Bauwelt

Die Vergänglichkeit großer Ideen

Die Ausstellung „Radikal modern“ in der Berlinischen Galerie zeigt 60er-Jahre-Planungen in Ost- und West-Berlin

Text: Schulz, Bernhard, Berlin

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    Kelch, der an Berlin vorüber gegangen ist: „Großhügelhaus“ von Josef Kaiser, collagierte Perspektive von Dieter Urbach, 1971
    Collage: © Michael Kaiser, Dieter Urbach, Berlinische Galerie

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    Kelch, der an Berlin vorüber gegangen ist: „Großhügelhaus“ von Josef Kaiser, collagierte Perspektive von Dieter Urbach, 1971

    Collage: © Michael Kaiser, Dieter Urbach, Berlinische Galerie

Die Vergänglichkeit großer Ideen

Die Ausstellung „Radikal modern“ in der Berlinischen Galerie zeigt 60er-Jahre-Planungen in Ost- und West-Berlin

Text: Schulz, Bernhard, Berlin

Ein halbes Jahrhundert dauert es offenbar, bis die Nachgeborenen die Architektur- und Städtebauleistungen ihrer Vorgänger wertschätzen und aufarbeiten. So war es, als 1977 mit der Berliner Europaratsausstellung „Tendenzen der zwanziger Jahre“ eine wahre Flut von Untersuchungen losbrach zur Baukunst der Weimarer Republik, damals fünfzig Jahre alt, und so ist es jetzt, da die sechziger Jahre ein unglaubliches halbes Jahrhundert zurückliegen. Die Berlinische Galerie nutzt die Wiedereröffnung nach technischer Sanierung, um ihre beeindruckenden Bestände zur Architektur dieses lange missachteten Jahrzehntes vorzuführen, ergänzt um Leihgaben vor allem der Akademie der Künste, die viele Nachlässe der Protagonisten jener Jahre hütet.
Der Ausstellungstitel „Radikal modern. Planen und Bauen im Berlin der 1960er Jahre“ ist ein wenig Etikettenschwindel. Einerseits behauptet noch jede Dekade von sich, radikal modern zu sein, andererseits wollten die sechziger Jahre in Berlin durchaus nicht so radikal sein. Die Baupolitik in beiden Hälften der Stadt wollte sich vielmehr ganz in den internationalen Mainstream einordnen, in den längst zum globalen Sieger ausgerufenen „International Style“. Es ist verwegen, dass sich die Verehrer des sozialistischen Städtebaus – wie der allzeit gewandte Bruno Flierl – nun schon seit Jahren hinter dem Label eines internationalen Modernismus verstecken, als ob seinerzeit nicht die Unterschiede zwischen kapitalistischer und sozialistischer Bauweise energisch betont worden wären. Aber mit dem Blick durch das umgedrehte Fernrohr schrumpfen eben auch die politischen Differenzen zu bloßen Randerscheinungen.
Endlich Licht, Luft und Sonne
Sei’s drum, die Gemeinsamkeiten fallen denn auch auf den ersten Blick ins Auge. Die Sechziger waren die Dekade der Sozialpolitik. In den Sechzigern wurden die großen Siedlungen am Stadtrand konzipiert, in denen die damals noch zahlreiche Industriearbeiterschaft endlich Licht, Luft und Sonne genießen sollte, wie es Jahrzehnte zuvor die Charta von Athen propagiert hatte. Man macht sich keinen Begriff davon, wie kaputt Berlin in jener Zeit noch war, kaum aus dem Krieg hervorgegangen, mit ausgedehnten Brachflächen, Brandmauern und Halbruinen. Der vorzügliche Katalog der Ausstellung bietet einiges Anschauungsmaterial. Fassungslos nur kann man feststellen, dass der Zweite Weltkrieg in Berlin wohl erst mit der Wiedervereinigung wirklich zu Ende ging.
Entscheidende Lückenschließungen wurden jedoch bereits in den fünfziger Jahren begonnen, und so ist die Periodisierung nach runden Jahrzehnten stets problematisch. Die Nachkriegszeit ist eher ein Kontinuum. Der Breitscheidplatz mit Gedächtniskirche und „Zentrum am Zoo“, von Adrian von Buttlar im Katalog als einer der „wenigen herausragenden Plätze dieser Epoche“ gerühmt, wurde seit 1955 bebaut und fand ein Jahrzehnt darauf mit dem Europa-Center von Hentrich Petschnigg und Partner seinen Abschluss. Nirgends sonst sind die amerikanischen Anregungen von Rockefeller Center und Lever Building unmittelbarer verarbeitet worden als in diesem Büro- und Einkaufskomplex. In der Ausstellung zeigen schöne Modelle die städtebauliche Komposition. Im Osten dagegen war nach den Bemühungen um eine „nationale Tradition“, verkörpert in der Stalinallee, der industrielle Großtafelbau angesagt, der das Gelände am Alexanderplatz bis heute prägt. Anstelle einer „Dominante“ in Gestalt eines zentralen Hochhauses kam es dann aber zum Fernsehturm und, eine Dekade später, zum „Palast der Republik“. Der stets wandlungsbereite Hermann Henselmann sicherte sich, gerne mit Entwürfen außer Konkurrenz, den Löwenanteil an den Bauvorhaben, wie schon in den fünfziger Jahren.
Henselmann war auch federführend bei der Bebauung des Leninplatzes mit dem monumentalen Leninkopf des sowjetischen Bildhauers Nikolai Tomski (seit 1992 Platz der Vereinten Nationen – ohne Lenin). Die gestaffelte Hochhausbebauung diente als Folie für die Skulptur, eines der eindrücklichsten Beispiele für die Verbindung von Architektur und Kunst, die der DDR so sehr am Herzen lag. Andere Hochhausprojekte im Ostteil der Stadt blieben Entwurf, während im Westen mit den Großsiedlungen Britz-Buckow-Rudow – nach Entwurf von Walter Gropius – und Märkischem Viertel – nach Entwurf vor allem von Senatsbaudirektor Werner Düttmann – Ensembles geschaffen wurden, die auch heute noch, ungeachtet partieller Nachverdichtungen, als solche erkennbar sind.
Die Mauer? War da was?
Ein wenig zu kurz kommen in der Ausstellung die Auseinandersetzungen der späten sechziger Jahre. Die „serielle Vielfalt“ – so ein Kapitel der Ausstellung – verkam zu serieller Monotonie, ohne dass die Kritiker eine bessere Antwort auf die explodierende Wohnungsnachfrage hätten liefern können. In Ost und West sind die sechziger Jahre von der Suche nach der „totalen Stadt“ gekennzeichnet, die ohne Rücksicht auf überkommene Strukturen Wohnraum für Millionen bieten sollte – unterfüttert, jedenfalls im Westen, mit einem Straßen- und Autobahnnetz, das weite Teile des historischen Stadtbildes gigantischen Verkehrsführungen geopfert hätte. Dass die nachholende Modernisierung des Ostens keine Alternativen aufzeigen konnte, sondern im Gegenteil mit den heute noch die Stadt zerschneidenden Achsen etwa der Leipziger-, Gertrauden- und Grunerstraße lediglich gleichzog, hätte kritischer beleuchtet werden dürfen. Auch der Mauerbau, der doch 1961 den Auftakt zu einer nochmals verschärften Frontstellung der Baupolitik in Ost und West bildete, schrumpft zur Marginalie. Wäre da nicht das eindrückliche Foto von Rem Koolhaas (!) auf das Springer-Hochhaus entlang der Mauer, aufgenommen 1971 – man könnte sich fragen, ob es die Mauer überhaupt je gegeben hat.
Noch ein Brennpunkt der Stadtplanung entstammt den sechziger Jahren: das Kulturforum. Dass erst jetzt, mit einem „Museum der Moderne“ auf der Freifläche an der Potsdamer Straße, Aussicht auf Heilung dieser innerstädtischen Wunde besteht, belegt besser als alle Worte, wie hartnäckig sich Provisorien halten können. Die sechziger Jahre waren eine Zeit großer Aufbrüche, die oft genug in Halbherzigkeit und Kleinmut versandeten. Ein halbes Jahrhundert danach ist die Ausstellung der Berlinischen Galerie eine hervorragende Gelegenheit, an die Vergänglichkeit großer Ideen zu gemahnen.

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