„Der Kern meiner Arbeit ist eine ganzheitliche Betrachtungsweise“
Interview mit Peter Zumthor
Text: Rappel, Astrid, Paris
„Der Kern meiner Arbeit ist eine ganzheitliche Betrachtungsweise“
Interview mit Peter Zumthor
Text: Rappel, Astrid, Paris
Am 23. Juni 2011 hat die norwegische Königin Sonja hoch im Norden des Landes die von Peter Zumthor entworfene Erinnerungsstätte der Hexenverbrennungen eingeweiht – mit einem letzten Werk von Louise Bourgeois. Der Architekt sieht sich in der vorteilhaften Lage, nur solche Aufträge anzunehmen, die ihm auch passen. Im Interview erläutert er, warum.
Peter Zumthor hatte in diesem Monat kein Glück. Am 5. Februar haben die Bürger der Stadt Isny im Allgäu bei einem Volksentscheid seinen Entwurf für ein Stadttor abgelehnt. Das rund 21 Millionen Euro teure Bauwerk aus Glasziegeln – in Isny wegen seiner Form auch „gläserner Backenzahn“ genannt – sollte an der Stelle eines 1830 geschleiften Stadttors entstehen. Ganz anders in der Finnmark. Dort konnte er zusammen mit der Künstlerin Louise Bourgeois (1911–2010) in der kargen Naturlandschaft der nördlichsten Region Norwegens, nahe Vardø, das „Steilneset Memorial“ errichten. Thema ist die Hexenverbrennung. Im 17. Jahrhundert starben hier 90 Menschen, die man wegen vermeintlicher Zauberei zum Tod verurteilt hatte. Das Projekt setzt sich aus zwei Bauten zusammen: dem dunklen, gläsernen Pavillon mit dem von Bourgeois nachempfundenen Verbrennungsstuhl (Foto Seite 9) und einem 125 Meter langen Stabholzbau, in dem ein schmaler Ausstellungsraum mit winzigen Fenstern verspannt ist, verkleidet mit teflonbeschichtetem Glasfasergewebe aus Plauen. Der Pavillon entstand nach einer Skizze aus dem New Yorker Atelier von Bourgeois. Wir beschränken uns auf drei Fotos von der Erinnerungsstätte.
Die Architektin Astrid Rappel hat im Dezember letzten Jahres ein Interview mit Peter Zumthor geführt, in dem er 16 Jahre nach der Therme in Vals Stellung zu seiner Arbeit und zum heutigen Baugeschehen bezieht. Das Interview fand in seiner Haldensteiner „Stube“ statt.
Was glauben Sie: Weshalb stößt Ihr Werk auf so großes Interesse?
Der Kern meiner Arbeit ist eine ganzheitliche Betrachtungsweise. Ich bin kein kommerzieller Architekt, sondern mache meine Arbeit aus einem – der Begriff „künstlerisch“ könnte in die Irre führen –, sagen wir also aus einem baukünstlerischen Interesse heraus. Nicht viele Architekten versuchen diese ganzheitliche Betrachtungsweise, haben aber Interesse zu sehen, wie ich das mache, vor allem junge Leute. Aber es gibt auch Ältere, die sich sagen: „Da gibt es einen, der arbei-tet noch in direktem Kontakt mit den Bauten“, ein Bauen, das man im Englischen mit „Hands on“ bezeichnet, und sie fragen sich: „Gibt es das noch, wie macht er das?“ Ein weiterer Grund für das Interesse sind vielleicht auch die Geschichten um meine Person – manche bezeichnen mich als „Spinner“, andere als „schwierigen Menschen“; das stimmt alles nicht, aber sie wollen sich ein Bild von mir machen.
Was motiviert Sie an einem Projekt?
Das Projekt muss mir atmosphärisch etwas sagen. Es kann auch aufregen, vielleicht sogar störend oder aufsässig sein; es kann eine gewisse Härte oder Eigensinn entwickeln. Alles ist möglich. Es geht nicht um etwas Sanftes und Abgerundetes, nicht um etwas Harmloses. Ich muss das Gefühl von einer gewissen Natürlichkeit haben, von etwas Selbstverständlichem, also das Gegenteil von Gesuchtem. Das Gesuchte, das Ausgefallene oder Artifizielle interessiert mich nicht.
Welches sind die Kriterien für einen Auftrag, der Sie interessiert?
Es gibt ein schönes Sprichwort, das sagt: „Wie man sich bettet, so liegt man.“ Ich nehme Aufträge dann an, wenn ein schöner kultureller oder sozialer Gehalt vorhanden ist. Außerdem müssen mir die Menschen sympathisch sein. Ich lese mir die Leute aus, für die ich ganzheitlich und sorgfältig arbeiten kann, um ein schönes, gut funktionierendes Haus zu bauen. Wenn ich alle Aufträge annehmen würde, die mir angeboten werden, wären sicher viele dabei, an denen ich nicht so arbeiten könnte, wie ich das möchte: nämlich langfristige Werte zu schaffen und gewisse Bauaufgaben vielleicht sogar zu definieren.
Welche Rolle hat der Architekt bei der Festlegung des Raum- und Nutzungsprogramms? Versuchen Sie Einfluss auf das Programm zu nehmen?
Im allgemeinen Verständnis bestimmt das Programm, was man baut. Dabei hat der Architekt nicht mitzureden. Andere entscheiden über das Was, der Architekt hingegen soll nur über das Wie entscheiden und etwas Schönes daraus machen. Das mache ich auf keinen Fall. Man kann mich nicht als Teil der Projektentwicklung bestellen, denn ich arbeite nicht nur am Wie, sondern auch am Was, also an Form und Inhalt. Ich habe das zurückschauend auch immer so gemacht: In Bregenz hat man eine Landesgalerie bestellt und zehn Jahre später eine internationale Kunsthalle bekommen; die Thermen in Vals hatten vor zwanzig Jahren ein besseres Sportbad bestellt und etwas ganz anderes bekommen. Die Inhalte wurden nicht über Nacht, sondern nach langen Diskussionen neu formuliert. Deshalb heißt mein Atelier heute auch „Atelier Zumthor – Architektur und Konzept- und Projektentwicklung“.
Was ist der eigentliche Ausgangspunkt des Entwurfs?
Ausgangspunkt ist eine Vorstellung des Gebrauchs, des Wohnens im weitesten Sinn. Im Film oder im Theater nennt man es die Behausung. Durch die Bauaufgabe wird irgendein Gefühl ausgelöst. Der Begriff Gebrauch lässt mehr offen als der Begriff Funktion, der mir zu technisch erscheint. Er ist der Aufhänger, das Wie. Es beginnt mit der Konzept- und Projektentwicklungsphase, in der sich die Fragen „Wie und wozu wird das gebraucht?“, „Was ist wichtig?“ stellen. Erst dann stellt sich ein Bild der Form ein; denn Bild ist immer Form. Bilder kommen hoch und sagen, was da gemacht werden müsste; der eigentliche Gestaltungsprozess beginnt. Ich arbeite mit Emotionen, mit Intuition. Bevor die Häuser gebaut werden, entstehen sie als Bilder. Zuerst ist das Bild verschwommen, oft sogar nur ein Gefühl. Dann entwickelt es sich zu einem konkreten Bild. Es ist widersinnig, aber auch ein Gefühl kann schon fast ein Bild sein. Darauf vertraue ich; viele Architekten wissen vielleicht nicht, dass sie darauf vertrauen können.
Hat für Sie der Ort Einfluss auf die Projektauswahl?
Ein Gebäude existiert durch seinen Kontext, es kann auf einen Ort reagieren, Stellung beziehen. Der Ort selbst ist die Topographie, die Geschichte, der städtebauliche Kontext, aber auch die Stimmung, die ich an einem Ort empfinde, das alles. An einem entfernten Ort zu bauen heißt auch, dass es schwieriger ist, sich einzudenken, sich einzufühlen. Deshalb gilt im Allgemeinen für mich: Je weiter weg das Projekt ist, desto besser müssen die Inhalte sein.
Sie sagten einmal in einem Interview, die persönliche Erinnerung, Geschichte als Emotion, ist Ihnen wichtig und das Wissen über unsere Vergänglichkeit ein guter Gedanke. Welchen Stellenwert hat die Geschichte insgesamt?
Die Geschichte spielt eine sehr große Rolle: Wir sind umgeben von Dingen, die wir nicht selbst erfunden haben, sondern andere Menschen, die nicht mehr leben. Wir haben Vorfahren, die wir nicht mehr kennen. Es gibt ein Reich der Toten, aber es gibt auch ein Reich der Gegenstände, die von Menschen stammen. Ich bin Teil der Geschichte, und ich bin es gerne. Man mag den Menschen für etwas Höheres halten, aber wenn man die Natur betrachtet, sieht man dort das gleiche Prinzip wie beim Menschen.
Viele Räume, die Sie entwerfen, haben eine religiöse, sakrale oder kultische Bestimmung. Weshalb beschäftigen
Sie sich häufig mit diesen Themen, die die heutige Gesellschaft gerne verdrängt?
Sie sich häufig mit diesen Themen, die die heutige Gesellschaft gerne verdrängt?
Ich bin katholisch aufgewachsen, und die Kirchenwelt ist mir vertraut. Die spirituelle Dimension des Nachdenkens über das, woher wir kommen, und das, wohin wir gehen, ist über die Kirche zum ersten Mal zu mir gekommen. Es sind Fragen, die mich, wie die meisten Menschen, beschäftigen. Das ist der Hintergrund. Besinnliche, spirituelle, ruhige Räume, die uns emotional berühren, sind mein „Geschäft“, ich mache sie gerne. Religionen können andererseits auch das Schlimmste sein, nämlich dann, wenn sie in Ideologien abgleiten. Alle Religionen haben auch ihre guten Seiten, aber sie haben im Laufe der langen Geschichte Millionen von Menschen im Namen der Ideologie umgebracht und deshalb auf dem Gewissen.
Ist es wichtig, sich beim Entwerfen „Zeit zu nehmen“?
Planen Sie den Alterungsprozess Ihrer Gebäude mit ein?
Planen Sie den Alterungsprozess Ihrer Gebäude mit ein?
Es ist mir nicht wichtig, mir Zeit zu nehmen, sondern die Arbeit gründlich zu machen. Ich möchte meine Arbeit so schnell wie möglich machen, aber sorgfältig. Ich gebe sie erst frei, wenn sie stimmt. Außerdem mache ich Dinge gerne so, dass sie lange halten. Wenn sie gut gemacht sind, dann altern sie auch schön. Schönes Altern ist die Folge von gut gemachten Gegenständen, so bin ich geprägt worden.
Architekten träumen von mehr öffentlicher Anerkennung und vielleicht gerade deshalb von Aufträgen für prestigeträchtige Gebäude. Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft als Architekt und für die Zukunft im Allgemeinen?
Das Bewusstsein für Architektur hat hier in der Schweiz seit den 60ern wieder sehr zugenommen; zuvor hatte sie einen schlechten Ruf. Heute stellt gute Architektur einen Wert dar. Architekten leisten einen Beitrag in der Baulandschaft, an der Qualität der Lebenswelt. Das muss im Bewusstsein bleiben. Leider ist derzeit die Architektur vor allem in Städten oft nur Teil einer Marketingstrategie. Sie hat nur Oberfläche. Was zählt sind Namen, Bilder und Fassade. Aber diese Strategie – nur Name, nur Fassade – bringt nichts und ist meiner Meinung nach bereits am Bröckeln. Dann wird der Weg wieder frei für Architektur als kulturelle Leistung. Diese muss erklärt werden, und gute Beispiele müssen gebaut und in der Gesellschaft gelebt werden. Für mich wünsche ich mir nichts. Ich bin froh, dass ich so arbeiten kann, wie ich arbeite.
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