liegt doch in sehr weiter Ferne.
NP |  Ich kann es nicht genau sagen, es ist eine Frage der Ausbildung und eine Neubestimmung der Beziehung zwischen Konzept und Werkzeug, die sich im Moment invertiert hat. Wir haben gute theoretischen Beschreibungen der Prozess­charakteristik, tun uns jedoch in der Festlegung unter pragmatischeren Rahmenbedingungen schwer. Wir können heute bestimmte Dinge steuern, die wir vorher nicht steuern konnten. Aber wir müssen uns auch freimachen von den Formen, die sich sehr schnell abnutzen. Dazu müssen wir in einem weniger exotischen Kontext arbeiten, viel näher an einer konventionellen Architektur. Dies jedoch in einer eklektischen Architekturpraxis, welche sich auf der technologischen und konzeptionellen Höhe ihrer Zeit befindet.
In welcher Phase der Entwicklung des digitalen Entwerfens und parametrischen Bauens befinden wir uns heute?
NP | Ich sehe es schon so, dass sich diese Werkzeuge in einer sehr experimentellen Phase befinden, die noch nicht durchgängig praxistauglich sind, die aber in sich ein radikales Potenzial haben, was ich höchst interessant finde. Diese Technik verändert in der Zukunft vielleicht auch signifikant die Parameter, mit denen wir bauen. Nur müssen wir aus dieser
Beziehung zwischen uns und diesem neuen Werkzeug die konzeptionellen Implikationen und Möglichkeiten über experimentelle Studien erforschen. Das ist für mich der Antrieb, mich damit zu beschäftigen. Diese eingeschriebene Veränderlichkeit ist letztendlich auch der Brückenschlag zum experimentellen Entwurf bei Zamp Kelp.
MC | Die Fragestellung des digitalen Entwerfens führt in eine Sackgasse, wenn man nur fragt nach gut oder böse fragt, oder ob man es braucht oder nicht. Ich sage, schön, dass es das gibt, ein wichtiger Abschnitt für eine Entwicklung, die weiter geht. Ich sehe nur die Gefahr, dass, wenn man, ähnlich wie die Moderne, den Faden zur Geschichte abschneidet,  die digitalen Entwerfer sagen: „Alles neu, fangen wir bei Null an!“. Dann verlieren wir eine Menge von dem, was an Erfahrungen aus gebauter Architektur schon da ist. Ich wünsche mir, dass wir das digitale Entwerfen als Teil einer evolutorischen Entwicklung zu sehen und alle Potenziale nutzen, um zu einer Optimierung oder Qualitätssteigerung unserer gebauten Umwelt kommen.
Fakten
Architekten Palz, Norbert, Berlin; Castorph, Matthias, Kaiserslautern
aus Bauwelt 23.2011
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