Westhagen: Revisionen der Vision nach 45 Jahren
Text: Knufinke, Ulrich, Braunschweig
Westhagen: Revisionen der Vision nach 45 Jahren
Text: Knufinke, Ulrich, Braunschweig
Das Leitbild „Urbanität durch Dichte“, mit dem Westhagen Ende der sechziger Jahre entstand, ist schon lange passé. Die Gebäude und Außenräume dieser letzten Wolfsburger Satellitensiedlung vor der Ölkrise aber lassen sich weiterentwickeln – sofern dem ganz gegenwärtige Interessen nicht im Weg stehen.
Im Jahr 1968 besichtigte die Bauwelt schon einmal Wolfsburg (Heft 43–44). Anlass war das dreißigjährige Bestehen der Stadt. Heute, 45 Jahre später, ist vieles, was damals als soziale, städtebauliche und architektonische Vision propagiert wurde, selbst historisch – und fordert zur Revision heraus. Dass die Betrachtung der Entwicklung Wolfsburgs in ein Jahr fiel, das rückblickend als Wendepunkt in der bundesdeutschen Nachkriegs-geschichte verstanden wird, ist zufällig. Aus heutiger Perspektive deuteten sich in dieser Zeit aber auch für Wolfsburg Wandlungen an, die einen Abschied vom Leitbild der autogerechten Stadt bedeuteten. Skepsis am Planbarkeitsglauben der Moderne äußert sich in den Artikeln des Bauwelt-Hefts kaum. Doch Chefredakteur Ulrich Conrads hatte ein zweifelndes Zitat von Friedrich Georg Jünger aufs Cover gesetzt: „Der geschichtlich lebende Mensch spürt das Wuchern der einseitigen Planung an sich als ein Leiden, dem er entfliehen möchte, ohne ihm entfliehen zu können, denn die Mittel seiner Flucht gehören wiederum der Planung an.“
Neben laufenden und gerade fertiggestellten Bauvorhaben wurden Planungen für die nahe Zukunft vorgestellt. Während ein Projekt zur Umgestaltung der „City“ nicht umgesetzt wurde, begannen noch in jenem Jahr die Bauarbeiten am Stadtteil Westhagen. Aus dem rasanten Wachstum der „Volkswagenstadt“ leitete man 1968 einen Bedarf von über 5000 Wohneinheiten für die Jahre bis 1980 ab. Um dem gerecht zu werden, wurde eine Großsiedlung geplant. Sie sollte den Kranz von Satelliten mit eigener Versorgungs-, Bildungs- und Kulturinfrastruktur ergänzen, der den Kernbereich Wolfsburgs, die Innenstadt und das Volkswagenwerk, umgibt.
1966 war ein Masterplan für Westhagen beschlossen worden, der von rund 15.000 Einwohnern ausging. In rascher Folge entstanden zwischen 1969 und 1975 zwei Quartiere; mit modifizierten Plänen in den achtziger und neunziger Jahren zwei weitere. Heute leben etwa 9200 Menschen im Stadtteil. Westhagen zählt damit zu jenen „schwierigen“ Großsiedlungen der Spätmoderne, mit denen Kritiker schon bald ein Scheitern der verkehrsgerechten, Funktionen trennenden Stadt mit hoch verdichteter Bebauung illustrieren konnten.
Fehlstellen im Wohnmassiv
Westhagen liegt rund vier Kilometer südwestlich der Wolfsburger Innenstadt und des Volkswagenwerks, sodass das private Auto oder der öffentliche Nahverkehr genutzt werden muss, um an die wichtigste Arbeitsstätte und ins geschäftliche und kulturelle Zentrum zu gelangen. Städtebaulich in sich abgeschlossen wie eine Insel, grenzt Westhagen im Nordosten an den in den fünfziger Jahren errichteten Stadtteil Laagberg. Südlich liegt der 1963 begonnene Stadtteil Detmerode, mit dem zusammen die Silhouette Westhagens den Eingang zur Stadt aus Richtung Braunschweig prägt.
Während andere Wolfsburger Stadtteile an Waldflächen grenzen, ist Westhagen von Verkehrswegen umringt: Im Westen verläuft eine Autobahn, von ihr zweigt südlich eine Schnellstraße zur Wolfsburger Innenstadt ab. Östlich führt die vierspurige Frankfurter Straße vorbei. An sie schließt an zwei Stellen der Dresdner Ring an. Dieser bildet als vierspurige, heute teilweise zurückgebaute Ringstraße die im weiten Bogen um das Kerngebiet Westhagens geführte Haupterschließung. Von ihr gehen mehrere Stichstraßen aus. Sie führen von Süden, Westen und Norden zum zentralen, vom Durchgangsverkehr befreiten Bereich mit der am stärksten verdichteten Bebauung: Zwischen zwei Wohnhausanlagen, von denen die östliche an der Dessauer Straße der größte und höchste Baukomplex des Stadtteils ist, wurde das Einkaufszentrum als überdachte Passage mit einer Vielzahl von Ladengeschäften angelegt. Ein offener Marktplatz auf der Südseite bildet die Mitte des Stadtteils, hier errichtete man das Freizeit- und Bildungszentrum samt angeschlossenem Schulzentrum. Erst spät kam ein evangelisches Gemeindehaus als Solitär hinzu. Mehrere Schulen, Kindergärten und Kirchen sind über den Stadtteil verteilt, im südlichen Bereich gibt es ein weiteres kleines Einkaufszentrum zur Nahversorgung.
Die Wohngebäude, bis auf wenige Ausnahmen Mehrfamilienhäuser mit bis zu 14 Geschossen, folgen nur ungefähr den Straßenverläufen. Sie bilden keine Zeilen oder Blöcke, sondern verschachtelte, mäandrierende Strukturen. Trotz des oft hohen skulpturalen Anspruchs, mit dem Monotonie vermieden werden sollte (ein kontrastreiches Farbkonzept kam hinzu), erscheinen die Formen grob, die Maßstäbe fragwürdig. Die architektonische Sprache des „Brutalismus“ mit seinem rohen Beton mutet hier, selbst im bunten Anstrich der Bauzeit, bisweilen doch im landläufigen Sinne „brutal“ an, wenn Gebäude keinen Anfang und kein Ende zu haben scheinen und gleichförmige Einheiten auch nach oben vermeintlich beliebig hoch gestapelt sind.
Grünflächen lockern den Stadtteil auf, und die vor rund vierzig Jahren angepflanzten Bäume mildern die Wucht der Baumassen heute. Jedoch war im ursprünglichen Konzept kaum eine zusammenhängende öffentliche Nutzung dieser Freiflächen vorgesehen: Grün war ein Teil des Abstands zwischen Wohnhäusern und Straßen, funktional nur locker besetzt mit Parkpaletten, Spielplätzen und Sitzgruppen.
Das Leitbild „Dichte im begrenzten Bereich“ (so Gerhard Kern, 1968 Leiter des Wolfsburger Stadtplanungsamts, in seinem Bauwelt-Artikel), nach dem man ökonomische Optimierung und städtisches Lebensgefühl zugleich erreichen wollte, prägt bis heute Westhagen. Es wurde schon als überholt verabschiedet, als der Stadtteil noch im Entstehen begriffen war. Bald nach Fertigstellung der wesentlichen Quartiere wurde Westhagen Gegenstand der Kritik, zumal man die soziale Situation in den Bereichen besonders hoher Verdichtung als ungenügend betrachtete. So veröffentlichte Dieter Keim bereits 1981 die Studie „Stadtstruktur und alltägliche Gewalt. Fallstudie Wolfsburg-Westhagen“. Darin thematisiert er neben tatsächlichen Defiziten auch das bis heute drängende Imageproblem des Stadtteils. Der Einbruch in der Automobilindustrie im Umfeld der Ölkrise ließ die Entwicklung des monostrukturierten Wolfsburg in den siebziger Jahren stagnieren. Der eben erst begonnene Stadtteil galt als Sammelpunkt einer als problematisch betrachteten Bevölkerung. Westhagen wurde – sachlich berechtigt oder nicht – für Wolfsburg zum Synonym für etwas, was man heute gern als No-go-Area bezeichnet. Seither gab und gibt es verschiedenste Umgestaltungsansätze, mit denen die an vielen Stellen als mangelhaft empfundene Situ-ation verbessert und ein oft genug an die Wand gemaltes Bild vom „Scheitern“ Westhagens als lebenswerter Stadtteil verhindert werden soll – die Revision der Vision begann.
Problemlösung, vom Bestand aus gedacht
Besonders kritisch stellte sich nach und nach die Situation im Zentrum heraus: Die meisten Geschäfte verließen das Einkaufszentrum, bei den Wohnungen breitete sich Leerstand aus, begünstigt durch mangelnde Pflege der mittlerweile in die Jahre gekommenen Gebäude. Die Mitte Westhagens war zugig und leer, für viele ein Angstraum. Aber auch die Frei- und Grünräume bedurften einer Überarbeitung.
Seit Westhagen im Jahr 2000 in das Förderprogramm „Soziale Stadt“ aufgenommen worden ist und der besonders problematische Kernbereich zum Sanierungsgebiet erklärt wurde, haben sich die Anstrengungen zur Transformation weiter erhöht. „Sofortmaßnahmen“ wie die Beseitigung verfallener, verwucherter Sitzplätze wurden ergriffen, das Freizeit- und Bildungszentrum wurde mit einem Bürgersaal ausgestattet. Gleichzeitig richtete man ein Stadtteilmanagement ein, um schon bestehendes bürgerschaftliches und politisches Engagement in den Prozess der Umgestaltung einzubeziehen und neue Akteure zur Teilnahme zu ermutigen. Seitens der Planungsabteilungen der Stadt Wolfsburg wurden die Diskussionen und Vorhaben intensiv begleitet, fachlich unterstützt und planerisch gesteuert. Ein Grundsatz war, keine neuen Visionen zu verbreiten, sondern den Bestand als Ausgangspunkt der Maßnahmen zu nehmen. Weder die nach Friedrich Georg Jünger weiter „wuchernde Planung“ noch der vergebliche „Fluchtversuch“ aus ihr sollten das Vorgehen prägen, sondern Transparenz, Dialog und Teilhabe.
Das größte bisher umgesetzte Vorhaben ist eine Neugestaltung wesentlicher Freiflächen. Aus einem Wettbewerb ging 2002 das Konzept „Gärten der Nationen“ des Büros Valentien+
Valentien (Christoph und Donata Valentien, Weßling) als Sieger hervor, bis 2010 wurde das Projekt in mehreren Abschnitten realisiert. Auf der bis dahin kaum genutzten Abstandsfläche zwischen Zentrum und Autobahn entstand ein weitläufiger Park. Wege und Pflanzungen unterschiedlichen Charakters gestalteten die Landschaft neu, vielfältige Aufenthaltsangebote wurden eingefügt. Die namengebenden „Gärten der Nationen“ sind kleine Parzellen, die den Westhagenern zur individuellen Bearbeitung zur Verfügung stehen.
Zwischen der neuen Parkanlage, dem Dresdner Ring und dem Marktplatz mit dem immer noch zu großen Teilen leerstehenden Einkaufszentrum im Kernbereich ist mit einem weiteren Eingriff ein neuer öffentlicher Raum entstanden, die „Stadtachse“. Entlang einer geraden Anlage von Fuß- und Radweg bieten sich, manchmal auf verschiedenen Niveaus, streng geometrisch gefasste Räume für unterschiedliche Nutzungen an: vom „klassischen“ Spielplatz über baumbestandene Freiflächen bis hin zu kleinen Gärten.
Augenscheinlich werden die umgestalteten Freiräume gern genutzt. Vandalismus bleibt weitgehend aus – Sorge um den öffentlichen Raum ist sicher das beste Zeichen für ein Bewusstsein der gegenseitigen Verantwortung. Ob die in den zurückliegenden Jahren durchgeführten sozialen und stadt- bzw. landschaftsgestaltenden Maßnahmen langfristig wirksam bleiben, kann man jetzt noch nicht sagen, doch die hohe formale Qualität gibt Anlass zur Hoffnung auf einen langen Bestand dieser jüngsten Revision Westhagens. Für das Einkaufszentrum scheint die Abwanderung der Geschäfte zumindest gestoppt, und die dort mit dem Stadtteilmanagement eingezogene Bürgerpassage bringt nicht-kommerzielle Nutzungen in die Mitte des Stadtteils.
Das architektonisch radikalste Vorhaben, das im Zuge des Projekts Soziale Stadt im Sanierungsgebiet in Angriff genommen wurde, ist der Teilrückbau der erwähnten Wohnhochhauskette an der Dessauer Straße. Der teilweise leerstehende Komplex, zurzeit noch im Besitz der Berliner Immobiliengesellschaft Berlinovo, soll auf acht Geschosse reduziert werden. Ein symbolischer Akt: Das einprägsamste Bauwerk Westhagens, das dessen Silhouette beherrscht und zum Symbol der Probleme des Stadtteils geworden ist, würde gestutzt – ein Signal für den Abschied von der Vision der „Urbanität durch Dichte“. Gerade die Umsetzung dieser Maßnahme ist jedoch jüngst ins Stocken geraten – der Eigentümer hat dafür keine Mittel und denkt an Weiterverkauf (s. Letzte Seite). Wäre ein Scheitern dieser öffentlich geförderten Aufwertung an Investoreninteressen ein symptomatischer Vorgang, wenn es um die Frage der Re-Vision der Großsiedlungen der sechziger und siebziger Jahre geht?
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